
„Wo ist das Kind?”, hatte Elosál gefragt, als Cýelú zu ihnen in Pathagíus Halle gekommen war.
„Siledaú hat es zu Advon gebracht”, hatte er geantwortet, in dem Glauben, das sei tatsächlich wahr. Zu diesem Zeitpunkt hatte es auch noch den Tatsachen entsprochen. „Es ist in Sicherheit.”
Das hatte Elosál sichtlich ein wenig beruhigt. Advon war ein gutes Kind, und sicher würde es das kleine Schattensängermädchen nicht so sehr erschrecken, wenn ein Gleichaltriger ihr ihre neue Umgebung erklärte und nicht sie selbst oder die Regenbogenritter, magische Wesen, die sie möglicherweise erschrecken würden. Oder eine unheimliche, unwirsche Unkundige wie Siledaú. Dennoch, sie würde sich des kleinen Mädchens annehmen, sobald der sinor Úldaise später am Tag seinen Besuch beendet hatte. Die fajía war neugierig auf das Kind. Wenn es den Namen Lagoscyre trug – und warum sollte es darüber lügen? – dann gehörte sie auf irgendeinem Wege der Meisterlinie des Mannes an, der damals, in jenen schrecklichen Tagen so klug gehandelt und unerschrocken gekämpft hatte. Elosál hatte gesehen, wie Schattensänger gegen ihresgleichen und für das Weltenspiel eingetreten waren. Wenn es wirklich so war, wie Siledaú es immerfort behauptete, und die Schattensänger erneut auf die Gelegenheit warteten, die Regenbogenritter endgültig zu vernichten, dann würde die Kleine ihr vielleicht in ihrer kindlichen Unschuld mehr darüber berichten können. Und dann war es tatsächlich gut, wenn sie die Kleine vor bösen Entwicklungen würde behüten können.
Aber zuvor war es nötig, dass sie beide sich anschauten, was die Regenbogenritter nachts zuvor in dem brennenden Garten entdeckt hatten.
Es war sehr selten, dass Elosál selbst den Cielástel und die Gärten ringsum verließ. Die fajía war in ihrer Magie fest mit der Weihestätte verbunden. Es fühlte sich nicht richtig an, wenn sie nicht dort war. Aber diesmal ließ es sich nicht umgehen. Aber was sollte passieren? Cýelú und ein Teil der arcaval’ay würden sie begleiten.
Den Grünen, den Gelben und den Violetten hatten sie mitgenommen. Die anderen vier würden für alle Fälle, auch für den, dass der sinor früher als erwartet erschiene, in der Burg bleiben.
Der alte Stallmeister hatte sich etwas sonderbar verhalten. Als er gehört hatte, dass sie die fünf Einhörner für den Ausritt benötigten, hatte er die Tiere eilig auf den Hof gebracht und dann das Sattelzeug nach draußen geschleppt. Als die Regenbogenritter hinzukamen, lag alles bereit.
„Ist’n bisschen unordentlich, da drin”, hatte er erklärt. „Bin beim ausmisten.”
Cýelú hatte für die kurze Strecke das Ross des Blauen geliehen, denn Perlenglanz sollte nach dem weiten Ritt noch etwas ausruhen. Für Elosál stand eine Stute bereit, etwas zierlicher und kleiner als die Kampfrösser der Ritter. Fell und Federn hatten einen mattgoldenen Schimmer. Die fajía ließ sich von ihrem hýardor in den Sattel helfen und stutzte, als sie die Zügel in die Hand nahm.
„Stimmt etwas nicht?”, hatte Cýelú gefragt.
„Die Zügel. Mir ist, als wären es andere als sonst. Sie liegen mir ungewohnt in der Hand.”
„Das sind keine Damenzügel, Meisterin”, hatte der Grüne gesagt, der das mitbekommen hatte. „Vielleicht wurden sie beim Warten des Lederzeugs vertauscht.”
„Ich schaue, ob ich andere finde,” hatte sich Cýelú erboten, Himmelsklar stehen gelassen und war in die Sattelkammer direkt hinter dem Stalltor zum Hof gegangen. Dort hatte er eine Weile gesucht, ohne unter dem Zeug feinere Zügel zu finden. Der Stallmeister, der tatsächlich den Gang hinüber zum rückwärtigen, mit der Burg verbundenen Ausgang mit viel Stroh, Besen und einer halbgefüllten Mistkarre zugeräumt hatte, war nach einer Weile nachgekommen, um zu schauen, was der Goldene dort trieb. Aber auch gemeinsam hatten sie keine Damenzügel gefunden. Das schien den Menschen ernsthaft zu verwirren, der ohnehin schon so nervös war.
„Lasst es gut sein”, hatte die fajía schließlich ungeduldig gefordert. „Für die kurze Strecke wird es wohl gehen! Wir dürfen keine Zeit verlieren und den sinor warten lassen!”
Und so waren sie schließlich zu fünft ostwärts gestartet und wenig später inmitten der verkohlten Reste des verwilderten Gartens gelandet. Der Grüne führte sie zu dem Höhleneingang neben dem verbrannten Ölbaum. „Hier ist es.”
„Wir steigen hinab”, beschloss Elosál, nachdem sie einen Blick in den Abgrund geworfen hatte, wo der Bach über Kiesel und Schutt rieselte.
„Ihr auch, Meisterin?”
„Natürlich. Wenn da Magie ist, muss ich nahe heran. Ihr seid mir behilflich.”
Sie hatten vorsorglich Seil und zwei Strickleitern mit sich gebracht, hatten schließlich gewusst, dass es in die Tiefe ging. Cýelú kletterte mit ihr gemeinsam, bereit, sie zu packen und aufzufangen, sollte sie ausgleiten. Sie hätte seine Hilfe nicht benötigt, denn ungeachtet ihrer filigranen, grazilen Erscheinung waren fajíaé flink und beweglich wie die Waldtiere. Aber das, hatte Elosál beschlossen, nachdem sie Cýelú zum ersten Mal begegnet war, musste er nicht wissen. Es war so rührend, wie er sich stets um Galanterie bemühte und wie er die Vorstellung liebte, ihr mit seiner Zuvorkommenheit und Kraft zu gefallen. Sie genoss es, wie er sie behütete. Sie fühlte sich gleich lebendiger, wenn er versuchte, sie zu ergänzen.
Und dann standen sie zu viert in der Höhle, der Violette wartete oben am Eingang, für den Fall, dass sich dort etwas tat. Aber auch er schickte sein magisches Licht hinab, fünf Flämmchen umschwirrten einander und strahlten die Höhle taghell aus.
Elosál schaute sich staunend um. Ein hohler Hügel, wie ein natürlicher Saal, und das klare Wasser, dass in einem kleinen Wasserfall durch Geröll an der Wand stürzte und dem goldenen Abflussgitter auf der anderen Seite zustrebte, um dort irgendwo außer Sicht zu verrinnen. Was für ein merkwürdiger Ort!
Sie kniete nieder und tauchte vorsichtig einen Finger ins Wasser. Was für einen weiten Weg hatte es hinter sich!
„Was haltet Ihr davon?”, fragte der Gelbe. „Spürt ihr es?”
Sie erhob sich. Ja, natürlich spürte sie es. Es lag in der Luft wie ein Summen, wie das Geräusch, nein, wie das Echo einer brummenden Fliege, irritierend und wenig angenehm, aber harmlos und von der Zeit entschärft. Eine uralte Fliege, deren Zeit fast um war.
„Ihr habt euch nicht getäuscht. An diesem Ort muss sich einst ein Schattensänger aufgehalten haben. Unzweifelbar. Es ist lange her. Er ist längst fort.”
„Wie kann es sein, dass er nach so langer Zeit Spuren hinterlassen hat?”
„Vielleicht war er verletzt.”
„Verletzt?”
Elosál nickte. „Ihr alle wisst, wann das letzte Mal – mit unserem Wissen – mehr Schattensänger in dieser Gegend waren, als Pataghíu gefällig sein mochte. Wir alle haben sie kämpfen sehen. Was, wenn einer von ihnen in den großen Wirren verwundet wurde und sich hierher retten konnte?”
„Retten? Oder in eine Falle gehen?”
„Vielleicht beides.” Sie schaute sich ratlos nach dem Wasser in beiden Richtungen um. „Vielleicht hat er oder sie hier eine Weile gelegen, während seine maghiscal ausgeblutet ist. Sie scheint mir den Fels zu überziehen wie Schneckenschleim, der mit Sommern und Wintern zu verkrustetem Staub geworden ist. Ihr habt doch schon in den Morgenstunden auf Steinen sehen können, wo des Nachts eine Schnecke ihrer Wege gekrochen ist. Das ist hier ebenso.”
„Wieso bist du dir so sicher, dass es ein verwundeter camat’ay war?”, fragte Cýelú.
„Niemand würde die Kontrolle über seine Magie auf eine solche Weise verlieren”, sagte sie. Sie ließ ihren goldenen Blick über die Felsen wandern. Die Ritter warteten gespannt. Die Intuition und Fähigkeiten der fajía waren den ihren weit überlegen. Elosál konnte in der Zeit zurückspüren, viel weiter, als es ihnen, die sich immer wieder erneuerten, möglich war.
„Ich stelle mir vor, wie er hier gelegen hat. Ich weiß nicht, wie er hier hinein gekommen ist, vielleicht war er auf der Flucht und wollte sich hier verstecken. Vielleicht haben ihn die Angreifer gepackt und hinab geworfen. Mit großer Sicherheit ist ihm durch Magie eine Wunde zugefügt worden, die er nicht mehr selbst heilen konnte. Er war hier, hilflos, geschwächt, vielleicht sogar körperlich versehrt. Vielleicht war er ohne Bewusstsein. Und die Magie ist aus ihm herausgetropft wie Wasser aus einem Topf mit einem winzigen Sprung.”
„Wie furchtbar”, sagte Cýelú schaudernd. Das Mitleid der anderen Regenbogenritter hielt sich in Grenzen.
„Und wo ist er nun?”, fragte der Gelbe.
„Ja, wo mag er sein? Wenn er verwundet war, sagen wir, Knochenbrüche hatte, hatte er hier zumindest Wasser, um eine Weile zu überleben.”
„Wenn er hier gestorben sein sollte”, sagte der Grüne, „dann sollte hier mehr zu finden sein als Schneckenspuren seiner Magie.”
Elosál nickte. „Sucht danach. Und lasst uns zu den Mächten flehen, dass wir etwas finden.”
„Und das hier?”, fragte der Violette von oben. „Gold und wie ich nun bei Licht sehe, auch Blut? Frische Magie?”
„Ja. Magie, die vielleicht nur aus Zufall an diesem Ort ist.” Sie verfolgte die Spuren vom Boden bis zu dem Loch, durch das der Violette hinab blickte. „Ein Pfad. Jemand ist dort hinauf geklettert.”
„Freihändig und ohne Seil? Das ist beachtlich.”
„Ja. Es war ganz gewiss niemand gebrochenen Gliedern. Und es ist noch nicht lange her. Wenige Tage, allenfalls.”
„Selbst ich würde mir das nicht zutrauen”, sagte Cýelú.
„Cýelú, ihr Herren”, sagte Elosál und wandte sich den dreien hinter sich zu, „es ist möglich, dass Advon gestern Abend, angelockt durch dieses Feuer, den geheimen Ort gefunden hat, an dem der Verfluchte hinter die Träume gegangen ist.”
Die Ritter schwiegen erschüttert. Was die fajía da gerade so beiläufig ausgesprochen hatte, wäre eine Sensation. Die Lösung eines Rätsels, das seit Menschengenerationen über dem Cielástel gedräut hatte, eine Ungewissheit, eine unvollendete Aufgabe. Möglicherweise war es den Schattensängern ähnlich gegangen. Auch deren Großmeister hatten ihnen immer wieder bei Noktáma, Pataghíu und dem Licht geschworen, nicht zu wissen, was am Ende aus Ovidáol Etaímalar geworden war.
„Und das Gold, das aus dem Felsen beschworen wurde?”
„Ist es vielleicht möglich”, warf der Grüne ein, „dass … aber nein. Es wäre zu abstrus.”
„Sprich”, forderte Elosál ihn auf. „Viel wirrer kann es kaum noch werden.”
„Und wenn es ein Rotgewandeter war? Wir wissen, dass die Rotgewandeten den Schlachtstätten beständig nahe waren. Angenommen, ein Schwarzgewandeter hat hier verletzt gelegen, und ein Rotgewandeter fand es unterhaltsam, dem Verzweifelten auf diese Weise den Weg zu versperren?”
„Die Felswand unberührbar zu machen?” Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das funktioniert nicht. Blut und Gold kamen gemeinsam.”
„Hatte dieser seltsame sinor Úldaise nicht gesagt, man habe den Brandstifter aufgegriffen, kurz nachdem das Feuer ausbrach?”, gab der Gelbe zu bedenken.
„Und?”, fragte Cýelú, dem man die Geschichte zuvor berichtet hatte.
„Wenn es ein Rotgewandeter war, der das Feuer legte?”
„Ein Rotgewandeter? Nun wird es nicht wirr, sondern lächerlich! Die Rotgewandeten sind aus dem Weltenspiel heraus! Erinnert Euch doch nur an das, was uns damals der mutige Menschenritter aus dem Norden berichtet hatten. Wie war noch der Name?”
„Althopian”, sagte Elosál. „Thagléy Althopian. Ja, ich erinnere mich an seine Geschichten über die Rote Dame. Aber um es zu gestehen, edle Herren – ich hatte stets größere Zweifel über das Ende der Lichtwächter als über das des Verfluchten. Nehmen wir an, dass derjenige, der das Gold hier beschworen hat, derjenige ist, der für den Brand verantwortlich ist.”
„Ausgeschlossen. Ein goala’ay hätte sich niemals von Menschen erhaschen lassen. Wenn sie es versucht hätten, würden die Häscher draußen in ihrem Blut liegen.”
Elosál berührte einen Goldglimmerflecken, an den sie heranreichte.
„Ein neu geborener goala’ay? Ein unerfahrener? Vielleicht ein Kind oder Jüngling, der flink und agil genug war, eine solche Kletterpartie zu bewältigen?”
„Wir müssen Siledaú davon berichten”, sagte Cýelú tonlos.
Elosáls Blick verschattete sich. Bei allen Mächten, was hatte Siledaú nur mit Cýelú angestellt, dass dem nichts besseres einfiel, als mit einer so wichtigen Erkenntnis gleich die Unkundige behelligen zu wollen?
„Was sollte ein ungeformter Rotgewandeter hier zu schaffen gehabt haben? Und wo sollte er hergekommen sein? Und weshalb sollte er den Garten anzünden?”
„Ich weiß es nicht. Wir müssen Úldaise dazu befragen.”
„Wenn es nicht schon zu spät ist.”
„Du meinst …”
„Unkundige zögern nicht lange. Einen unerfahrenen Rotgewandeten können sogar Menschen umbringen. Der Brandstifter dürfte längst hinter den Träumen sein. Selbst wenn es tatsächlich ein ungeweihter Rotgewandeter gewesen wäre – Lichtwächter sind nicht unsterblich.”
Elosál seufzte. So kamen sie also nicht weiter.
Der Grüne hatte derweil den Grund der Höhle weiter durchsucht. Nun kniete er nieder und strich mit der Hand Kies vom Boden beiseite.
„Hier”, rief er dann. „Ich habe ihn gefunden.”
Die anderen eilten näher, aber noch bevor sie ihn erreichten, trat ein überraschter Ausdruck auf sein Gesicht.
„Es sind zwei”, sagte er verdutzt.
Der Gelbe und Cýelú halfen ihm, die Knochen freizuscharren. Elosál beugte sich über die nackten Menschengebeine. Keine Fetzen Kleidung. Kein Leder, kein Metall. Und vor allem kein Silber.
„Wer hat sie begraben?”, sprach sie es aus. „Und wer soll das sein?”
***
Zutritt zur Büchersammlung zu bekommen war zu Osses Überraschung kein Problem gewesen. Der Wachmann hatte dem Jungen ohne weitere Fragen die Tür geöffnet und sogar noch viel Freude bei der Lektüre gewünscht. Das hatte das Misstrauen des Jungen geschürt, denn es war beinahe so, als habe man erwartet, dass er um etwas Ungewöhnliches bitten würde.
Aber was konnte er schon groß falsch mache, wenn er nur ein wenig las? Osse wusste, wie heikel Bücher waren. Seine Mutter hatte ihm, lange bevor er selbst lesen konnte, erzählt, dass es kein Gold, keinen Edelstein gäbe, der wertvoller wäre als das, was in Büchern geschrieben stände. Sie hatte Bücher geliebt, wenn auch wahrscheinlich mehr die Romane und Geschichten aus den fernen teirandon als die gelehrten Werke voller Zahlen und Daten, mit denen ihn der mestar daheim beschäftigte. Osse wusste, wie man sorgsam mit Büchern umging.
Der Junge zog Band um Band aus den Regalen, verschaffte sich einen Eindruck vom Thema der Werke und begann, zu sortieren. Die Familienchroniken der teiranday und yarlay waren vermutlich das letzte, worin er die gewünschte Information finden würde, denn es war auszuschließen, dass jemals ein Schattensänger irgendwie in eine hochedle Familie gelangt war. Den Romanen und Gedichten, die ebenfalls zahlreich vertreten waren, traute er nicht. Da stand zu viel Erfundenes drinnen, was sich in der Kürze der Zeit nicht nachprüfen ließ. Vielleicht die Geschichtsbücher? In den magischen Kriegen und den Chaoskriegen, da hatten doch alle Magier mitgekämpft, wenn er sich recht entsann. Vielleicht …
„Hast du schon begonnen, für Vírhavet zu studieren?”, fragte Alsgör Emberbey von der Tür her. „Oder lassen die anderen dich nicht mitspielen?”
„Ich weiß, dass ich dich heute Nacht enttäuscht habe, Vater”, sagte Osse, ohne sich umzudrehen.
„Und warum warst du ungehorsam, wenn du es doch weißt?”
„Ich musste”, antwortete der Junge. „Es war notwendig.”
„Du hättest mich um Erlaubnis fragen können.”
„Ich hätte es auch gegen dein Verbot tun müssen.”
Der alte yarl trat in die Bibliothek ein. Osse spürte ihn hinter sich. Aber er durfte sich jetzt nicht zu ihm umwenden. Wenn er das jetzt täte, dann wäre aller Mut weg, alle Entschlossenheit, das Rätsel zu lösen und die Tür zu bezwingen. Der Gehorsam gegen den Vater wog leichter als die Pflicht, die teirandanja aus ihrer Gewissensnot zu bringen und den Freund zu retten. Seltsam. Es war, es gebe das Buch, das er gerade in der Hand hielt, Kraft.
„Was ist in dieser kurzen Zeit aus meinem Sohn geworden? Ist diese verfluchte Scheibe Brot dir so sehr zu Kopf gestiegen, Osse?”
„Nein. Diese Scheibe Brot ist mir gerade völlig egal, Vater.”
„Dann sag mir, was du hier in Büchern suchst.”
Osse klappte das Buch zusammen.
Alsgör Emberbey trat neben seinen Sohn. Als Osse immer noch nicht aufblickte, stützte er die Hände auf das Pult und versuchte, ihm von der Seite ins Gesicht zu blicken.
„Du suchst hier gerade weder Zerstreuung noch Vergnügen, Osse. Die teirandanja führt irgendetwas im Schilde, und irgendwie bist du hineingeraten. Ich will nicht, dass du auch noch verschwindest wie der Nichtsnutz, der Sohn von Althopian!”
„Merrit ist kein …”
„Kein was?”
Osse seufzte. „Was du gerade gesagt hast.”
„Ich will dich vor einer Enttäuschung bewahren, mein Sohn. Du und Merrit Althopian, ihr seid vom selben Stand, aber das ist auch schon alles, was euch verbindet. Wenn er jemals wieder auftaucht, dann wird er ein tauglicher Kämpfer werden.”
„Dann werde ich eben ein tauglicher mynstir.”
„Das ist keine Basis für eine Freundschaft, wie du sie dir vorstellen magst.”
„Nein, das vielleicht nicht Aber die Rosen. Die Rosen. Seine Mama und … und …”
Alsgör Emberbey zögerte. Der Junge stand da, klammerte sich am Rand des Lesepultes fest und rang mit den Tränen. Der alte Ritter legte vorsichtig die alte, vom Alter schmerzende Schwerthand auf die des Kindes.
„Möget ihr beide eines Tages eine Erlösung von diesem gemeinsamen Schmerz finden. Möge jemand euch besser trösten, als ich alter Mann es kann.”
Osse schluchzte. Der yarl neigte sich zu ihm.
„Was suchst du in den Büchern, das du nicht von mir erfragen könntest?”
Nun schaute der Junge überrascht auf. „Von dir?”
„Ich bin kein gelehrter Mann, Osse. Dazu hatte ich weder Zeit noch Sinn. Aber ich habe viel gesehen und gehört in meinem Leben. Vielleicht kann ich dir einen Rat geben, wo du deine Suche beginnen kannst. Vielleicht geht das schneller, als wenn du jedes einzelne Buch durchliest.”
„Kann ich denn etwas fragen, ohne dass du zurückfragst, warum ich das wissen will?”
„Ist es ein Geheimnis?”
„Niemand darf davon wissen.”
Alsgör Emberbeys Mundwinkel zuckten kurz. War es Missbilligung, oder der Versuch, zu lächeln? „Frag nur.”
„Angenommen … also, nur angenommen, du müsstest einen Schattensänger bekämpfen …”
„Einen Schattensänger?”
„Ja. Wie die Leute damals in den Chaoskriegen. Welche Waffen haben yarlay gegen die Schattensänger geführt?”
Alsgör Emberbey lachte. Osse erschrak vor diesem völlig unbekannten Geräusch.
Aber der Ritter hatte sich sogleich wieder im Zaum. „Osse – es gibt keine Waffe, die ein Schwarzmantel nicht mit einem Wink seiner Hand wirkungslos gemacht hätte. Sie sind nicht verletzlich und sterblich wie unsereiner. Die launische Noktáma hält ihre Hand über sie, wie es ihr passt.” Er lächelte etwas versöhnlicher. „Wir sollten die Mächte preisen, dass Schwarzmäntel wie dieser seltsame Meister Yalomiro unseresgleichen offenbar wohlgesonnen sind. Und dass Pataghíu den hellen Tag beschützt mit seinem goldenen Glanz.”
Osse zögerte. „Gut,” sagte er dann. „Ich werde über Pataghíu lesen, was sich finden lässt.”
Alsgör Emberbey zuckte die Achseln. „Nimm dir nicht zu viel vor, mein Sohn. An Gedanken über die Mächte soll schon so mancher mestar in Verwirrung geraten sein. Von den forscoray, die diese Bücher hier schreiben, ganz zu schweigen.” Der alte Ritter blickte sich um und nahm dann ein Buch aus dem Regal an der anderen Seite des Raumes. Gekränkt erkannte Osse, dass es ein billiges Buch für kleine Kinder war, auf Papier gedruckt mit groben Holzschnitten und mit Pappe eingebunden, wie es fahrende vendýray verscherbelten.
„Hier”, sagte der Ritter. „Ich glaube, ich habe vor einiger Zeit dasselbe für Truda gekauft, damit die Amme ihr daraus vorliest. Wenn du dich mit dem Gedanken trägst, einen Magier zu bekämpfen, dann solltest du deine Lektüre mit Märchen beginnen.”
Er gab das Büchlein seinem Sohn in die Hand und entfernte sich ohne ein weiteres Wort.
Osse schaute ihm nach und warf dann einen Blick auf das bunt ausgemalte Titelbild. Eine graue Mondsichel und eine gelbe Sonnenscheibe mit Gesichtern schauten einander grimmig an, und um sie herum waren loderndes Feuer und tosende Wellen.
„Vom Zank der Mächte“, las Osse den Titel, und kleiner darunter: „Eine erbauliche Geschichte zum Wohlbetragen der Kinder.”
Nun. Vielleicht hatte der Vater recht. Vielleicht musste er im Geringen anfangen, um das Hohe zu verstehen.
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