
Sie hatten ihm zugehört, wie sie vermutlich nie zuvor in ihrem in Kürze endenden Leben gelauscht hatten. Vermutlich hatte keiner von ihnen damit gerechnet, dass ein gewöhnlicher báchorkor eine solche Art von Geschichten kannte und teilte. Sogar der arme Kerl, der um seine Schwester geweint hatte, hatte sich nun beruhigt.
„Danke”, hatte die Frau schließlich noch gesagt.
Galéon hatte ihr zugelächelt und dann begonnen, zu schweigen. Kein weiteres Wort durfte nun noch über seine Lippen. Keiner von ihnen durfte nun seine Stimme noch einmal hören, so zerbrechlich, so zart und freundlich war das, was er mit ihnen getan hatte.
„Gut gemacht”, lobte das Traumphantom und schlenderte zu Galéon hinüber, mitten durch den Kreis. Wie der báchorkor schon geahnt hatte, schienen die anderen ihn weder hören noch sehen zu können. Sie waren sozusagen unter sich. „Wer hat dir diese Worte eingegeben?”
Träume, dachte Galéon. Das und eine Menge Erfahrung.
Der geisterhafte Rotgewandete ließ seinen marmorgrauen Blick über die Todgeweihten wandern, denen die stechende Sonne nun nach und nach das Bewusstsein zu trüben begann.
Du hast das getan. Du hast mir in meinen Träumen zugeflüstert, in den letzten Wintern und Sommern.
„Du hast also im Schlaf von deinem Meister gelernt”, sagte das Phantom belustigt. „Sehr gut. Und nun? Willst du mehr? Willst du es richtig und den Mächten gefällig? Bist du bereit, mehr über dein Meisterstück zu erfahren?”
Ich bezweifle, dass ich den Mächten noch einen Gefallen erweisen kann. Galéon versuchte, in die Wüste hinein zu spüren, aber Pataghíus unbarmherziger Glanz begann, auch ihn zu verwirren. Ist er noch da? Der alte Mann?
„Ja. Er beobachtet alles, was hier geschieht. Du könntest stolz darauf sein. Er nimmt dich auf seine Weise äußerst ernst als Gegner.”
Weißt du, wer er wirklich ist?
„Natürlich. Ich weiß, wer er ist, was er vorhat und wie er es vollbringen will. Das alles ist keine Überraschung.”
Aber du weißt nicht, wie es ausgeht?
„Nein. Die Zukunft existiert noch nicht.” Das Traumphantom nickte Galéon zu und schritt dann an ihm vorbei, aus dem Kreis heraus und aus dem Blickfeld des jungen Mannes.
Galéon seufzte lautlos und zerrte halbherzig noch einmal an den Einhornzügeln. Aber die hielten fester und härter als Eisenketten. Der báchorkor ergab sich und schaute wieder in die Kreismitte, auf den Sand, der in der Sonne gleißte. Nun war es völlig still in der Wüste, so still, dass er einen Augenblick lang irritiert war. War er taub geworden?
Stand die Zeit still?
War es so weit?
Der báchorkor schloss seine Fäuste um das magische Leder und hielt den Atem an. In der Mitte des Kreises veränderte sich etwas. Der strahlend weiße Sand geriet in Bewegung, erst ganz langsam, kaum wahrzunehmen für das Auge, dann immer zugiger, schneller. Die helle Oberfläche vermischte sich mit dem dunkleren Schichten darunter. Ein Strudel entstand, dann eine Spirale, die ausfaserte, sich vermehrte, zu wirbeln begann, träge, wie zähflüssig. Die Wirbel drehten dich unterschiedlich schnell und in verschiedene Richtungen, wurden immer schneller, Sand stob einige Fingerbreit auf, als schraube er sich an einem, Wind empor.
Die anderen wurden ebenfalls auf dieses Schauspiel aufmerksam.
„Was ist das?”, fragte der Amtsbetrüger mit schwerer Zunge.
„Bei den Mächten”, murmelte der Kräuterhändler. „Das ist wie …”
„Macht, dass das aufhört”, kam es von der Frau. „Macht das weg!”
Immer wilder, immer höher wirbelte der Sand zwischen ihnen, kreiselte empor, und dazwischen schossen kleine staubende Fontänen auf und zerplatzten wie die Luftblasen in einer siedenden Suppe.
„Nein!”, schrie die Verzweifelte und riss so panisch an seinen Fesseln, dass er sich den Arm verrenkte.
„Ad’ree“, flüsterte Galéon.
Und dann explodierte der Boden von Úldaises Richtstätte.
***
Jóndere Moréaval träumte. Er befand sich in einem absonderlichen Traum, in dem er das schnellste Pferd ritt, das jemals seinen Huf in das Weltenspiel gesetzt hatte. Bevor er eingeschlafen war, war er noch ganz sicher gewesen, dass es sein gewohntes, treues Ross war, das er stets für längere Strecken wählte, aber das war unmöglich. Sein Pferd war zwar ein hervorragender Läufer aus den Herden von Wayreth Althopian (dem er dafür einen stolzen, aber durch und durch fairen Betrag entrichtet hatte), aber selbst Althopian feurige Wunderpferde konnten nicht fliegen.
Aber genau das tat das Ross unter seinem Sattel. Nun, es flog nicht wirklich, nicht wie ein Vogel, nicht hoch in der Luft wie ein Adler oder der geflügelte Gaul, den der ehrlose Regenbogenritter gelenkt hatte. Es war vielmehr so, als sei es leichtfüßiger als ein Reh und ohne Gewicht. Im gestreckten Galopp rannte das Pferd, und jeder Satz, den es dabei tat, so schien es dem Ritter, brachte ihn mehrere Längen voran. Das war absurd.
Und folglich war es ein Traum.
Moréaval hatte sich seinen Helm aufsetzen müssen, so stark war ihm der Wind in sein Gesicht gepeitscht. Das schränkte seine Sicht ein, sodass der Ritter kaum bemerkte, wie die Heide unter den Hufen seines Reittieres in rasendem Tempo hinweg zu gleiten schien. Der Montazíel rückte in einer Geschwindigkeit näher, die Moréaval verängstigt hätte, wenn er nicht fest davon überzeugt gewesen wäre, in Wahrheit in seinem Bett, in den Armen seiner hýardora zu liegen und zu phantasieren.
Die hýardora! Der Stein, den der Magier ihm für sie gegeben hatte, das wusste er genau, lag in seiner Tasche, genauso wie die Blumensamen für Tíjnje. So schnell wie möglich musste er diese Schätze nach Wijdlant bringen!
Ab und zu war ihm, als trüge der Luftzug Stimmen an ihm vorbei, flüchtige Rufe, aber so fern und rasch vorüber, dass er sich danach nicht einmal umschauen konnte.
Meidet das Eisendorf, hatte der Magier gesagt. Macht einen Bogen um Valvivant. Rastet nicht, bevor Ihr den Boden von Wijdlant erreicht habt.
Das, hatte er gesagt, könne er seinem Pferd nicht zumuten.
Er könne versichert sein, auch seinem Ross stünde der Sinn danach, in seinen Stall zu kommen, hatte der Magier behauptet. Die Kraft dafür hätte er gesammelt.
Ob diese unglaubliche Geschwindigkeit an dem Zeug lag, das das Pferd im Boscargén gefressen hatte? Moréaval wusste, welchen Weg er wählen musste, welche Schlucht abseits vom Eisendorf an Valvivant vorbei führte.
Einmal sprengte das Pferd durch etwas Weißes hindurch, das von ihm wegstob und im nächsten Augenblick verschwunden war.
Was der teirand Benjus von Valvivant wohl sagen würde, wenn er dieses schnelle Pferd sehen könnte? Lebréoka und Tjiergroen, die würden staunen!
Moréaval kicherte, euphorisch und im Rausch der Geschwindigkeit. Das Pferd atmete gleichmäßig, ohne zu keuchen oder Anzeichen von Erschöpfung zu zeigen. Ob es sich auch über die verborgenen Fähigkeiten wunderte?
Ach nein. Bestimmt träumte er, der Mensch, nicht dieselben Dinge wie das Pferd. Falls Pferde träumten, dann fraß das seine sich sicher gerade durch einen riesigen Heuhaufen.
Moréaval lachte und erfreute sich an dem Hochgefühl. Die hýardora, seine süße kleine Tíjnje! Es konnte nicht lange dauern, bis er die beiden wieder in die Arme würde schließen können.
In den Tagen nach diesem erzählten sich die Hirten, die um diese Zeit mit ihren Herden in der Heide von Hethrom unterwegs waren, von einer Erscheinung, von einem Ritter, schneller als der Blitz, der ihre Herden versprengte und den man, ganz leise, noch in der Ferne jauchzen und lachen hörte, und báchorkoray trugen später die Geschichte hinaus ins Weltenspiel.
***
Dein Käfig ist offen, dachte Dýamirée. Komm doch mal herüber!
Der Stallmeister hatte sich schon eine Weile nicht mehr blicken lassen. Wahrscheinlich legte er wenig Wert darauf, sich von dem kleinen Mädchen in gefährliche Gespräche verwickeln zu lassen.
Farbenspiel hatte sich wieder niedergelegt und schien gelangweilt. Vielleicht stand das Tier üblicherweise um diese Zeit draußen auf der Weide und spielte mit den anderen Einhörnern. Sicher war es nur im Stall, weil durch die Ankunft des goldenen Regenbogenritters und den Ausritt der anderen der gewohnte Tagesablauf sich geändert hatte.
Dýamirée winkte dem Einhorn ungeduldig zu, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Sie hatte sich so große Mühe gegeben, den Stallmeister just in dem Moment abzulenken, als der die Tür schließen wollte. Das Mädchen hatte nicht damit gerechnet, dass der Plan aufgehen würde. Aber tatsächlich hatte der Mensch in seiner Unruhe vergessen, den Riegel vorzuschieben. Nur hatte Farbenspiel offenbar noch nicht bemerkt, dass die Tür zwar ge-, aber nicht verschlossen war.
„He! Farbenspiel!”, zischte sie und hoffte inständig, dass der Mensch nicht in Hörweite war.
Das Einhorn schaute hinüber und schnaubte.
„Komm her!”, hauchte Dýamirée. Aber das Tier schüttelte nur träge die flaumige Mähne und begann dann, sich die Federn mit seinem Horn zu kämmen.
Das Mädchen seufzte. Dann holte es den Früchtekuchen hervor und brach ihn in mehrere Stücke.
Durch das Gitter hindurch zu werfen, war nicht einfach, und die ersten beiden Stückchen landeten im Stroh. Aber das Dritte traf und prallte gegen Farbenspiels Hals.
Das Einhorn erschrak und wuchtete sich hoch. Dann entdeckte es das Wurfgeschoss, schnupperte daran und fand es wohl äußerst schmackhaft.
Dýamirée Herz klopfte schneller. Nun durfte sie keinen Fehler machen.
„Farbenspiel!”, wisperte sie. „Ich hab noch mehr!”
Die gelben Schlangenaugen fixierten interessiert das nächste Kuchenstück in der Hand des kleinen Mädchens.
„Hol es dir!” Dýamirée warf, und das Gebäck landete genau dort, wo es hingehörte. Mitten auf der Stallgasse.
Der Hengst sah das, schaute einen Moment auf die unerreichbare Köstlichkeit und dann unentschlossen zu dem eingesperrten Kind hin.
Dýamirée zuckte die Achseln und warf ein zweites Stück. Und ein drittes. Ein viertes.
Farbenspiel legte die Ohren an und schnaubte unwillig. Dass dieses kleine Kind so schlecht zielen konnte, schien ihn zu empören.
Das fünfte Stück landete knapp außer Reichweite vor der Tür.
„Hol es dir”, wiederholte Dýamirée und beobachtete entzückt, wie Farbenspiel versuchte, seine Schnauze durch das Gitter zu stecken, um mit den samtigen Lippen nach dem Kuchen zu langen. Als die Tür dabei nachgab und nach außen schwang, erschrak das Tier und wich schnaubend zurück.
Dýamirée lächelte. Und Farbenspiel streckte vorsichtig seinen Kopf auf die Stallgasse hinaus. Dann setzte er langsam eine Klaue nach der anderen ins Freie und ging, so leise ein Einhorn nur auf Stein treten konnte, hinüber zu den übrigen Kuchenstücken, fraß und stöberte sogar noch die verlorengegangenen Stücke auf.
Schließlich schritt er zu Dýamirée hinüber und streckte ihr seine samtige Nase entgegen. Dýamirée lachte leise auf und streichelte seine Schnauze. Dann zeigte sie ihm das letzte Stück Früchtekuchen.
„Das bekommst du auch noch”, flüsterte sie. „Aber erst musst du mir helfen.”
***
Von einem Moment auf den Nächsten waren sie da, wirbelten um die Gefesselten herum wie blind, wie besessen, so wild, als hätten sie keine Kontrolle über ihre Gliedmaßen. Sie kreischten ebenso laut wie die Menschen, aber in ihren Stimmen war keine Panik, keine Todesangst, kein Entsetzen. Die Chaosgeister schrien, weil sie schreien konnten.
Nun, da er sie mit eigenen Augen sah, war ihr Anblick schrecklicher als damals, vor scheinbar so weit zurückliegender Zeit, als er durch fremde Augen gespäht hatte wie ein neugieriges Kind durch ein Schlüsselloch.
Allerdings: Diesmal war Galéon auf ihren Anblick vorbereitet gewesen. Nicht, dass es etwas an seiner Lage geändert hätte, aber der Schock war nicht so gewaltig wie für die armen Unkundigen, über die die Chaosgeister nun herfielen, nach ihnen griffen und an ihnen zerrten.
Also war es tatsächlich das gewesen, was Galéon geahnt hatte. Úldaise warf den Chaosgeistern ernsthaft lebendige Menschen vor. Aber warum tat er das? Wie kam es, dass Chaosgeister sich hier manifestieren konnten, so weit entfernt von den südlichen Grenzen, und so verantwortungslos nahe an der Stadt? So nahe an den Augen der Regenbogenritter, der Wächter der südlichen Grenze?
Galéon sah entsetzt zu, wie die Wesen aus dem Chaos sich über die Unkundigen hermachten, sie von den Pfählen rissen wie Obst von einem Ast, wobei es einerlei war, ob Stricke oder Glieder rissen. Er sah, wie sich gleich drei von den grässlichen Wesen auf den korrupten Amtmann stürzten und ihn anfielen wie tolle Wildwölfe, er hörte den armen Mann sich die Lunge aus dem Leib brüllen. Dort drüben umklammerte ein riesiges Wesen den wie wahnsinnig kreischenden Kräuterhändler, und obwohl die streitbare Dirne sich tapfer zur Wehr setzte, war eine Schar der Wesen um sie herum wie eine Schar Stechkäfer, die sich auf eine Beute stürzt. In die Schmerzens- und Notschreie und den Lärm, den die Wesen selbst machten, mischten sich hier und dort reißende, knackende und malmende Geräusche.
Die arcaval’ay bannen sie seit zahllosen Wintern hinter die Grenzen, dachte Galéon verwirrt. Und hier tauchen sie auf wie die Maulwürfe, angelockt mit Menschenleben?
Der báchorkor war starr vor Entsetzen. Der Anblick der Chaosgeister war nicht gemacht für Menschenaugen, für Menschenverstand, ebenso, wie es unerträglich war, direkt in Pataghius Glanz zu blicken. Galéon hatte das Bedürfnis, davor wie in einem Reflex die Augen zu verschließen. Aber es war zu spät, sich abzuwenden. Galéon konnte nicht wegschauen, sah wehrlos zu, wie vor seinen Augen einer der Delinquenten nach den anderen unter die Chaosgeister fiel.
Die Wesen waren entsetzlich anzusehen. Was mochte das Widerwesen sich nur dabei gedacht haben, solche Kreaturen zu erschaffen?
Wahrscheinlich, dachte Galéon wie erstarrt, hat es die Abfälle genommen und sie zusammengerührt. Verworfene Ideen der Mächte, gemischt, zusamengepappt und zum Leben erweckt. Manche der Kreaturen waren groß wie Waldbären, andere klein wie Ratten und unsagbar schnell. Eine sah Galéon, das hatte ein dichtes Fell, aber statt Haaren waren es kleine, sich windende Würmchen, die ihren Körper bedeckten. Ein anderes Wesen hatte eine schuppige Haut, aber die einzelnen Schuppen glichen Fingernägeln. Ein anderes hatte ein Gebiss, das gänzlich aus grünlichen Fangzähnen bestand, mit denen es den Mörder hochhob und schüttelte. Der Mann schrie und hörte nicht auf zu schreien. Sein verständnisloser Blick streifte den báchorkor, während er versuchte, eines der kleinen Wesen von seinem Knöchel abzuschütteln.
Macht ein Ende, dachte Galéon voller Grauen. Bei den Mächten, tötet sie endlich! Lasst sie hinter die Träume!
Aber … das geschah nicht. Galéon schaute, hörte die Menschen qualvoll wimmern und wie irre kreischen, sah, wie die Chaosgeister ihre Körper traktierten wie ein Bäcker, der Brotteig knetete. Aber – sie töteten nicht.
Und dann entdeckte Galéon eine andere Art von Chaosgeistern unter den tobenden Wesen, eine, die anders aussah als die fünf, sechs Monstrositäten, ihnen aber in Wildheit nicht nachstanden. Der báchorkor runzelte verwirrt die Stirn und zwang sich, genau zu schauen. Die Mehrheit dieser Chaosgeister sah … menschlich aus.
„Bei den Mächten”, wisperte er und das Entsetzen, das seinen Verstand zu überwältigen drohte, vervielfachte sich schlagartig.
Eines der Wesen wandte sich ihm zu. Es trug in Fetzen gerissene, von einer undefinierbaren Substanz triefende Kleider. Es war bleich wie Kalk, und seine Gliedmaßen schlenkerten auf eine bizarre Weise. Galéon wusste nicht zu sagen, ob es keine Gelenke besaß, oder ob diese an willkürlichen Stellen saßen. Möglicherweise war es weiblich.
Die Kreatur blitzte den báchorkor aus gleißenden Augen an. Dann ließ sie von dem Korrupten ab, riss ihren Mund auf, viel weiter, als es möglich hätte sein sollen, und ein makelloses und dabei umso schrecklicher wirkendes Menschengebiss schnappte nach Galéons Gesicht.
Aber es biss nicht zu. Etwas anderes warf sich dazwischen und stieß das Zahnmonster beiseite. Das Wesen landete auf dem Pulk, der gerade dabei war, den Kräuterhändler zu zerknüllen, und fauchte wütend auf.
Der Atem des báchorkor jagte. Jenes ebenfalls noch vage menschenähnliche Wesen, das sich vor ihn gestellt hatte, drehte sich langsam zu ihm um. Sein Gesicht wirkte wie geschmolzen, als hätte seine Haut sich mit den Sehnen verklebt. Und doch erkannte Galéon, wer es war.
Das bissige Frauenwesen versuchte eine zweite Attacke, der das andere wehrte es ab. Sie brüllten und gurgelten einander an. Und das schien die Aufmerksamkeit der restlichen Chaosgeister zu erregen, zumindest der, die von ähnlicher Art waren.
Alle zugleich ließen von den Verurteilten ab, von denen niemand mehr in der Lage war, zu schreien oder sich zu wehren, überließen sie den Mischwesen. Nun war also er an der Reihe.
Galéon konnte sie nicht zählen, dazu waren es zu viele, von allen Seiten zugleich. Schlaffe Hände mit harten Fingerspitzen näherten sich ihm von allen Seiten, ohne dass er ihnen hätte ausweichen können. Sie berührten ihn, er spürte sie überall, auf seiner Haut, in seinem Haar, auf seinem Gesicht. Er war umgeben von diesen grauenhaften, deformierten, klebrigen Wesen, die ihn zugleich entsetzten und mit grenzenlosem Mitleid erfüllten. Das ehemalige Gesicht des Juwelendiebes, der ihn damals durch seine Augen hatte blicken lassen, war dicht vor dem seinen.
„Ja”, sagte Galéon, während er von den anderen Chaosgeistern betastet würde, so als prüften sie ihn auf seine Reife, wie ein Marktweib ein Stück Gemüse. „Ich verstehe, wer ihr seid. Ich sehe, was man mit euch gemacht hat.”
Der Juwelendieb, der auf eine unbegreifliche und schreckliche Weise zum Chaosgeist geworden war, grunzte eine Antwort. Einer Sprache war er nicht mehr mächtig. Aber seine Leidensgenossen schienen ihn zu verstehen. Mehr noch: Das kurze Schnauben schien einer langen Rede gleichzukommen.
„Wenn ihr mich verschont”, wisperte Galéon, „will ich euch helfen.”
Das bedrohliche, ekelige Grabschen ihrer Hände veränderte sich. Viele ließen von ihm ab. Die Hände, die weiterhin auf ihm lagen, ertasteten ihn auf eine andere Weise. Einige schienen ihn aufmunternd zu berühren, andere tröstend zu streicheln. Gesichter tauchten vor ihm auf, schauten ihm mit dem, was von den ihren geblieben war, in die Augen. Der báchorkor gab sich Mühe, diese Blicke zu erwidern. Zu fühlen, zu tasten, zu spüren. Das war nicht leicht, während im Hintergrund die Unglücklichen, die mit ihm hergebracht worden waren, von den alten, den primitiven, den echten Chaosgeistern für das vorbereitet wurden, was diese hier schon erduldet hatten.
Bei den Mächten, dachte Galéon, während seine Wahrnehmung sich schärfte und in jedem der entstellten Gesichter das erkannte, was es ursprünglich gewesen war, Mann oder Frau, alt oder jung, ein oder zwei so jung, dass ihnen nie ein Bart gesprossen war. Und in jedem Einzelnen dieser entstellten Körper, schwach und verletzt, der Seelenfunke. Wie Glühwürmchen, denen ein grausames Kind die Flügel ausgerissen hat.
Galéon schaute wie berückt in die flüchtigen Erinnerungen ihrer selbst, die die minderen Chaosgeister noch in sich trugen, und entdeckte zwischen ihnen das Traumphantom, wie es inmitten des Grauens stand und wartete. Die Geister nahmen keine Notiz von ihm. Natürlich. Von ihrer Warte aus gesehen, stand er an der anderen Seite der Träume. Sie konnten ihn ebensowenig wahrnehmen wie die Unkundigen. Nur er selbst, er konnte über die Träume hinweg blicken.
Ist das mein Meisterstück?, dachte er.
„Ja”, antwortete das Phantom, während hinter seinem Rücken das Schuppenmonster die Frau schüttelte wie ein Welpe ein Kissen. „Du hast es dir gewählt, als deine Neugier dich nach Aurópéa trieb.”
Warum tut Uldaise das? Und … worauf wartet er damit?
„Nach dem warum musst du ihn selbst fragen. Und was die zweite Frage betrifft … er wartet auf jemanden. Sagen wir, er wartet auf einen Boten. Einen Lieferanten. Es wäre hilfreich, wenn du die Ware abfängst.”
Das Phantom verblasste. Und dann stürzte der Sand abwärts und riss sie in die Tiefe, die Monster, die minderen Chaosgeister und die, die demnächst welche sein würden.
Galéon blieb zurück. Die Einhornzügel hielten ihn, bis der strudelnde Sand sich wieder geebnet hatte und Pataghius Glanz ihm endgültig das Bewusstsein nahm.
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