Es war erstaunlich, wie schnell der alte Saháalír bereit gewesen war, seine Villa in der Oberstadt zu verlassen, nur um einen letzten Blick auf den Störenfried werfen zu können, den die Mächte zur Unzeit nach Aurópéa geleitet hatten. Wie üblich hatte es Úldaise keinerlei Probleme bereitet, zu nachtschlafender Zeit vorgelassen zu werden. Die sinoray, so stand es in ihren Statuten geschrieben, konnten einander zu jeder Tages- und Nachtzeit erreichen. Natürlich … für manchen von ihnen könnte es viel zu spät sein, bis zum nächsten Morgen zu warten, bedachte man, wie betagt die Greisinnen und Greise allesamt waren. Um keine Zeit zu verlieren, hatte man Úldaise gleich ins Schlafgemach des Ältesten gebracht. Saháalír, ohnehin mit schlechtem Schlaf geschlagen, hatte erfreulich verloren und zerbrechlich gewirkt in seinem viel zu großen Bett.

Úldaise hatte ihm rasch und überzeugend von dem überraschenden Fang und der Ungeheuerlichkeit berichtet, den ruchlosen báchorkor auf frischer Tat im brennenden Obsthain ertappt zu haben. Dass Úldaises Gewändern der Geruch von Rauch und Pferdeschweiß anhaftete und die wohlriechenden, leicht betäubenden Düfte des schmerzlindernden Räucherwerks verdrängten, unterstrich seinen Auftritt von dem Ältesten überzeugend. Es musste Saháalír imponieren, wie agil und beherzt Úldaise ungeachtet seines Alters war. Ein Mann der Tatkraft, der Festigkeit.

Saháalír jedenfalls war umgehend putzmunter geworden, hatte seine Leibdiener und Stallknechte aufgescheucht und war nur einen halben Gongschlag später mit einer kleineren, aber nicht weniger prachtvollen Sänfte unterwegs in die Unterstadt. Úldaise ritt voran und stellte sicher, dass allzu ungehobeltes Nachtvolk dem kleinen Begleittross aus einem berittenen Knecht und zweien, welche die die Sänfte tragenden Maultiere führten, aus dem Weg ging. Seine pure Anwesenheit genügte, um die Straße direkt vor ihnen zumindest für die paar Augenblicke zu räumen, die sie benötigten, um sie zu durchqueren.

Úldaise blickte sich um. Saháalír hatte die Vorhänge, die er als Sichtschutz hätte schließen können, offen gelassen und schaute sich mit seinen halbblinden Augen aufmerksam um. Die Schwermut auf seinem Gesicht konnte er nicht verbergen. Verständlich. Der alte Mann hatte Aurópéa in besseren Zeiten gesehen, hatte als Bursche hier vielleicht ausgelassene Nächte verbracht, sich seiner Jugend erfreut, gelacht und geliebt. Wahrscheinlich war er seit zwei Dutzend Sommern zu dieser Tageszeit nicht mehr in der Unterstadt gewesen und bekümmert über den Verfall.

Als sie auf dem westlichen Markt ankamen, war Úldaise angenehm überrascht. Der Stadtsoldat hatte Verstärkung bekommen, er und vier weitere Wächter zeigten kämpferische Präsenz. Im Außenbereich der Tavernen hielten sich an den Tischen nur noch nicht allzu betrunkene Nachtschwärmer auf. Der báchorkor hing nach wie vor in den Lederfesseln am Gitter und schien sich in sein Schicksal ergeben zu haben.

Einzig seine eigenen beiden Knechte störten erwartungsgemäß den Gesamteindruck, mussten ihn unweigerlich blamieren. Der zweite war zwischenzeitlich zu seinem Kameraden gestoßen und hielt sich ebenfalls an einem Krug mit irgendetwas fest, das Úldaise ihnen wohl nicht erlaubt hätte. Der andere hatte sich zwar das Gesicht gewaschen, aber dabei nicht alle Blut- und Dreckflecken erwischt. Nun, wahrscheinlich würde Saháalír das in dem bunten Laternenlicht und auf die Entfernung nicht bemerken.

Der alte sinor wies seine Begleiter an, die Maultiere so vor die Zelle zu führen, dass die Sänfte vor dem Gefangenen zu stehen kam. Dann schloss er den abgewandten Vorhang zur Marktplatzseite. Úldaise saß ab, um näher heran zu kommen.

„Ich vergaß”, sagte er und reichte dem Alten eine kristallene Spielfigur. „Das hier konnten meine Leute noch bei ihm sicherstellen.”

Der alte Mann betastete das Figürchen, den Magier, mit gichtgekrümmten Fingern. Einen Moment war er ganz in Gedanken versunken.

„Wieso hast du mich bestohlen?”, fragte Saháalír schließlich ruhig. „Was bei den Mächten hast du dir dabei gedacht? War ich nicht gastfreundlich und großzügig zu dir?”

Der báchorkor schaute auf und musterte Saháalír mit müden Augen.

„Weshalb bist du nach Aurópéa gekommen? Wolltest du dich bereichern? Auf diese Weise?”

Der junge Mann schüttelte fast unmerklich den Kopf.

„Antworte mir!”

„Er kann nicht verständlich reden, edler Saháalír. So wie es aussieht, hat er sich selbst mutwillig die Zunge verstümmelt.”

„Warum sollte ein báchorkor das tun?”, fragte der Alte.

„Vielleicht war es auch ein unbekannter Anstifter, um zu verhindern, dass er Geheimnisse ausplaudert. Ich glaube, ich bin einer Schurkerei von erheblichem Ausmaß auf der Spur. Eine, die sich gegen den konsej und das Wohl von Aurópéa richtet. Ich gehe der Sache nach.”

„Tatsächlich?”

„Warum wohl stand mein Garten von dessen Hand da in Flammen? Angst und Schrecken wollen sie verbreiten!”

„Aber wer denn?”

„Das mögen die Mächte wissen. Eine konspirative, geheime Schar von Aufrührern, sehr wahrscheinlich. Vermutlich kennt selbst er keine Einzelheiten.” Úldaise warf Galéon einen scharfen Blick zu. „Wer es nötig hat, einem ehrenwerten Gastgeber persönliche Schätze zu rauben, hinterhältig und feige, der gibt auch für ein gutes Entgelt seine Sprache fort und macht sich für andere schmutzig.”

„Kannst du lesen und schreiben, báchorkor?”, fragte Saháalír ruhig.

Úldaise erstarrte.

Galéon lächelte finster und nickte.

Verflucht!

„Macht ihm eine Hand los”, wandte der sinor sich an einen der nahebeistehenden Stadtwächter. „Und hat jemand ein Schreibzeug griffbereit?”

„Herr”, mischte Úldaise sich hastig ein, „Ihr werdet doch nicht irgendetwas von dem glauben, das dieser … Kerl von sich gibt?”

„Das kommt darauf an, was er zu sagen hat. Hat denn nicht jemand wenigstens eine Wachstafel bei sich?”

„Ich habe eine, Herr”, meldete sich eifrig einer der Pferdeknechte und förderte ein abgegriffenes Notiztäfelchen und einen Griffel hervor.

Úldaise biss sich auf die Lippen. Seine Gedanken jagten und prallten an die Grenzen, die die Situation ihm setzte. Warum nur war ihm nicht selbst der Gedanke gekommen, der báchorkor hätte in seiner viel zu lang bemessenen Lebensspanne nicht irgendwann die Gelegenheit und Muße gehabt, sich die Schriftkunst anzueignen? Was hatte er so beredt über den Bücherpalast von Ivaál erzählen können, wenn er nicht selbst darin gewesen war? Aus welchem Grund hätte es ihn dorthin verschlagen, wenn nicht, um zu lesen?

Warum hatten sie ihm nicht gleich im Brunnen beide Hände in Trümmer gebrochen?

Und was tat der báchorkor? Er hatte offenbar alle Mühe, nicht lautlos zu lachen, als der Stadtsoldat ihm die rechte Hand befreite und den kleinen Holzgriffel zwischen die steifen Finger legte. Der Pferdeknecht hielt ihm das Täfelchen durch das Gitter hin entgegen.

„Schreib, báchorkor”, verlangte Saháalír. „Wer hat dir den Auftrag erteilt, den Garten von Úldaise anzuzünden?”

Der báchorkor zögerte. Dann begann er, zu schreiben, krakelig zwar, nachdem seine Finger taub und die Wachstafel instabil waren, aber zügig. Úldaise runzelte die Stirn und trat näher. Was tat der Kerl da?

„Lest, Úldaise. Meine Augen tun es nicht hier in der Nacht.”

Der sinor nahm die Tafel an sich und ließ sich von einem Stadtsoldaten mit einem Laternchen leuchten.

Ich habe keine Angst vor dir, stand da. Offenbar hatte der junge Mann damit gerechnet, dass seine Worte abgefangen würden.

„Er .. er behauptet, auf eigene Rechnung zu handeln”, behauptete Úldaise und strich das Wachs rasch glatt.

„Willst du den konsej stürzen?”, fragte Saháalír. „Gebt ihm die Tafel, Úldaise.”

Der Griffel kratzte über das Wachs.

Die Mächte werden dir Einhalt gebieten, las Úldaise und sagte: „Er schreibt, die Stadt wird bald aufbegehren.”

„Hast du sie aufgestachelt, báchorkor?”

„Herr, seine pure Anwesenheit hat hier zu einem Aufruhr geführt”, klärte ein anderer, ziemlich beschränkter Stadtwächter den sinor auf.

Lass den alten Mann in Ruhe!, schrieb Galéon. Úldaise las: „Bald schon wird Aurópéa brennen wie der Garten” und strich es wütend aus. „Unverschämtheiten eines Irren!”

„Úldaise! Ihr vernichtet ein Geständnis!”, rief Saháalír betroffen aus.

„Mitnichten! All diese Zeugen hier haben es gehört. Diese Unverschämtheiten wird der Kerl bald in der Wüste bereuen! Ich ..”

„Die Tafel! Genug mit dem Unfug!”

Úldaise gab sie unwillig dem Wächter zurück. Galéon fuchtelte energisch mit dem Griffel und schaute Saháalír eindringlich an, deutete auf die Spielfigur in Saháalírs Hand und legte die Hand dann demütig auf sein Herz.

Der sinor zögerte. „Willst du dein Gewissen erleichtern, báchorkor? Willst du mich deswegen um Verzeihung bitten?”

Der junge Mann nickte, ohne seinen dunklen Blick von dem sinor abzuwenden.

„Lasst ihn noch ein letztes Mal schreiben.”

Galéon bekam das Notizbrettchen noch einmal vorgehalten. Diesmal krakelte er einen Moment länger.

„Soll ich vorlesen?”, fragte Úldaise eilig, mit kaum verhohlenem Missfallen.

„Nein. Wenn es eine Bekenntnis wegen der Spielfiguren ist, ist es unter uns.” Saháalír winkte jemanden mit einer Lampe heran, ließ sich das Wachstäfelchen geben und förderte unter seinem Gewand einen eingefassten Lesestein hervor, den er wie ein Schmuckstück um den Hals trug. Bedächtig studierte er die Zeilen.

„Es enttäuscht mich”, sagte er dann, „dass ein junger Kerl mit einem solchen Talent und Eloquenz sich bösen Kräften verdingt hat. Mögen die Mächte dir deine Verfehlungen verzeihen. Ich wünsche dir Frieden und Weisheit hinter den Träumen, báchorkor.”

Galéon verneigte sich. Ohne Widerstand ließ er sich die Hand wieder fesseln.

Úldaise schaute verblüfft von einem zum anderen.

„Edler sinor?”, fragte er. „Was geschieht nun?”

„Der Lauf der Gerechtigkeit, Úldaise. Der junge Mann hat mich um Vergebung für den Diebstahl gebeten. Das erscheint mir so nichtig, dass es mir gleich ist. Die Sache mit Eurem Garten macht Ihr mit ihm ab. Und was die Drohungen gegen die Stadt betrifft … das werden wir morgen zu bereden haben. Ich will zurück in mein Haus. Gehen wir! Gute Nacht, Úldaise. Und … danke. Danke für Eure Mühe. Nun kann ich beruhigt schlafen.”

Seine Diener rangierten die Sänfte um. Saháalír schloss auch den anderen Vorhang. Der kleine Tross setzte sich in Bewegung. Kaum hatte die Sänfte den Marktplatz verlassen, wagte sich zwielichtiges Volk wieder ins Freie.

Die beiden Knechte, die sich klug im Hintergrund gehalten hatten, wagten sich wieder in die Nähe ihres Herrn, aber nicht, ihn anzusprechen. Klug von ihnen, dachte Úldaise, der Zorn und Neugier kaum beherrschen konnte. Was hatte der báchorkor für eine geheime Botschaft geschrieben? Vergebung für den Diebstahl, den er gar nicht begangen hatte? Wohl kaum! Aber warum hatte dieser senile alte Idiot ihn dann nicht lesen lassen?

„Sie werden dich zwischen sich zerreißen”, murmelte er unheilschwanger in Galéons Richtung. „Und dann werden sie deine Fetzen wieder zusammenfügen und es nochmals tun, immer und immer wieder. So lange, bis du die Mächte verfluchst, báchorkor. Und ich, ich werde dabei stehen und es wesentlich unterhaltsamer finden als deine albernen Märchen und Erzählungen.”

Der junge Mann schaute zu Boden. Er hatte sehr wohl Angst. Das war gut!

„Herr?”, fragte der intelligentere seiner beiden Gehilfen, „Ist Euch wohl?”

„Sollen wir Euch etwas zu trinken besorgen? Ihr wart vielleicht zu lange in der Sonne, heute.”

Úldaise schnaubte zornig. „Helft mir beim Aufsteigen. Und seid pünktlich. Sobald die Sonne aufgeht, macht ihr mit dem da einen Ausritt!”

„Ohne Euch, Herr?”

Úldaise bedachte sich. Auf den Mauern ertönte der Gong. Die Zeit lief immer schneller.

„Wenn ich es einrichten kann, werde ich dabei sein. Wenn nicht, komme ich nach. Wartet nicht auf mich. Aber wehe Euch, wenn irgendetwas schiefläuft.”

***

„Wartet einen Moment!”

„Herr?”, fragte der berittene Knecht, der die Sänfte begleitete und Pöbel aus dem Weg scheuchte. Saháalír öffnete den Vorhang einen Spalt weit.

„Ich will nicht zurück in die Villa”, sagte der Alte. „Bringt mich zum Haus meiner lieben Freundin, die heute Abend noch bei mir war.”

„Selbstverständlich, Herr.”

„Jemand soll vorauseilen und mich ankündigen. Ich will nicht, dass die Dame in Verlegenheit kommt.” Er lachte. „Ich bin schließlich kein leichtherziger Galan mehr, der nachts von Begierde beflügelt an die Tür von Damen klopft.”

Der Knecht lächelte. „Darf ich erfahren, was Eure Laune so hebt, Herr?”

„Ein Geheimnis”, sagte der alte Mann und schaute fasziniert auf das kleine Notizbrett. „Eines, das wir lösen müssen.”

***

Der kleine Treppenabsatz bot kaum genug Platz für die vier Kinder, zudem die Barrikade aus der zerbrochenen Lanze und dem alten Holzschild den Zugang zur Tür versperrte. Osse Emberbey saß unten auf der Stiege zur Falltür und bebte. Steile Treppen und Dunkelheit schienen eine wahre Tortur für ihn zu sein. Láas und Jándris hatten sich zunächst darüber lustig gemacht, bevor die teirandanja ihnen flüsternd erklärt hatte, dass der Junge sicherlich alles nur verzerrt erkennen konnte, und dass sie die beiden einmal sehen wollte, wenn sie dasselbe mit verbundenen Augen täten.

„Wir müssen auf ihn aufpassen”, hatte sie entschieden. „Herr Alsgör wird sicher wütend, wenn er hier ausgleitet und sich Knochen bricht.”

„Wozu kann er taugen, wenn er schon am Treppensteigen scheitert”, hatte Láas gemurrt. Aber das spielte nun keine Rolle. Sie waren am Ziel angekommen.

„Wiegenkind?”, rief Jándris und klopfte an die Tür. „Bist du wach?”

Im Raum regte sich etwas. Sie hörten leichte Schritte herbeieilen.

„Lasst mich raus, Schergenpack!”, zürnte es im geheimen Turmgemach. „Ich will hier heraus!”

„Reg dich nicht auf! Wir haben unser Wort gehalten. Die teirandanja …”

„Lenkt nicht ab! Ich …”

„Merrit Althopian”, redete Manjév dazwischen. „Deine teirandanja ist hier.”

Einen ganz kurzen Augenblick war es mäuschenstill. „Majestät”, klang seine Stimme schließlich dumpf hinter der Tür.

„Ich …” Sie warf einen raschen Blick zu ihren beiden jugendlichen Dienstleuten. Zu flüstern würde nicht funktionieren, also sagte sie: „Könnt ihr mal kurz die Ohren woanders haben?”

„Die sind angewachsen”, scherzte Jándris, aber Láas rempelte ihn kopfschüttelnd an und hielt sich dann gehorsam seine Ohren zu. Jándris folgte seinem Beispiel.

„Hör mal”, begann Manjév erneut. „Ich hab das nicht gewollt. Nicht so.”

„Majestät … falls Ihr noch erzürnt seid, weil ich am Fenster war … das war ein Versehen.”

„Es war nicht nur das. Aber … Hör zu, Merrit Althopian. Gelobst du mir, dass du vor den Erwachsenen darüber schweigst, was hier vorgefallen ist, wenn wir dich raus lassen?”

„Ich gelobe Euch alles, was Ihr von mir verlangt, solange es keine Lügen sind.”

Sie war erstaunt. Das klang weniger unterwürfig, als sie erwartet hätte. Ein anderer hätte in seiner Lage vielleicht alles zugestanden, um ihr zu gefallen, ohne wenn und aber. Er setzte Grenzen.

„Nein. Keine Lügen. Nur … Schweigen. Kannst du schweigen, Merrit Althopian?”

„Je schneller ich hier heraus komme, über desto weniger müsste ich schweigen, Majestät.”

Sie nickte und trat beiseite. „Lasst ihn raus.”

Láas und Jándris lösten die verkeilte Lanze und legten sie neben Osse auf der Stiege ab. Manjév trat vor und drückte die Türklinke.

Nichts geschah. Es war nicht einmal ein Widerstand zu spüren. Das Mädchen zog am Türgriff. Nichts.

„Es geht nicht”, wisperte sie.

„Vielleicht öffnet sie nach innen?”, schlug Osse von seinem Platz aus vor.

„Nein, tut sie nicht. Sonst hätte es doch keinen Sinn gehabt, sie zu verrammeln.”

„Sie klemmt”, rief Jándris. „Drück mal von innen dagegen!”

Geräusche auf der anderen Seite deuteten darauf hin, dass Merrit Althopian sich gegen das Türblatt stemmte. Nichts rückte oder ruckte.

„Das gibt es doch nicht”, knurrte Láas, schob Jándris beiseite und begann ebenfalls, an der Klinke zu zerren. Schließlich rissen beide Jungen zugleich daran, während Merrit Althopian schob und drückte.

Dann hielten sie ratlos inne.

„Sie lässt sich nicht öffnen”, rief Manjév.

„Oh”, antwortete Merrit Althopian unpassend munter, „dann ist wohl das Schloss hinüber.”

Osse hatte sich erhoben und tauchte nun durch die Luke auf. Er trat vor, drückte selbst auf die Klinke und beließ es bei dem kurzen Versuch.

„Der Riegel ist kaputt”, sagte er.

„Was kann das sein?”, fragte Manjév.

„Alles Mögliche. Irgendetwas darin kann zerbrochen sein. Wenn es ein Schlüsselloch gäbe, könnten wir versuchen, den Riegel mit einem Draht zu bewegen. Aber so … Es sind nicht einmal Schrauben eingesetzt.”

„Osse?”, fragte Merrit Althopian von innen. „Osse? Du bist auch dabei?”

„Wir holen dich da raus”, versprach der Junge ruhig und wandte sich der teirandanja und den beiden Jungen zu.

„Majestät, es wird nicht ohne Spuren zugehen, diese Tür zu öffnen.”

Manjév senkte den Blick und schwieg einen Augenblick. Es war klar, was das bedeutete. Merrit Althopian ließ sich nicht in Diskretion befreien und danach alle Erinnerngen daran verwischen.

„Ich nehme es auf mich”, sagte sie dann.

„Dann kommt nun die Stufen hinab, bevor hier Splitter fliegen”, sagte Osse und zu den beiden yarlandoray: „Gut, dass ihr dieses scharfe Eisenzeug mitgebracht habt.”

„Red nicht so geschwollen”, brummte Láas und hob seine Axt. „Mach Platz. Das ist zu gefährlich für Damen und Krüp-…”

„Láas Grootplen!”, mahnte Manjév.

„ … Leute ohne Rüstzeug.”

„Wir brauchen Platz”, stimmte Jándris zu. „Duckt Euch weg!”

„Ihr müsst nicht die Tür fällen. Es mag genügen, die Klinke herauszuschlagen”, empfahl Osse ruhig und bot der teirandanja höflich seine Hand. „Kommt hinab.”

Sie zögerte und griff dann damenhaft zu. Láas verdrehte die Augen über so viel Etikette und holte weit mit seiner Streitaxt aus. Krachend, scharf und ohne eine Spur zu hinterlassen, prallte die scharfe Klinge auf das Holz.

***

Waýreth Althopian war schlaflos. Die zweite Nacht in Folge saß er gedankenvoll in dem Gastgemach, das ihm in der Burg der hýardora seines Herrn zugestanden war. Zum zweiten Mal war das Lager seines Sohnes unberührt.

Der Ritter hatte sich einen kleinen Krug Wein besorgt, aber er trank nicht. Im Schein eines Öllämpchens saß er am Tisch und betrachtete das Bildnis der yarlara, das er immer schon bei sich geführt hatte und das ihm nun, da es das einzige war, das ihm als Anblick geblieben war, noch kostbarer geworden war. Das Bildnis der Dame hatte ein begabter fahrender Künstler aus den östlichen yarlmálon angefertigt, dem es gelungen war, unbehelligt aus Ferocrivé zu entkommen. Es war groß wie ein Handspiegel, geschützt mit einem filzgepolsterten Holzdeckel, fast schon etwas zu groß für eine Satteltasche.

Dass Merrit daheim eine der Skizzen von damals gestohlen hatte, wusste der Ritter. Er hatte beschlossen, ihn nie darauf anzusprechen.

Traurig betrachtete er ihr Gesicht und spielte dabei gedankenverloren mit dem Ringlein aus ihrem schwarzglänzenden Haar, das sie ihm einst als Versprechen und Andenken geschenkt hatte. All die Sommer und Winter hatte er es in einem Döschen mit gläsernem Deckel aufbewahrt. Seit sie fort war und er ihre duftenden, weichen Haare nicht mehr berühren konnte, trug er es wieder am Herzen.

„Er ist mir weggelaufen”, wisperte er dem Damenbild zu. „Er ist geflohen und ich habe ihn nicht festhalten können. Ich habe dich enttäuscht.”

Im flackernden Schein des Öllichtes wirkte ihr Gesicht so diffus und zugleich so lebendig. Der Maler hatte damals, als sie ihm Modell gesessen hatte, immer wieder galant, fast frech bemerkt, wie sehr ihn ihre eishellen Augen in den Bann zogen. Die hýardora hatte sich halb entrüstet, halb geschmeichelt über den Vorwitz des Künstlers beklagt, der sie in Verlegenheit brachte. Althopian hatte den Mann daraufhin öffentlich streng ermahnt und anschließend im Geheimen um mehr als das Doppelte entlohnt, so viel Gefallen hatte er an der Sache gehabt.

„Wie soll ich weiterleben, ohne dich, ohne ihn?”, fragte Waýreth Althopian. „Wie soll ich jemals wieder froh sein?” Er vergrub das Gesicht in den Händen.

Ein dezentes Pochen an der Tür ließ ihn aufschrecken und horchen. Nach einer Weile klopfte es erneut. Er hatte sich also nicht verhört und ging nachschauen.

„Herr Alsgör?”

Der alte Ritter, selbst in einem Hausgewand, schaute an Althopian hinab. „Ihr seht nicht aus, als wäret Ihr schon zur Ruhe gegangen. Darf ich eintreten?”

Waýreth Althopian trat beiseite. Der deutlich ältere Mann schritt zum Tisch, entdeckte das Bild der yarlara und stellte keine Fragen.

„Mein Sohn ist fort”, sagte er ohne Umschweife. „Ich erwachte aus leichtem Schlaf, und als ich mich umsah, war er weg.”

„Osse?”, fragte Althopian erstaunt.

„Da er üblicherweise daheim um diese Zeit nicht herumzustreunen pflegt, kommt mir das sehr verdächtig vor.”

„Nun, er ist nicht hier.”

„Das sehe ich. Aber ich denke, er weiß ganz genau, wo Euer Spross sich verkrochen hat und steckt mit ihm zusammen.”

Althopian seufzte. „Wäre das ein Problem für Euch?”

„Es beunruhigt mich. Ich weiß gern, wo sich meine Schutzbefohlenen aufhalten. Das schließt meine Familie mit ein.”

„Da seht Ihr, wie es mir seit gestern geht.” Althopian griff nach dem Krug. „Mögt Ihr?”

Emberbey ließ sich still am Tisch nieder und ließ sich einschenken. Sein Blick blieb an dem Damenbild haften.

„Ein sehr feines Werk”, sagte er höflich.

Althopian zuckte die Achseln. „Wenn Euer Osse bei meinem Merrit ist, würde ich den Mächten danken”, sagte er. „Der Junge wird meinen Sohn vielleicht eher zur Vernunft bringen, als sein Vater es könnte.”

„Vernunft”, sagte Emberbey bitter. „Eher wird Euer heißblütiger Wildfang meinen Sohn zu vorwitzigen Ideen verleiten. Es fängt doch schon an!”

Einen Moment schwiegen beide, nippten an ihrem Wein und warteten, bis der andere etwas sagte. Althopian hielt es nicht lange aus.

„Was wollt Ihr von mir?”, fragte er.

„Ich hatte mir gedacht … wenn der Schattensänger hinter unseren Rücken mit den Kindern geredet hat und nun beide uns meiden … was mag er ihnen eingegeben haben? Was hat er ihnen für Gedanken in den Kopf gesetzt?”

„Wie meint Ihr das?”

„Nun … ich musste ihm zusagen, aus Osse einen Gelehrten zu machen. Ihn auf Schulen zu schicken.”

„Ein guter Gedanke für einen aufgeweckten Knaben.”

„Osse hat daraufhin gefordert, nach Ivaál zu gehen. Weil Euer Sohn ihm das ins Ohr gesetzt hat, ganz offensichtlich.” Emberbey deutete flüchtig mit dem Kinn auf das Bild der schönen Dame.

Althopian lächelte. „Ivaál ist berühmt für seine Schulen. Viele gebildete mestaray und maedloray [~ Lehrer und Beamte] haben einige Sommer in Ivaál verbracht.”

„Das ist ja gut möglich. Aber niemals zuvor ist ein … ein Emberbey diesen Weg gegangen! Ivaál … das ist weit jenseits des Montazíel!”

„Beunruhigt es Euch, wenn Euer Sohn einen neuen Weg einschlägt?” Althopian dachte nach und fühlte plötzlich tiefe Dankbarkeit dafür, dass die Mächte ihm strengen, verbitterten Emberbey vorbeigeschickt hatten, um ihn vom Kummer abzulenken. „Alsgör, macht Euch keine Gedanken. Ich habe Kontakte nach Ivaál. Wir finden für Osse eine gute Schule und Unterkunft.”

„Macht Ihr Euch denn gar keine Gedanken, ob der Schattensänger Euren Sohn, nun … auch zu Gedanken verleitet hat?”

„Nein. Und wenn dem so wäre, dann wäre es sicherlich nichts Schlechtes.” Althopian erhob sich. „Und nun kommt, Alsgör. Was sollen wir hier herumsitzen und unsererseits auf dumme Gedanken kommen. Lasst uns suchen. Wenn mein Sohn sich unsichtbar machen kann – vielleicht bringt Eurer uns auf die Spur.”