
Manjév schlich sich aus dem Turm hinaus und wollte gerade die Treppe vom Hocheingang hinab, als sie Schritte hörte. Geistesgegenwärtig verbarg die teirandanja ihre Laterne unter ihrem dunklen Wollumhang und kauerte sich an der Mauer zusammen. Zwei Männer gingen unten am Fuß des Turmes vorbei. Ausgerechnet an der Treppe blieben sie stehen.
„Es mag eine seltsame Frage sein”, hörte Manjév dann die Stimme des einen und erkannte sie als die des alten Alsgör Emberbey. „Aber hattet Ihr eigentlich bereits hier im Turm gesucht?”
„Sicher.” Das war Waýreth Althopian. „Ich war mehrfach mit Andriér Altabete hier, und einmal mit Daap Grootplen. Wir haben jeden Winkel im Keller und Verlies durchsucht. Sogar in den alten Wachstuben haben wir nachgeschaut. Da ist er nicht.”
„Und oben?”
„Da ist nichts, wo er sich verbergen könnte. Auf der Treppe hätten wir ihn gesehen. Und oben ist … nur eine verschlossene Stube.”
Manjév horchte auf. Da war ein ganz kurzes, kaum merkliches Zögern in den Worten des Ritters gewesen.
„Habt ihr das überprüft?”
„Ja. Am Vormittag bereits. Herr Andriér hielt mich mit einer seltsamen Geschichte über eine zerschlagene Axt zum Besten. Aber ich habe an der Tür gerüttelt. Dort wäre er nicht hinein gekommen.”
Die beiden Männer schwiegen. Dann fragte Althopian: „Sollen wir schauen, ob der Eure sich hier verbirgt?”
„Nein. Der meine wäre zu verzagt, unbekannte Treppen zu erklimmen. Ausgeschlossen.” Er zögerte und ergänzte: „Als kleiner Knabe ist er uns einst eine Stiege in meiner Burg hinabgestürzt. Die Mächte müssen ihn aufgefangen haben, der Schreck war ärger als die Blessuren, die er davontrug. Aber es war die Zeit, in der seiner Mutter … zu der sie bemerkte, dass er schlechte Augen haben musste. Ich habe es bis dahin … nicht bemerkt.”
Manjév überlegte. Hier oben auf dem Treppenabsatz, über ihren Köpfen und getarnt mit dem dunklen Überwurf, hatten die Männer sie nicht entdeckt. Sollte sie sich bemerkbar machen und den Herren sagen, dass sie ihre beiden Söhne nur ein paar Treppen weiter oben vorfinden würden?
Alsgör Emberbey wäre ihr vielleicht dankbar. Möglicherweise würde er seinen Sohn für seinen nächtlichen Ungehorsam bestrafen. Waýreth Althopian hingegen würde an der Tür ebenso scheitern wie Andriér Altabete. Wahrscheinlich würde es ihn noch mehr quälen, seinem Jungen nicht helfen zu können. Vielleicht würde Merrit Althopian darüber schweigen, wie es ihn in den Turm verschlagen hatte. Ganz sicher würde er schweigen, kam es Manjév in den Sinn. Wenn er tatsächlich ein kleines Abbild seines hochedlen, ehrenhaften Vaters war, dann würde er weder Láas und Jándris, noch sie selbst in Verruf bringen.
Also musste sie zuerst das Geheimnis des Turmzimmers ergründen. Vielleicht wusste die Mutter einen Rat dazu. Das Mädchen wartete noch eine Weile, bis es sich sicher war, dass die Herren weitergegangen waren. Sicherlich würden sich die Nachtwachen am nächsten Morgen darüber auslassen, dass die beiden Männer aus dem Norden die Nacht über in der Burg herumgestreift waren wie die Gespenster.
Dem Wächter, der bei der zwischenzeitlich geschlossenen Schankstube stand, konnte die teirandanja leicht ausweichen, indem sie sich nahe an der Mauer hielt und einen großen Bogen zum rückwärtigen Eingang des Haupthauses machte.
Das Gemach der Eltern erreichte man am schnellsten von der Halle aus. Auch hier tat ein Wachmann Dienst, allerdings recht betulich. Der ältliche Knecht saß in einem Winkel auf einem Sessel, ein Licht neben sich, und versuchte, zu lesen. Ein dünnes, billiges Büchlein hielt er dicht vor seine Augen. Manjév versuchte gar nicht erst, sich vorbei zu schleichen. Schließlich war das hier die Burg der Eltern und sie selbst keine Gefangene. Selbstbewusst nahm sie die Kapuze ab und ließ ihre Laterne wieder leuchten. Der lesende Nachtwächter blickte auf.
„Es ist alles in Ordnung”, sagte Manjév. „Ich will zu meinen Eltern. Lass dich nicht stören!”
Bevor er antworten konnte, schlüpfte sie an ihm vorbei, hin zur Treppe und hinauf zur Galerie. Von dort ging es zurück ins Stiegenhaus. Ein Wächter stand ihr nun noch im Weg, jener vor dem Gemach der Eltern. Selbstbewusst wollte Manjév daran vorbei, sah zu spät, dass ein zweiter junger Mann mit einer Hellebarde auf dem Korridor stand und sich flüsternd mit dem Leibwächter der Mutter unterhielt. Als das Mädchen sich näherte, wurde der Bursche kreidebleich. Es war jener Wächter, der vor ihrem eigenen Gemach Stellung hätte halten sollen.
„Majestät!”, wisperte der Mann entsetzt. „Was macht Ihr hier?”
„Hier bist du also”, entgegnete sie geistesgegenwärtig. „Ich hatte mich schon gewundert! Keine Sorge, ich will nur zu meinen Eltern. Es ist wichtig.”
„Majestät, wie … wie konntet Ihr Euer Gemach verlassen?”
„Durch die Tür. Sie war unbewacht.”
„Ja, aber …” Er runzelte misstrauisch die Stirn. „Ihr kommt aus der Halle. Ihr hättet mich überholen müssen!”
Manjév verstand. Offenbar war ihre Flucht bis kurz zuvor unentdeckt geblieben, und etwas anderes hatte den Mann dazu bewogen, seinen Posten aufzugeben.
„Später”, sagte sie. „Was gibt es hier zu reden?”
„Yarl Emberbey sucht nach seinem Sohn, Herrin”, gab der Leibwächter Auskunft.
„Ach so. Na, zumindest mich muss heute Nacht niemand suchen. Lass mich zu meinen Eltern, ja?”
Der Bewaffnete machte ihr gehorsam den Weg frei. Manjév schritt hoheitlich an ihm vorbei, passierte das Bibliothekszimmer und stand ein paar Schritte darauf endlich vor dem Gemach der Eltern. Wie üblich war die Tür nicht verschlossen, denn zu dieser Flur hatten nur die Familie und tagsüber yarlay und Kammergesinde Zutritt.
Die Eltern teilten sich ein großes, komfortables Nachtlager. Als kleines Mädchen hatte auch Manjév hier ein Bettchen gehabt. Einen Moment genoss sie den vertrauten, vergangenen Anblick der nächtlichen Kemenate, das gedämpfte Mondlicht, das in einem Winkel einfiel, der verriet, das Noktáma nach Norden zog. Pataghíu reiste ihr nach, wie jede Nacht, seit Menschengedenken. Bald würde es tagen.
Asgaý von Spagor schlief tief und fest, schnarchte ein klein wenig und hatte seinen Arm um Kíaná von Wijdlant gelegt. Die teiranda hatte einen leichten Schlaf und bemerkte, dass jemand vor ihrem Bett stand und sie anschaute.
„Manjév?”, wisperte sie überrascht.
Das Mädchen kniete neben dem Bett vor dem Gesicht der Mutter nieder, um flüstern zu können. „Bist du wach, Mama? Kann ich dich was fragen?”
„Es ist mitten in der Nacht, Kind!”
„Es ist wichtig, Mama.”
Kíaná von Wijdlant nickte. Dann löste sie sich, vorsichtig und geübt, aus der Umarmung ihres hýardor und erhob sich. „Komm hinüber ins Audienzzimmer. Lass uns deinen Vater nicht aufwecken.”
Sie begaben sich, unter den erstaunten Blicken des Leibwächters, in das Amtsgemach, in dem die teiranda mit yarlay und spreghenay ihre Beratungen hielt. Der Weg dorthin führte durch den Nebenraum, wo die Puppenburg noch so da stand, wie Manjév sie am Mittag zurückgelassen hatte. Die Püppchen, die sie und der Magier in Händen gehalten hatten, saßen noch auf dem Turm. Ein seltsamer Zufall, wie Manjév durch den Kopf ging.
„Was gibt es so dringendes, Manjév?”, fragte die Mutter freundlich.
Die teirandanja setzte sich auf den Teppich und nahm schnell die Püppchen vom Turm hinab. Kíaná von Wijdlant setzte sich zu ihr. Schließlich war niemand da, den dieses unmajestätische Verhalten brüskieren konnte.
„Ich hab nachgedacht, Mama. Weißt du … Meister Yalomiro hat mir heute ein paar ganz wichtige Dinge gesagt.”
„Ja?” Die Mutter klang aufmerksam, vorsichtig, bei nur diesem einen kurzen Wort.
„Ihr habt auch mit ihm geredet, nicht wahr? Über mich?”
„Ja, Liebes. Aber ich erinnere mich nicht …”
„Ihr wart hier drin, nicht wahr?” Manjév tippte gegen den Turm aus dünnem Holz. „Ihr wart mit Meister Yalomiro in dem Zimmer mit der verschlossenen Tür.”
Kíaná von Wijdlant zuckte überrascht zusammen. Mit beunruhigter Miene musterte sie die Tochter. Dann nickte sie zögernd. „Woher weißt du das, Manjév?”
„Von Osse”, antwortete das Mädchen, ohne auf die näheren Umstände einzugehen. Die Antwort war gut, denn die Mutter hielt sie offensichtlich für plausibel. Bevor sie sich danach erkundigen konnte, wie die Kinder auf dieses Thema gelangt waren, kam Manjév zur Sache. „Mama … da ist also kein morscher Fußboden im Turm, nicht wahr? Die Tür war aus einem anderen Grund zu.”
„Ja.”
„Jándris behauptet, da ist ein Fluch auf dem Zimmer.”
„Ja”, sagte die teiranda schlicht. Manjév stutzte. Dann schauderte sie. Mit einer so ehrlichen Antwort hatte sie nicht gerechnet.
„Bitte Mama … ich muss es wissen. Meister Yalomiro hat die Tür so verzaubert, dass man sie nicht mehr öffnen konnte, und für euch hat er sie heute Abend kurz aufgemacht, oder?”
„Manjév, es … wieso willst du das wissen?”
„Was ist da drin in dem Zimmer?”
„Manjév … es gibt gute Gründe, warum ich dir das nicht sage. Du bist …”
„… noch zu klein dafür?”
Kíaná von Wijdlant seufzte. Dann nickte sie.
„Ist es gefährlich?”
„Möglicherweise.”
„Und warum hat Meister Yalomiro euch an einen gefährlichen Ort geholt?”
Nun runzelte die teiranda die Stirn, nicht vor Unmut, sonders als versuche sie, sich an etwas zu erinnern.
Manjév biss sich auf die Lippen. Dann kam ihr eine Idee. „Mama … ich glaube, ich weiß, von einigen Dingen in diesem Zimmer. Ich …vielleicht habe ich davon geträumt. Jedenfalls kann ich nicht mehr schlafen, weil ich immerzu daran denken muss.”
Die teiranda neigte sich aufmerksam dem Mädchen zu. „Was ist es, Manjév? Was hast du geträumt?”
„Es …” Sie entsann sich an das, was Merrit von hinter der Tür zu ihr gesprochen hatte.
„Ein Zimmer. Eine Wohnstube. Es sind Kräuter und Elixiere und solche Dinge darin, wie im Arbeitszimmer eines Heilers. Und … da war noch etwas mit einem großen Edelstein.”
Kíaná von Wijdlant schwieg bestürzt. Dann fragte sie misstrauisch: „Was für eine Art von Edelstein, Manjév?”
Ausgerechnet das hatte Merrit Althopian nicht näher beschrieben. Das musste sie raten.
„Ein Rubin,” sagte sie und hoffte, das sei die richtige Antwort. Erst kürzlich hatte sie sich an einem langweiligen Regentag mit Tíjnje heimlich das schöne Geschmeide der yarlara von Moréaval angeschaut, natürlich, ohne etwas aus dem Schmuckkästchen herauszunehmen. Das war für beide kleinen Mädchen eine große Versuchung gewesen. Besonders ein Halsband mit Rubinsplittern und Perlen hatte es den Kindern angetan. Tíjnje hatte gewusst, dass es ihrer Großmutter, der eld-yarlara von Moréaval gehört hatte.
Offenbar hatte sie die richtige Wahl getroffen, denn die Mutter seufzte. Beide schwiegen. In der Burg war es gespenstisch mäuschenstill.
„Es lebte einmal”, begann Kíaná von Wijdlant plötzlich, „eine traurige junge Frau. Sie war so traurig, dass sie glaubte, ihr Leben nicht mehr ertragen zu können und nie wieder fröhlich zu sein. So traurig, dass niemand von all den guten Leuten um sie herum sie trösten konnte. Viele versuchten, sie aufzumuntern, alle waren so gut zu ihr. Sie fühlte sich einsam, obwohl sie unter Menschen war, aber mit niemandem wollte sie sich abgeben, so sehr hat ihre Traurigkeit sie gelähmt. Sie wandelte unter den Menschen wie ein Schatten ihrer selbst. Jeden Tag bat die junge Frau die Mächte, ihr Leid zu beenden. Aber die Mächte hörten nicht auf ihre Wünsche, und die Last auf ihrem Gemüt wurde immer schwerer.”
„Wie traurig”, sagte Manjév mitfühlend.
„So ging das einige Winter lang. Und eines Tages begegnete sie jemandem, der anders war als die vielen guten Leute. Sie glaubte, dass der fremde Mann ihr die Traurigkeit wegnehmen könnte.”
„Wieso dachte sie das, Mama?”
„Sie hatte das Gefühl, dass dieser Mann tatsächlich verstand, was sie sich selbst nicht erklären konnte. Und … nun, sie wollte, dass er in ihrer Nähe blieb. Und so sie ließ ihn in ihrem Haus wohnen.”
„Im Turm?”, fragte Manjév gespannt und tippte die Puppenburg an. Kíaná von Wijdlant nickte.
„War sie denn verliebt in ihn?”
„Nein. Nein, das war es nicht. Er wurde eher so etwas wie ein … Freund. Ein Ratgeber. Jemand, an dessen Seite sie sich sicher fühlte.”
„War das, bevor du Papa kennengelernt hast?”
Kíaná von Wijdlant blickte flüchtig auf. Manjév schaute sie abwartend an.
„Lange vorher”, lächelte sie dann verlegen.
Manjév wandte sich dem Spielzeug zu. Dass ihre Mutter einmal so dermaßen unglücklich und traurig gewesen war, hatte sie nicht gewusst. Sie kannte sie nur freundlich, milde und gut gelaunt an der Seite des Vaters. Dass es Dinge gab, die sie nicht wusste, die einmal anders gewesen waren, das beunruhigte sie.
Eigentlich hätte sie nun weiter danach fragen müssen. Aber dazu war nun nicht die richtige Zeit. Nun ging es um den geheimnisvollen Bewohner des Turmzimmers.
„Und der Mann ist irgendwann weggegangen?”
„Ja. Ja, so kann man es sagen. Meister Yalomiro … nun, er wurde besiegt.”
„Besiegt? Von Meister Yalomiro?”
„Ja. Ich glaube, so ist es gewesen.”
„War es ein böser Mann?”, fragte Manjév gespannt.
„Es war jemand, der … nicht gut für mich war. Nicht für mich und nicht für diesen Ort. Und darum, Manjév, ist das Zimmer versperrt. In diesem Zimmer, Manjév, habe ich einst eine unfassbare Torheit begangen.”
Tatsächlich? Eine unfassbare Torheit – genau das war in diesem Augenblick auch Manjévs Problem. „Was war es, Mama?”
„Ich hatte damals einen dummen, eigensüchtigen Wunsch. Ich habe mir etwas gewünscht, das mich glücklich machen sollte. Im Turmzimmer hat der Mann, der auch ein Magier war, mir diesen Wunsch erfüllt. Ich wurde glücklich. Und zugleich sind dadurch viele Leute unglücklich geworden.”
„Ein Magier? Ein Schattensänger?”, fragte Manjév aufgeregt.
„Nein. Einer von einer Art, die es nicht mehr gibt, Manjév. Du musst dir keine Sorgen machen. Jedenfalls … dieser Magier hat sehr lange in diesem Zimmer gehaust. Vielleicht hat er … Spuren hinterlassen. Nachdem er fort war, hat Meister Yalomiro die Tür versiegelt.”
„Und Herr Andriér hat versucht, sie aufzubrechen?”
„Woher weißt du das nun wieder?”
„Von yarl Althopian”, sagte Manjév arglos. „Ich habe gehört, wie er mit yarl Emberbey darüber sprach.”
Kíaná von Wijdlant schnaubte mit unüberhörbarem Ärger. „Nun, Manjév … dein Vater wusste, als er seinen Platz in dieser Burg einnahm, nichts über das Geheimnis dieses Zimmers. Und ungestüm, wie Männer zuweilen sind, wollte er dem Geheimnis auf die Spur kommen. Im Scherz hatte ich ihm damals gesagt, er könne ja versuchen, einzudringen, wenn ihn die Neugier so sehr plagte. Es ist …”
Manjév ließ ihr einen Augenblick Zeit, bevor sie fragte: „Warum redest du nicht weiter, Mama?”
„Ich entsinne mich nicht … ich weiß, dein Vater und ich waren heute dort oben. Aber ich habe vergessen, was wir geredet haben. Es ist weg. Ich erinnere mich nicht, was dort gesprochen wurde. Wie seltsam. Ich meine nur, mich zu erinnern, dass Meister Yalomiro einen wichtigen Grund hatte, dass wir ihn dort treffen sollten.” Sie lächelte. „Solange er bei uns war, war es … sicher dort. Sicherer als anderswo.”
„Solange die Tür zu ist, kann aber nichts geschehen, Mama?”
„Nein, Manjév. Was immer möglicherweise in diesem Zimmer nachhallt, es bleibt im Zaum, solange die Tür geschlossen ist. Zumindest sollte es das. Manjév, es besorgt mich, dass du von den Kräutern und dem großen Edelstein geträumt hast.”
„Ach …”, winkte Manjév ab. „Das war nicht so schlimm, Mama!” Viel schlimmer war, dass Merrit Althopian offenbar an einem Ort eingesperrt war, wo möglicherweise noch Schlimmes nachhallte.
„Bitte, Kind … lass diesen Traum vorerst unter uns bleiben, ja? Dein Vater muss nicht zur Unzeit davon wissen.”
„Ist es ein Geheimnis vor ihm?”
„Nein, nicht wirklich. Ich … ich möchte nicht, dass er sich Sorgen macht.”
„Ich werde ihm nicht sagen, dass wir darüber geredet haben. Versprochen.”
„Gut. Und du. Manjév, beunruhige dich nicht über deinen Traum. Mag sein, dass Meister Yalomiros Aufenthalt hier einige Erinnerungen aufgewühlt hat, wie ein Moderfisch den Grund eines Tümpels.. Es geschehen sonderbare Dinge, wenn Schattensänger einen Ort betreten. Manchmal geraten Gedanken und Bilder durcheinander.”
„Ja, Mama. Mama … wenn wir die Hilfe von Meister Yalomiro brauchen … also, nur angenommen, wenn mal etwas ganz, ganz wichtiges passiert … können wir irgendwie nach ihm rufen?”
Nun senkten sich die Lider der teiranda misstrauisch. Manjév wurde bewusst, dass sie nun bei weitem zu auffällige Fragen stellte. Verlegen begann sie, mit den Puppen zu spielen.
„Wir müssten einen Boten über den Montazíel schicken”, antwortete Kíaná von Wijdlant.
Manjév seufzte im Stillen. Das war zu befürchten. Und es hatte keinen Sinn mehr, Weiteres zu erfragen.
„Bringst du mich ins Bett, Mama?”, fragte sie. „Und singst du mir noch ein Lied vor?”
***
Dýamirée war müde. Es war ihr nur für ganz kurze Zeit gelungen, in den Schlaf zu finden, als Cýelú schon wieder zum Aufbruch drängte. Offenbar hatte der Regenbogenritter sich vorgenommen, Aurópéa nun in besonders kurzer Frist zu erreichen. Perlenglanz schien es ebenfalls nach Hause zu ziehen. Er galoppierte brav und mit gleichmäßigem Schwingenschlag der Morgenröte entgegen.
Das Mädchen lehnte sich an den goldenen Harnisch das arcaval’ay und nickte immer wieder für einige Momente ein. Herunterfallen und in die Tiefe stürzen würde sie nicht, denn er hielt sie sicher fest. Dýamirée wunderte sich selbst darüber, wie sehr sie dem fremden Magier zwischenzeitlich Vertrauen entgegenbrachte.
Als sie wieder einmal aus leichtem Schlaf aufschreckte und die Augen öffnete, zog unter ihr der Schatten des Einhorns über eine karge, steinige Ebene hinweg. Niedrige Gebüsche und hier und dort ein einzeln stehender Baum, zumeist Nadeltannen oder Krummkiefern mit bizarr geformten Kronen, standen dazwischen. Etwas abseits ihres Fluges sah sie voraus eine trutzige, weitläufige Burganlage und darum etwas, was riesengroße, zusammenhängende Getreidefelder sein mochten. Obwohl sie der Wüste entgegenflogen, war es erstaunlich kühl.
„Wo sind wir hier?”, fragte Dýamirée aufmerksam.
„Das ist das teirandon Étagrial”, sagte Cýelú. „Bald kannst du die Wüste Soldesér sehen, und sobald Pataghíu seinen Glanz über den Horizont erhoben hat, vielleicht sogar schon die goldenen Dächer von Aurópéa in der Sonne aufblitzen sehen. Und dann sind wir schon fast im Cielástel. Der Wind trägt uns voran. Wir sind viel schneller, als ich zu hoffen wagte.”
„Was wird deine hýardora sagen, dass du mich mitgenommen hast?”
„Meine hýardora wird sich glücklich schätzen, dich kennenzulernen, Kleines. Sie ist die freundlichste und liebevollste fajía, die du dir nur vorstellen kannst.”
„Aber du … du bist doch ein Mensch, oder?”
„Natürlich.”
„Wie kannst du dann mit einer fajía beieinander sein und einen Sohn haben?”
„Was ist das für eine Frage, Kleines? Wir lieben einander”
„Wie hast du sie kennengelernt?”
Nun schwieg der Regenbogenritter, einen Moment zu lange für Dýamirées Geschmack.
„Meine Mama”, sagte sie, „ist meinem Papa im Etaímalon begegnet. Sie hat einen schlimmen Bann von ihm genommen. So hat sie es mir erzählt. Meine Mama ist aber ein Mensch, wie er auch.”
„Ich habe in einem großen Kampf mitgefochten”, sagte Cýelú. „Die fajiaé waren in großen Nöten. Es traf sich, dass ich in dem Getümmel auf meine hýardora traf und jemanden abwehrte, der sie anderenfalls getötet hätte.”
Das war eine gute Begründung, fand Dýamirée. Es war nicht verwunderlich, wenn man mit seinem Lebensretter ins Gespräch kam.
„Was für ein großer Kampf?”, fragte sie. „Ist das schon lange her?”
„Oh ja.”
„Und wie lange?”
„Ich habe nicht mitgezählt, Kleines.”
„Aber dein Sohn, der ist so alt wie ich?”
„Ja. Vielleicht ein klein wenig älter. Aber nicht viel.”
Dýamirée schaute nach Süden. Sie flogen exakt einem feurigen Punkt entgegen, der am Horizont auftauchte.
„Ist das Pataghíus Glanz?”, fragte sie ehrfürchtig.
„Hast du etwa noch nie die Sonne aufgehen sehen?”
„So noch nie. Nur zwischen den Bäumen. Im Schatten.”
„Ich werde zusehen, dass wir dir ein paar Bäume beschaffen, wenn sie dir so lieb sind.”
„Danke. Aber mach dir nicht zu viel Mühe damit. mein Papa holt mich bald nach Hause. Wahrscheinlich sind meine Eltern schon beide auf dem Weg hierher.”
„Dir wird es im Cielástel gefallen. Sicher wirst du schon bald deine Eltern gar nicht mehr vermissen.”
„Würde dein Sohn dich auch so schnell vergessen, wenn mein Vater ihn in den Boscargén geholt hätte?”, fragte sie ernsthaft.
„Ach, Kleines … lass uns nicht wieder damit anfangen. Ich denke, es wird gut sein, wenn Siledaú sich für den Anfang deiner annimmt. Sie ist eine kluge Frau und hat viele Erfahrungen mit … deines Vaters gleichen. Sie kann dir die Vorzüge des Cielástel sicher besser nahebringen als ich.”
„Die opayra von deinem Sohn kannte Schattensänger?”
„Das wird sie dir selbst erzählen.”
„Wie alt ist die opayra von deinem Sohn?”
„Wie alt…” Cýelú stutzte. „Ich weiß es nicht”, gab er dann zu. „Sehr alt.”
Der glühende Punkt wuchs, wurde größer, und tatsächlich: Kaum hatte er sich gänzlich vom Horizont gelöst, zuckte dort, in der Ferne, ein goldener Lichtstrahl gen Himmel. Cýelú lachte und jubelte ihm entgegen. Perlenglanz stieß ein Geräusch aus, irgendwo zwischen dem Brüllen eines Bullen und dem Zischen einer Schlange und streckte sich im gestreckten Galopp, gewann an Höhe und ließ sich dann im Gleitflug fallen.
Wäre sie nicht so beunruhigt gewesen, Dýamirée hätte gejauchzt vor Vergnügen.
Hinterlasse einen Kommentar