„Herr Waýreth?”

Waýreth Althopian schlug die Augen auf. Was war nun schon wieder? Gerade erst hatte er sich, nachdem er die Nacht rastlos mit Alsgör Emberbey in dieser unübersichtlichen Burg herumgewandert war, niedergelegt, erschöpft, aber nicht ermüdet. Nur einen kleinen Moment Schlaf, bevor er damit fortfahren würde, hinter jede einzelne Tür, in jeden Schrank und jede Truhe zu blicken. Und unter jedes Bett. Geträumt hatte er kurz und quälend, hatte ein dunkles, irrsinnig verwinkeltes Gewölbe durchquert, eines von der Sorte, wie es sie unter der Festung der ehemaligen teiranday im Osten geben sollte. Düstere Verliese ohne Licht und voller Ungeziefer, von denen ihm Leute erzählt hatten, die es irgendwie aus Rodekliv heraus auf sein Land, ins yalmálon Althopian geschafft hatten. Die Stimme des Sohnes hatte er dort gehört, mal sein kindliches Jubeln, dann bitteres Weinen, aber immer war es ihm voraus und schien sich im selben Abstand von ihm zu entfernen, wie er sich näherte.

Und nun weckte ihn eine Knabenstimme, eine fremde.

Der Ritter drehte sich auf seinem Lager herum und sah Osse Emberbey vor sich stehen. Den, den Alsgör Emberbey ebenso besorgt die halbe Nacht hindurch gesucht hatte.

„Wie bist du hier herein gekommen?”, fragte Althopian, matt und verwundert.

„Eure Tür war offen.”

Natürlich. Die hatte er offen gelassen, für den Fall, dass Merrit zur Vernunft kam. „Was willst du?”

„Euer Sohn schickt mich.”

Augenblicklich saß Althopian kerzengerade in den Kissen. „Was sagst du da?”

„Herr … es ist alles etwas … schwierig.”

„Wo hast du ihn gefunden!”, rief Althopian aus und griff den Jungen bei den Schultern. Bei den Mächten, wie zerbrechlich, wie schwächlich fühlte er sich an!

„Herr, bevor ich Euch das sage … es muss geheim vor allen Menschen, vor allem vor den teiranday bleiben, dass ich es Euch gesagt habe.”

„Was soll das heißen?”

„Die teirandanja versucht, ihn zu befreien. Wenn Ihr hinzukommt, muss es aussehen, als wäret Ihr selbst darauf gekommen.”

Befreien? Was ist passiert? Sitzt er irgendwo fest?”

„Er wurde eingesperrt. Versehentlich.” Osse Emberbey machte ein unglückliches Gesicht. Der Ritter lockerte seinen Griff. Verängstigen wollte er den Jungen nicht. „Und nun bekommen wir die Tür nicht geöffnet.”

Waýreth Althopian erhob sich und griff nach seiner Hose. „Das werden wir doch sehen. Wenn diese ganze Aufregung nur an einem defekten Schloss anhängt … wo ist er?”

„Im Turm. Im obersten Zimmer.”

Althopian hielt inne, und ihm wurde eiskalt. In diesem Zimmer war er selbst einmal gewesen. Viele Winter waren seither vergangen. Der Schrecken war geblieben, bezwungen und verdrängt in seinem Herzen, aber nicht auszulöschen. In diesem Zimmer hatte jemand ihm an seine Seele, an sein reines Herz gewollt. Dort hatte der Rotgewandete gehaust.

„Es hieß, diese Kammer sei für immer versperrt”, sagte er beiläufig. „Herr Andriér erzählte mir von einer zerschmetterten Axt, um mich aufzuheitern.”

„Merrit ist trotzdem hineingegangen. Es hat sich wohl so gefügt.”

Gefügt? Dieses verfluchte Zimmer hatte ihm den Sohn weggeschnappt! Der Ritter wandte sich dem anderen Jungen zu. „Die teiranday müssen davon erfahren.”

„Ich weiß. Die teirandanja kümmert sich darum. Aber Euer Sohn möchte, dass Ihr zu ihm kommt.” Er setzte seine Brille ab und fügte hinzu: „Lasst es bitte wie einen Zufall aussehen. Anderenfalls falle ich in Ungnade.”

„Bei wem?”

„Bei meiner Herrin.” Es war klar, wen der Junge meinte. Der Ritter seufzte. Konnten diese Kinder nicht einfach Äpfel stibitzen und beim wilden Spiel irdenes Geschirr zertrümmern, wie alle anderen in ihrem Alter? Musste es gleich eine höfische Geheimniskrämerei werden?

„Warum hast du ihn nicht daran gehindert, in dieses verfluchte Turmverlies hineinzugehen, Osse?”

„Ich war nicht dabei, als es geschah, Herr.”

„Und wie hast du ihn dann dort gefunden?”

Der Junge schaute zu Boden. „Darüber muss ich schweigen, bis die teirandanja spricht.”

Waýreth Althopian nickte und strich dem Jungen durch das sandblonde Haar. „Du bist getreu und verständig, Osse Emberbey. Lass dir niemals einreden, das sei weniger wert als Heldenglanz.” Er zog sich sein Hemd über den Kopf und fügte hinzu: „Dein Vater sucht nach dir.”

„Ich weiß. Ich wäre Euch sehr dankbar, wenn Ihr mich hier nicht gesehen hättet.”

Althopian staunte. Wie gewandt den Knabe bereits reden konnte! „Bleib gern solange hier, wie es nötig ist. Gewiss sucht er nicht ausgerechnet hier nach dir.”

„Danke.” Osse Emberbey schaute sich um und ließ sich am Tisch nieder, um dem Ritter nicht im Weg zu stehen, während der sich ankleidete. „Ist das Eure hýardora?”, fragte er dann schüchtern, als sein Blick auf das Damenbild fiel, das noch auf dem Tisch lag.

Althopian nickte. Der Junge betrachtete sie nachdenklich.

„Sie ist schön gewesen. Ob mein Vater auch ein Bild von meiner Mama besitzt?”, überlegte er.

„Möchtest du, dass ich ihn danach frage? Ganz unauffällig, versteht sich?”

Der Junge blickte auf. Die rauchgrauen Augen hinter der Brille wirkten überrascht.

„Mir würde er es wohl nicht sagen”, gestand der Junge.

„Das denke ich mir. Aber du brauchst kein totes Bild von ihr, Osse Emberbey. Du hast deine Schwestern.”

Osse seufzte nachdenklich. Dann sagte er: „Im Turmkeller findet Ihr wohl Eisenzeug, Äxte und dergleichen, habe ich gehört. Viel Glück mit der Tür, yarl Althopian.”

Waýreth Althopian nickte ihm zu und verließ die Stube. Draußen auf dem Hof begrüßte der erste Hahn den neuen Tag.

***

„Hast du dir wehgetan?”

„Nein”, sagte Dýamirée und hielt sich das Handgelenk, das sie sich beim Aufprall auf dem Boden unsanft gestoßen hatte. „Geht schon.”

Advon hockte sich neben sie. Das Mädchen hob den Kopf und betrachtete ihn einen Moment.

„Warum guckst du mich so an?”, fragte sie beunruhigt. „Stimmt etwas nicht mit mir?”

„Wer bist du?”

Sie setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf den Boden. „Du bist Advon, nicht wahr? Ich bin Dýamirée Lagoscyre.”

„Woher weißt du, wer ich bin?”

„Dein Vater hat mir von dir erzählt. Wo sind wir hier?”

„Das ist mein Lernzimmer. Woher kennst du meinen Vater?”

„Na, der hat mich doch aus dem Wald weggestohlen.” Sie schaute sich um. „So viele leere Regale! Hier ist es viel zu ordentlich.”

„Weggestohlen? Du meinst, du wurdest entführt?”, fragte Advon entgeistert. „Sowas würde mein Vater doch nie machen!”

Sie stand auf. Er tat es ihr nach. „Ich bin jedenfalls nicht freiwillig mitgekommen. Meine Mama macht sich Sorgen.” Sie begann, sich im Zimmer umzusehen, ließ den Blick über die Stellagen, Tisch und Stühle wandern, als suche sie eine Tür oder einen Durchschlupf und ging schließlich zum Fenster hinüber. „Aber mein Papa holt mich wieder zurück.”

„Warum sollte mein Vater kleine Mädchen rauben?”, fragte Advon verwirrt und empört in einem.

„Das habe ich auch immer noch nicht begriffen. Er denkt, es könnte was ganz Schlimmes passieren, wenn er es nicht tut.”

„Etwas Schlimmes?”

Sie stemmte sich hoch, mit dem Bauch auf dem Fensterbrett, und schaute hinaus. „Wie tief es da hinab geht!”, rief sie aus.

Er griff nach ihr, um sie wieder auf den Boden zu ziehen. „Pass auf! Du fällst runter!”

„Ich falle nirgends runter. Ich kann ganz allein auf den höchsten Baum klettern”, behauptete sie.

„Aber das hier ist kein Baum. Setz dich richtig hin.”

Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß und tat ihm dann den Gefallen. „Was machst du hier?”, fragte sie. „Warum hat die alte Frau dich eingeschlossen?”

„Weil sie gemein ist. Sie wollte nicht einmal erlauben, dass ich meinen Vater begrüße.”

„Und deine Mama sagt nichts dagegen?”

Advon ließ sich auf dem anderen Stuhl nieder und stemmte das Kinn auf die Hände. „Ach. Sie macht es immer wieder so, dass Mama es nicht mitbekommt.”

„Und wenn du es ihr erzählst?”

Advon seufzte. „Dann heißt es immer, sie macht das alles nur wegen der Prophezeiung. Weil sie besorgt ist und nur mein Bestes will. Ich glaube das nicht.”

„Was für eine Prophezeiung?”

Er zuckte die Achseln. „Das versuche ich seit Ewigkeiten herauszufinden. Manchmal denke ich, das ist alles Unfug.”

Einen Moment schwiegen sie sich an. Was hätten sie auch einander erzählen sollen? Advon hätte tausend Fragen gehabt, aber es kam ihm nichts über die Lippen. So überrascht, verwirrt und … fasziniert war er von dem unerwarteten Besuch. Da war plötzlich ein zweites Kind. Ungefähr in seinem Alter. Nie zuvor hatte er so etwas aus der Nähe angeschaut.

„Was liest du da?” fragte sie, als die Stille unangenehm wurde, und zeigte auf das Buch.

„Das? Oh, das sind spannende Geschichten von früher, als die Regenbogenritter gegen die Chaosgeister gekämpft haben. Das hat jemand aufgeschrieben, der all das miterlebt hat. Aber ich habe gerade erst damit angefangen, es zu lesen.” Er unterbrach sich und fragte gespannt: „Kannst du auch lesen?”

„Na klar. Hat mein Papa mir beigebracht!”

„Wer ist denn dein Papa?”

„Mein Papa? Er ist der Großmeister der camat’ay. Und er holt mich wieder nach Hause in den Boscargén. Ganz bald.”

Sie verstummte und wunderte sich wohl über den entgeisterten Gesichtsausdruck des Jungen. Hatte sie etwas Falsches gesagt?

„Bist du eine Schattensängerin?”, fragte er alarmiert.

Dýamirée schien unsicher, ob ihm das Respekt einflößen oder Angst machen würde. „Und wenn?”, fragte sie vorsichtig.

„Dann wäre das sehr witzig. Mama hat Siledaú erst vorgestern all ihren Schattensängerkram wegräumen lassen. Und jetzt kommst du dazu.”

„Schattensängerkram?”

„Bücher und sowas. Sie sammelt solche Dinge.”

„Woher hat diese gemeine alte Frau Bücher von camat’ay genommen?”

„Gekauft”, sagte Advon. Immerhin hatte niemand sich allzu sehr darüber gewundert.

Camat’ay verkaufen keine Bücher”, sagte das Mädchen. „Was sollten denn Unkundige damit anfangen?”

„Na ja. Siledaú scheinen sie zu gefallen. Vielleicht so, wie anderen Leuten Edelsteine oder schöne Pferde gefallen.” Er grinste verlegen. „Also, wenn es nach mir geht, ich bräuchte keine magischen Bücher. Da steht ohnehin nur wirres Zeug drinnen.”

„Bist du denn ein arcaval’ay?”

„Nein”, gestand er kleinlaut. „Ich werde nie einer sein. Ich … ich kann nicht zaubern.” Er seufzte und fuhr munter fort: „Dafür kann ich prima mit Einhörnern umgehen. Vielleicht werde ich Stallwart für die arcaval’ay. Ich habe sogar ein eigenes Einhorn!”

„Tatsächlich?”

„Ja! Willst du es sehen? Er ist ganz toll! Und er fliegt fast so schnell wie Perlenglanz. Und heute Nachmittag …” Er bemerkte, dass er dabei war, seinen Plan auszuplaudern und unterbrach sich.

„Ja?”

Er überlegte einen Moment lang. „Nein. Das ist geheim.”

„In Ordnung.” Sie nahm sich den nutzlos gewordenen Schreibgriffel und begann, damit zu spielen. Advon beobachtete das eine Weile unschlüssig. War das Metallstäbchen etwa interessanter als er?

„Ich will nämlich in die Wüste reiten, und … du sagst doch niemandem was weiter?”

„Nicht, wenn du mich mitnimmst.”

Nun war er verdutzt. „Was? Aber … nein. Das ist viel zu gefährlich!”

„Für dich denn nicht?”

„Ich reite nicht zum Spaß aus. Ich muss etwas herausfinden. Etwas Wichtiges. Und … mehr sage ich dir nicht. Siledaú darf davon nichts erfahren. Also, nicht, dass ich dir nicht trauen würde. Aber vielleicht bekäme sie es irgendwie aus dir heraus. Sie bekommt fast immer alles heraus.”

„Du musst es mir nicht erzählen”, sagte Dýamirée gelassen und schnippte den Griffel, sodass der sich zu drehen begann, als könne sie damit seinen Mitteilungsdrang anfachen. Aber diesmal konnte er sich zügeln.

Er zog das Buch wieder an sich heran, las aber nicht. Etwas anderes kam ihm in den Sinn. „Wenn dein Vater ein camat’ay-Großmeister ist”, fragte er besorgt, „wird er doch wohl nicht den Cielástel angreifen wollen?”

„Aber nein. Wenn dein Vater mich einfach gehen lässt, natürlich. Ansonsten wird er mich natürlich befreien. Mein Papa ist sehr mächtig, musst du wissen. Der mächtigste Schattensänger überhaupt.”

„Meiner ist auch sehr mächtig. Der braucht die Hilfe von den arcaval’ay gar nicht, um deinen zu besiegen!”, prahlte Advon Irísolor. „Mein Vater besiegt jeden Magier und Kriegsmann.”

„Das hab ich gesehen”, murmelte das Mädchen leise und hob den Griffel auf. Einen Augenblick lang schien sie mit sich zu kämpfen, ob sie etwas sagen sollte. Aber dann tat sie es doch nicht. „Ich kann auch nicht zaubern”, gestand sie stattdessen unvermittelt. „Noktáma hat mir keine Kräfte gegeben.”

„Oh.” Dieses Bekenntnis kam überraschend. Er wusste nichts zu entgegnen und schaute sie unverwandt an. Sie hatte schöne Augen, fand er. So grün und frisch, wie eine zarte Pflanze. Einen Moment verlor er sich im Blick des Mädchens und bemerkte dann, dass Dýamirée ihn ebenso fasziniert anschaute. Als er dessen gewahr wurde, errötete er und lächelte verlegen.

Sie lächelte zurück.

***

Die rätselhafte Botschaft des báchorkor beschäftigte Saháalír und die sinora, bis der letzte Gast von der Feier nebenan sich auf den Weg nach Hause begeben hatte, entweder um zu schlafen (sofern er sich das erlauben konnte) oder um die Kleidung zu wechseln und müde sein Tagwerk zu beginnen. Wenn man an Vormittagen durch die Stadt ging, ließ sich immer leicht erkennen, wer maßhalten konnte und wer nicht.

Sie waren an dem Rätsel gescheitert, sogar so weit gegangen, einen der Nachbarn aus den Federn zu holen, der für seine exzellenten Kenntnisse der alten Literatur bekannt war. Auch der konnte mit den Zeilen nichts anfangen oder sie als Werk eines der großen Poeten identifizieren. Schwülstig und von geringer geistiger Qualität, hatte sein vernichtendes Urteil über die knappe Textpassage gelautet. Eine Albernheit ohne inhaltliche Tiefe und Anspruch. Schund.

„Nun”, hatte die sinora dazu gemeint, als der hochgelehrte Nachbar wieder gegangen war, etwas besänftigt durch einen Krug teuren Wein aus dem Keller der Dame für seine Mühen, „ich erinnere mich noch, damals, als der Sohn von den Kaufleuten weiter unten an der Straße sich an einem Roman versuchte und bei einer Gesellschaft daraus vorlas. Keinen guten Buchstaben hat er daran gelassen. Der Jüngling war einige Monde völlig gebrochen, der arme Kerl. Wie ich hörte, betreibt er heute eine Kopistenstube unten in der Oststadt, anstatt eigene Bücher zu schreiben.”

„Ich denke nicht, dass unserem báchorkor angesichts der Umstände danach war, ein Meisterwerk zu schaffen”, gab Saháalír zu bedenken. „Aber ich will nicht davon ablassen, dass er uns eine Botschaft mitteilen wollte.”

„Er macht es uns unnötig schwer mit seinen Metaphern”, seufzte die sinora.

Saháalír nahm einen Schluck von dem belebenden Aufguss aus gerösteten Beeren, den man ihnen gereicht hatte. Das Getränk war sehr teuer und so exklusiv, dass selbst manche aufgestiegenen Bewohner der Oberstand nie davon gehört hatten.

„Vielleicht sind es keine Metaphern”, sagte er dann nachdenklich. „Vielleicht denken wir viel zu kompliziert darüber. Vielleicht hat er etwas ganz greifbares im Sinn und umschreibt es, um es zu verbergen.”

Sie nahm die Wachstafel zur Hand. Der Kunstkenner hatte mit dem Griffel und spitzen Fingern darauf herum gekritzelt, um nachzuweisen, wo das Versmaß stolperte und sogar abfällig einen kleinen Schreibfehler korrigiert. Dick unterstrichen sprang ihr das Wort ins Auge.

Kwell“, sagte sie nach einer Weile. „Seltsam. So viele, so komplizierte Worte, und nur ein einziger Schreibfehler. Und dazu ein so dummer!”

Saháalír neigte sich vor. „Seltsam, in der Tat. Das ist wunderlich.”

„Ob er vielleicht wollte, dass dieses eine Wort auffällt?” Sie trank ihrerseits einen Schluck. „Ob er es bewusst so lächerlich missbuchstabiert hat, um es zu betonen?”

Kwell deiner Macht”, murmelte Saháalír. „Was ist der Quell der Macht von Aurópéa?”

„Der konsej, würde ich meinen.” Sie lächelte. „Das passt zur Starre. Meine Gelenke werden von Tag zu Tag schlimmer. Saháalír? Ist alles in Ordnung?”

„Er meint nicht den konsej. Er meint ganz wörtlich eine Quelle an der Stätte der Macht. Er meint den alten Brunnen unter dem Palast.”

„Der Brunnen? Wie kommst du auf den Brunnen?”

„Úldaise hat dort am Vormittag eine Menge Hausrat eingelagert. Angeblich wegen einer Mäuseplage in dem Haus, in dem er eingemietet lebt. Deshalb ist mir wohl der Brunnen im Sinn.”

„Gut. Angenommen, der báchorkor gibt einen Hinweis auf den Brunnen. Was sollst du da?”

„Vielleicht gibt es dort irgendetwas Interessantes zu sehen. Ich werde mir das gleich einmal anschauen. Liebe, hast du wohl zwei oder drei gewandte Männer, die uns helfen, dorthin zu gehen, wo unsere Füße und nicht mehr tragen wollen?”

„Auch vier oder fünf”, sagte sie freundlich. „Daran soll es uns nun nicht mangeln.”

„Wie war das mit deinen Gelenken?”, scherzte er charmant und bedachte sich. „Vielleicht meint er auch den konsej selbst. Wir sind ja wirklich nicht mehr allzu beweglich. Still und starr.”

Hütet Euch“, sagte sie nach einem weiteren Schluck ihres Getränkes. „Es klingt bedrohlich. Ominös. Mir schaudert davor.”

„Liebe, würdest du sagen, du seiest rechtschaffen?”

„Das kann niemand anders beurteilen als jene, die mir begegnet sind”, antwortete sie bescheiden. „Aber ich habe immer und in allem versucht, den Mächten zu gefallen.”

„Das denke ich auch von mir selbst. Und deshalb warnt er uns. Er will wohl nicht, dass uns dasselbe Schicksal blüht wie ihm.”

„Aber er ist ein Dieb und Brandstifter. War es nicht so?”

„Vielleicht werden wir darüber mehr erfahren, sobald wir uns den Quell der Macht angeschaut haben.”

***

Althopian befolgte Osses Rat und begab sich zunächst in die Gewölbe unterhalb des Turmes. Dass es dort einen zum Gerümpellager umfunktionierten Bereich gab, der in schlechteren Zeiten tatsächlich zur Unterbringung von Gefangenen und möglichweise auch Grausigerem gedient hatte, war ihm wohlbekannt. Er schaute sich um, wunderte sich über einen ganz und gar unnatürlich demolierten Kriegshammer, entschied sich selbst für eine zweihändige Kampfaxt, die ihm gegen Holz noch tauglich erschien und machte sich an den weiten Aufstieg.

Zwischenzeitlich drang Tageslicht durch die Scharten, die von außen in den Turmmauern kaum zu erkennen waren und zumindest ab dem zweiten Drittel der Turmhöhe keinerlei Sinn mehr hatten, denn auf der schmalen Holztreppe konnte kein Bogenschütze stehen und zielen. Möglicherweise, dachte Althopian sich, hatte es hier irgendwann einmal Zwischengeschosse aus Holz gegeben, die bei einem Angriff auf Wijdlant ein Raub der Flammen geworden waren. Nun spendeten die Maueröffnungen etwas Helligkeit und das schuf eine seltsame Stimmung. Im Turm war es, abgesehen von den Schritten des Ritters, ganz still.

So erreichte er ungestört das Turmzimmer, wo einst der Rotgewandete gesessen und seine unheimlichen Taten geplant hatte. Die Tür war geschlossen. Ein dünner Film aus Sand lag auf dem Treppenabsatz und knirschte unter Althopians Stiefel. Der Ritter wunderte sich darüber. Tags zuvor war hier kein Sand gewesen. Doch er schenkte der Sache keine nähere Beachtung. Zaghaft klopfte er an die Tür.

„Merrit?”

Einen Moment war es still dahinter. Dann war da die Stimme des Sohnes, kläglich, fragend.

„Vater?”

Waýreth Althopian drückte die Klinke, stemmte sich gegen das Türblatt und zog daran, als sich nichts tat. Geschlossen. So, wie Osse Emberbey es gesagt und Andriér Altabete berichtet hatte. Bei den Mächten – wie war der Junge nur dort hineingeraten?

„Merrit! Merrit! Kind! Geht es dir gut da drin?”

„Vater!” Nun war er offenbar aufgesprungen. Seine Fäuste trommelten von innen gegen die Tür. „Vater! Bitte! Hol mich hier heraus!”

Waýreth Althopian versuchte, sich mit der Schulter gegen die Tür zu werfen. Erfolglos, aber damit hatte er gerechnet.

„Geduld, mein Sohn!”, rief er zurück. „Und geh von der Tür weg.”

„Vater! Bitte … ich hab Angst!”

„Du musst keine Angst haben! Ich hol dich da raus!”

„Beeil dich! Ich … Papa!”

„Geh zurück! Ich schlage den Riegel heraus.” Waýreth Althopian holte so weit aus, wie es eben möglich war. Das Axtblatt sank tief ins Holz ein, verlor allen Rost, der ihm anhaftete. Als der Ritter die Axt zurückzog, war das Holz unbeschädigt und die Schneide blank.

Er versuchte es noch einmal, zweimal, dreimal. Die alte Axt durchdrang die Tür, ohne sie zu beschädigen. Es war, als schlüge er auf Wasser ein. Als er direkt auf die metallene Klinke zielte, war der Aufprall so hart, dass es ihm die Muskeln zerrte.

Waýreth Althopian ließ die Axt sinken und starrte die Tür betroffen an. Es stimmte also. Mit roher Gewalt war hier nichts zu gewinnen.

„Warum hast du aufgehört, Papa?”, klang es bang aus dem Zimmer.

„Die Axt taugt nichts”, log Althopian. „Ich brauche etwas anderes!”

Nun schluchzte es, ein Laut, der ihm ins Herz drang wie ein Gluteisen. Merrit weinte. So selten hatte der Junge geweint, schon als kleines Kind nicht, selbst wenn er sich beim wilden Spiel böse gestoßen und geschnitten hatte. Erst seit die hýardora hinter den Träumen war, hatte er wieder damit begonnen, und immer in Momenten, in denen der Junge zusammenbrach vor Schmerz und Trauer. Nun also noch Angst? Merrit Althopian, sein Sohn – und Angst?

„Beruhige dich, Merrit”, flehte der Ritter. „Ich bin bei dir. Du bist nicht allein!”

„Es ist dunkel hier drin”, hörte er den Knaben. „Die Fenster sind zu. Ich kann nichts sehen.”

Althopian wollte noch einmal zuschlagen und entschied sich im letzten Moment dagegen. Es würde dem Jungen nur noch mehr Hilflosigkeit zeigen.

„Dir kann nichts geschehen, Merrit! Das ist nur ein dunkles leeres Zimmer. Niemand kann dir etwas zuleide tun.”

„Wirklich nicht?”

„Wenn dir jemand etwas antun will”, beteuerte Althopian hilflos, „bekommt er meine Axt zu spüren.” Dieselbe Axt, die eine lächerliche, uralte Holztür nicht klein bekam.

Merrit verstummte. Stattdessen hörte Althopian ein neues Geräusch, sehr fein und leise und nur kurz. Ein seltsamer Klang. Ein Prasseln.

So, als werfe jemand mit Sand.