Manjév schöpfte keinen Verdacht, als sie ihr Gemach verließ, früher als gewöhnlich und voller Tatendrang. Angenehm überrascht war sie, dass der lästige Wächter, der auch nur seine Pflicht tat, nicht mehr da war, um sie aufzuhalten. Auf dem Weg hinunter in den Hof begegnete ihr Tíjnje, die gerade aus der oberen Etage kam und auf dem Weg zu ihr gewesen war.

„Komm mit”, befahl Manjév dem kleinen Mädchen abwesend. „In die Küche! Wir holen unsere Milch und suchen die Jungs.”

„Was war denn gestern noch los? Habt ihr Osses Freund gefunden?”

„Später. Sonst muss ich alles zweimal erzählen.”

Tíjnje hatte Mühe, dem älteren Mädchen zu folgen. Als sie hinaus auf den Hof traten, warf die Kleine einen bedenklichen Blick zum Himmel. „Oh, wie schade! Schau, all die Wolken!”

Manjév schaute flüchtig nach oben. Tatsächlich. Von Norden hatte der Wind seit der Nacht graue Regenwolken heran getrieben. Noch waren sie hoch am Himmel und verschleierten ihn gleichmäßig. Aber so spät im Jahr konnte es geschehen, dass die Wolken jenseits von Wijdlant sich an den Hängen des Montazíel aufstauten. Wenn es dann zu regnen begann, folgte meist ein ungemütliches, tagelang anhaltendes Schauerwetter. Dann waren die Kinder dazu gezwungen, Zeit in der Burg zu verbringen, unter den Augen der opayra, vor der es kein Entrinnen gab.

Aber das Wetter interessierte die teirandanja nicht. Sie lief über den Hof zur Küche, wo gerade die Burgbewohner ein und aus gingen, um sich ihr Frühstück zu nehmen und damit an ihr Tagwerk zu gehen. Auch Milch und Wecken standen bereits für die Kinder bereit.

Kaum hatten Manjév und Tíjnje ihre Ration entgegengenommen, betraten Láas und Jándris die Küche. Beide wirkten niedergeschlagen. Láas nahm schweigend Brot und Käse für beide entgegen, und Jándris kam heute keiner der munteren Sprüche über die Lippen, mit denen er üblicherweise die Leute zu grüßen pflegte. Als die beiden die teirandanja entdecken, wechselten sie schweigend einen bedeutungsvollen Blick und schlurften ergeben näher.

„Habt ihr gut geschlafen?”, fragte Manjév, nur um etwas zu sagen.

„Keine zehn Herzschläge lang. Ich hab kein Auge zu bekommen.”

„Und ich fühle mich, als ob ich Mühlsteine geschleppt hätte. Schau, meine Finger …” Láas präsentierte gerötete, wunde Handflächen. Jándris hob flüchtig seine eigene Hand, die nicht besser aussah.

„Was habt ihr denn da gemacht?”, fragte Tíjnje mitleidig.

„Wir? Wir haben die halbe Nacht Holz gehackt.”

„Und alles nur wegen dem Wiegenkind”, knurrte Láas.

Manjév zischte sie nieder. „Still! Soll denn jeder mithören?” Sie schaute sich um und flüsterte: „Ich habe auch nicht geschlafen. Aber ich habe herausgefunden, was es mit dem Turmzimmer auf sich hat.”

„Mit dem Turmzimmer? Das mit dem morschen Fußboden?”, fragte Tíjnje arglos.

„Es ist nicht nur der Fußboden. Das Zimmer ist … Jándris, das ist tatsächlich ein verfluchtes Zimmer. Es ist Zauberei im Spiel.”

Keiner der Jungen wirkte ernsthaft überrascht. Nur Tíjnje schaute verwirrt.

„Ohne Meister Yalomiro wird sich diese Tür wohl nicht mehr öffnen lassen. Irgendjemand hat vergessen, sie zu schließen.”

„Dann war die Tür also nicht einfach nur verschlossen, damit niemand drinnen herumstöbert?”, fragte Láas.

„Sie war zu, damit etwas nicht herauskommt. Ich glaube, da drinnen hat mal ein böser Magier gewohnt. Ich habe nicht alles verstanden, was meine Mutter erzählt hat. Aber …” Manjév unterbrach sich, winkte die anderen beiseite und aus der Küche hinaus. Es hatte tatsächlich begonnen, zu nieseln. Die Kinder zogen sich mit ihrem Morgenbrot unter einen Torbogen zurück. Dort erzählte Manjév in knappen Worten die Geschichte, die sie in der Nacht von der Mutter gehört hatte. Während sie redete, wurden die Gesichter der Jungen immer ernster.

„Dann ist das Wiegenkind jetzt tatsächlich da oben eingekerkert”, sagte Jándris. „Ist das nicht seltsam? Du wolltest ihn aus den Augen haben, und jetzt hat sich dein Wunsch erfüllt.

„Ja”, sagte Manjév beschämt. „Es war ein … dummer Wunsch, den mir der Raum erfüllt hat.”

„Und ihr bekommt die Tür wirklich nicht auf?”, fragte Tíjnje. Láas zeigte wortlos erneut seine geschundenen Hände. Das kleine Mädchen seufzte. Dann erhellte sich ihr Blick. „Ich hab eine Idee. Wartet mal, ich hole nur schnell etwas.”

„Tíjnje,” mahnte Manjév. „Du darfst keinem Erwachsenen …”

„Ja, ich weiß. Ich bin doch deine Geheimbotin!” Die Kleine drehte sich um und rannte in den Regen hinaus, wieder hinüber zur Küche. Láas wollte sie aufhalten, aber Manjév hielt ihn zurück. Tíjnjes neues Spiel würde sie wohl schweigsam halten.

„Vielleicht”, sagte Jándris, „müssen wird die Mächte anflehen. Ganz besonders Noktáma.”

„Was soll das bringen?”

„Na ja. Wenn dieser geheimnisvolle Schwarzmantel doch weiß, wie man die Tür öffnet und schließt, dann kann Noktáma ihm doch vielleicht sagen, dass wir ihn hier brauchen.”

„Ich glaube nicht, dass das funktioniert. Noktáma ist doch kein Kurier. Und selbst wenn: Wie sollten wir uns ihr denn verständlich machen?”

Jándris zuckte die Achseln. „Vielleicht muss man nachts irgendetwas Außergewöhnliches tun, das ihre Aufmerksamkeit erregt.”

„Als ob Noktáma etwas darum gibt, was Kinder nachts treiben”, murrte Láas. „Sie hat genug damit zu tun, den Mond und den Sternenschleier über den Himmel zu ziehen.”

„Weißt du etwas Besseres?”

„Ja. Ich nehme mir mein Pferd und reite über den Montazíel zu den Schattensängern.”

„Weißt du den Weg?”

„Ich frag mich durch!”

„Ich komm mit dir.” Abenteuerlust flackerte in Jándris’ Augen auf. Láas grinste und knuffte ihn freundschaftlich vor den Oberarm.

„Das hat keinen Sinn”, warf Manjév ein. „Selbst wenn euch das jemand erlauben würde, wärt ihr tagelang unterwegs. Die Zeit haben wir nicht. Und da ist noch ein anderes Problem.”

Die yarlandoray schauten sie müde an, herausgerissen aus dem zarten Traum einer ersten echten Aventüre.

„Meine Mutter sagt, die Tür ist zu, weil vielleicht noch etwas Böses im Zimmer ist.”

„Ein Monster?”, fragte Jándris ebenso erschrocken wie fasziniert. „Etwas, das das Wiegenkind angreift?”

„Nein, das glaube ich nicht. Aber es ist bestimmt nicht gut, wenn er da oben zu lange drinnen bleibt. Wir müssen nachschauen, wie es ihm geht. Dann beraten wir weiter. Bestimmt hat Osse sich auch schon Gedanken gemacht und eine gute Idee.”

„Du hältst große Stücke auf das Eulengesicht, scheint mir”, sagte Jándris kühl.

„Ja. Tue ich. Und Tíjnje mag ihn auch.”

„Tíjnje mag jeden”, sagte Láas trocken. „Tíjnje käme gar nicht auf die Idee, jemanden nicht zu mögen. Tíjnje ist einfältig und lieb wie ein Schäfchen.”

Sie schauten hinüber zur Küche. Tinje kam gerade wieder von dort zurück. Sie hielt einen hölzernen Teller und gab sorgsam acht, damit beim Laufen nicht zu stolpern. Außer Atem kam sie bei den anderen an.

„Oh”, sagte Jándris und streckte schon die Hand aus. „Pfannkuchen.”

„Die sind nicht für dich.” Energisch zog die Kleine den Teller an sich.

„Was willst du mit kalten Pfannkuchen?”, fragte Manjév verwirrt. Tíjnje hatte noch nicht einmal ihren Wecken aufgegessen.

„Ich dachte mir, die können wir Osses Freund unter der Tür durchschieben”, kam ernsthaft die Antwort. „Der hat ja seit vorgestern wohl nichts gegessen.”

„Wir werden beobachtet”, sagte Láas ruhig. „Schaut nicht hin. Mein Vater steht an der Küche.”

Manjév wandte langsam den Kopf, nur soweit, dass sie aus den Augenwinkeln sehen konnte, wie Daap Grootplen sich schüttelte und dann die Kapuze seines Mantels überzog. So blieb er im Regen stehen und schaute sich um.

„Warum geht er nicht rein?”, fragte Manjév ärgerlich.

„Vielleicht will er wissen, was Tíjnje frühmorgens mit einem Teller Süßkram will.”

Manjév runzelte die Stirn. Dann nahm sie, ungeachtet des empörten Blicks des kleinen Mädchens den obersten Pfannkuchen herunter und riss ihn in drei Teile.

„Nehmt”, sagte sie zu den Jungen. „Pfannkuchen sind sicher. Die kommen bestimmt bei keiner Hofzeremonie in ehrwürdigen Dokumenten vor.”

Sie nickte huldvoll zu Grootplen hinüber und biss dann demonstrativ in ihre Portion hinein. Láas und Jándris folgten zaghaft ihrem Beispiel und folgten ihr dann, während sie majestätisch und ohne Eile das Tor durchquerte. Tíjnje runzelte die Stirn und trippelte den Älteren hinterher.

„Achtung!” Láas redete mit vollem Mund, aber so leise, wie er konnte. „Oben auf dem Wehrgang.”

„Was?”

„Der alte Emberbey.”

„Was macht der denn jetzt da oben?”

„Folgt er uns?”, fragte Manjév und schaute zu Boden.

„Nein. Aber er schaut uns nach.”

„Das gefällt mir nicht.”

„Manjév”, gab Jándris zu bedenken, „die wohnen hier. Irgendwo müssen sie herumstehen.”

„Sie stehen im Regen herum! Findest du das nicht verdächtig?”

„Und nun? Was sollen wir machen?”

Manjév dachte nach. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um.

„Wir gehen hinein. Das ist doch genau das richtige Wetter für eine Partie Steinespiel, oder nicht?”

„Und ich?”, fragte Tíjnje. „Steinespiel ist nur für drei. Und das Essen hier, und …”

„Du suchst nach Osse. Du willst doch bestimmt alles über seine Schwester wissen, oder etwa nicht?”

„Gehört das zur Geheimmission?”

„Ja. Such nach ihm. Finde ihn und bring ihn zu uns. Wir müssen das gemeinsam regeln.”

***

Im Ratspalast von Aurópéa gab es im Grunde genommen nichts, was besonderer Bewachung bedurfte. Das Gebäude auf der Kuppe des zentralen Hügels von Aurópéa war eine von Arkaden umschlossene Rotunde aus weißem Stein, mit marmornen Säulen, das kegelförmige Dach hing seitlich ein wenig über. Hinter den Säulen befand sich eine lichtdurchflutete Halle mit Sitzreihen in der Runde. Diese hatten früher, im uralten Aurópéa, mehreren Dutzenden Leuten Platz geboten. In der Mitte des Saales war nichts außer einem kreisförmigen Fußboden aus glattem, golddurchsetzten Stein.

Früher, das war überliefert, war es Sitte gewesen, dass dieses Zentrum nicht betreten werden sollte. Niemand des alten Stadtrates durfte sich in den Mittelpunkt stellen. Alle waren gleich untereinander und sie fassten ihre Ratschlüsse, führten ihre Diskussionen über diese blanke Mitte hinweg. Damals hatte es auch noch nicht die Aufteilung in die luxuriöse Oberstadt und den verwirrenden Trubel der Unterstadt mit den schlichteren Menschen gegeben.

Heute war das anders. Und die sinoray saßen auch nicht mehr in den Sitzen, in der Runde. Sie waren in der Mitte zusammengerückt. Einige von ihnen, wie Saháalír selbst, brauchten ihren Tragstuhl, der in den eng gebauten Reihen nicht hineinpasste. Andere waren so schwerhörig, dass sie nahe beieinander sein mussten, um nicht beständig schreien zu müssen.

Wenn die sinoray nicht anwesend waren, gab es keinen Grund, dem Gebäude besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Es gab darin nichts zu stehlen, es sei denn, jemand hätte eine Säule mitgehen lassen wollen. Was an Dokumenten und wichtigen Akten eistierte, lagerte nicht im Palast, längst nicht mehr. Die maedloray, die die Schriften hüteten, waren schon vor Generationen in ein anderes Gebäude in der Nachbarschaft umgezogen.

Aus Tradition, und weil es Lohn dafür gab, taten dennoch zwei Stadtwächter ihren Dienst am Palast, schon jetzt am frühen Tag, viele Gongschläge vor dem regulären ersten Treffen der alten Leute. Der eine war ein schlaksiger Jüngling, der seinen Dienst in erst vor wenigen Monden angetreten hatte. Der andere war ein kräftiger Haudegen, der in all der Zeit schon viel gesehen und mehr Unruhen und Prügeleien in der nächtlichen Unterstadt aufgelöst hatte, als es ihm noch zu zählen wert gewesen wäre. Die beiden saßen im Säulengang auf der Südseite, wo es hell genug war und vertrieben sich die Zeit mit einem Würfelspiel. Auf dem Platz ringsum spendeten einige Bäume Schatten und kleine Wasserspiele plätscherten vor sich hin. Kaum jemand war zu dieser Zeit hier unterwegs. Es war still, friedlich.

Dass eine kleine Gruppe Menschen sich näherte, bemerkten die beiden relativ spät. Es war ungewöhnlich, dass Saháalír zusammen mit der sinora eintraf, und dann noch mit so informellem Gefolge. Die Wächter wischten ihre Würfel unauffällig unter die Sitzbank und nahmen Haltung an.

„Herr”, rief der ältere und eilte Saháalír und der alten Dame entgegen, während deren Diener die beiden Sänften heranführten. „So früh am Morgen? Ist eine Sitzung anberaumt, über die wir nichts wissen?”

„Nein, nur ruhig”, erklärte der sinor und ließ sich von seinen Knechten routiniert aus der Sänfte in seinen Tragestuhl heben. Die Dame konnte selbst aussteigen, bedurfte zwar der stützenden Hand ihrer Mägde, war aber bei weitem noch beweglicher als er. „Wir sind aus privaten Gründen hier.”

„Privat?”

„Wir möchten uns eine Kleinigkeit im Brunnenraum anschauen.”

„Im Brunnen?”, rief der junge Mann verblüfft aus und erntete einen mahnenden Blick des Älteren.

„Wir überlegen, ob wir den Raum einer neuen Nutzung zuführen können”, erklärte die sinora. „Aber wir waren beide seit Ewigkeiten nicht mehr dort unten. Wir möchten uns nur einmal kurz umschauen.”

„Wäre es wohl möglich, dass mich jemand herunterträgt?”, bat Saháalír freundlich und reichte dem Jüngeren einen kleinen Schlüsselbund. Jeder sinor und jede sinora besaß die Schlüssel zu den wenigen Türen, die es im Ratspalast überhaupt gibt. Nicht jeder mochte noch wissen, wozu diese Schlüssel eigentlich noch gut waren.

Kurz darauf waren sie im Brunnenraum versammelt, die Wächter, die sinora und zwei der Knechte, die schwitzend versucht hatten, ihren Herrn in seinem sperrigen Sitzmöbel die zwar kurze, aber enge und steile Treppe hinab zu tragen. Einigermaßen ratlos standen sie nun in dem hellen, trockenen Untergeschoss, wo nur der abgedeckte Brunnen und die Kisten und Körbe zu sehen waren, die Úldaise am Vortag hier hatte einlagern lassen.

„Das ist in Ordnung”, erklärte Saháalír dem älteren Wächter, der darüber nichts wissen konnte. „Das ist die Habe von Úldaise Tiáramalé. Das Zeug ist nur ein paar Tage hier untergestellt, bis der edle Herr einen neuen Lagerraum dafür gefunden hat.”

„Was machen wir hier unten, Herr?”, fragte einer seiner Diener.

„Ich möchte mir den Brunnen näher ansehen.”

Sie trugen ihn bis an die Plattform heran. Die sinora blickte auf die Holzplatten und dann hinauf zur Decke hoch über ihnen.

„Das ist das Zentrum von Aurópéa”, sagte sie ehrfürchtig, „Wie sonderbar. So lange bin ich nun schon hier, aber ich habe mich nie hier hinunter begeben. Auch nicht, als ich noch besser zu Fuß war.”

„Dieser Brunnen hier hat es vor Urzeiten erst ermöglicht, diese Stadt zu errichten, Teuerste. Der Hügel war damals wie ein mit herrlichstem Wasser gefüllter Krug. Es gab wohl in der Tiefe einen Zufluss zur Wüste.”

„Und da hat man den Brunnen gebaut, um es abzuschöpfen?”

„So ist es. Und später wurde der Palast darüber erbaut.”

Die sinora tastete vorsichtig nach der Holzabdeckung. „Ob noch Wasser darinnen ist?”

„Finden wir es doch hinaus.” Saháalír freute sich, der Dame etwas Neues zeigen zu können und winkte den Männern, die Holzplatte zu verrücken. Die Wächter fassten mit an. Dann spähten sie alle in die Tiefe, bis auf den sinor selbst, der nicht aufstehen konnte.

„Kannst du etwas hören?”, fragte die sinora die Magd, die neben ihr stand. „Meine Ohren sind nicht mehr so scharf.”

„Ja, Herrin. Da rauscht es in der Tiefe. Lauter als ein Wasserspiel.”

Sie neigten sich über die Tiefe. Dort unten war es finster.

„Licht”, bat die sinora. „Vielleicht können wir das Wasser dann sehen.”

„Ich besorge rasch eine Laterne”, sagte der junge Wächter eifrig und wollte schon weglaufen, da hielt Saháalír ihn zurück. „Bring noch einen Eimer und einen Krug mit.”

„Was hast du vor, Saháalír?”, fragte die sinora überrascht.

„Ich dachte nur gerade, wo wir schon hier beisammen sind, ließe sich die Gelegenheit nutzen, etwas von diesem uralten Quell der Macht schöpfen.” Er lächelte. „Vielleicht könnten wir bei unserem Treffen eine solche Spezialität unsere lieben Gästen kredenzen. Úldaise ist sicher durstig, wenn er heute abends aus dem Cielástel zurückkehrt.

Sie lächelte verschmitzt und zur Verwirrung der Dienerschaft. Der junge Wächter sauste los. Der ältere neigte sich weit über den Brunnenschacht. „Herr, ich glaube nicht, dass wir mit einem Eimer da heran kommen. Das klingt nicht, als sei es da so tief, dass man etwas herausschöpfen könne.”

„Du hast recht”, stimmte die sinora zu. „Schade.”

„Vielleicht kann jemand in den Brunnen hinabsteigen?”, wandte die Magd ein.

„Zu gefährlich”, entgegnete die sinora. „Das ist es nicht wert.”

„Aber wieso denn?” Der Stadtwächter grinste. „Wie haben das Brunnenseil, und zu dritt können wir doch wohl einen von uns vorsichtig abseilen, um aus dem Bächlein zu schöpfen.”

„Zu dritt?”, fragte einer von Saháalírs Knechten.

Als der junge Stadtwächter mit einer Glaslaterne und einer großen Steingutflasche zurückkehrte, fand er sich vor vollendete Tatsachen gestellt. Die übrigen Männer hatten kurzerhand aus ihren Gürteln ein Geschirr zusammengeschnallt, mit dem sie ihn sicher in den Brunnen hinablassen konnten. Erfreut war der Junge nicht über die ehrenvolle Sondermission, denn der Brunnen war tief und finster. Aber hatte Licht und das Vertrauen, dass man ihn nicht fallen lassen würde. Warum auch? Der sinor wollte Wasser. Und ohne seine Mitwirkung wäre da wohl nichts zu machen.

Außerdem war die hübsche junge Magd der sinora zugegen. Was konnte es wohl schaden, eine fánjula mit Nervenstärke und Tapferkeit zu beeindrucken?

Während der junge Mann sich für seinen Abstieg ausrüsten ließ, unter aufmunternden Worten seines Vorgesetzten und der beiden Männer in Saháalírs Diensten, hatte die sinora begonnen, sich im Brunnenraum umzuschauen. Außer Úldaises Hausrat gab es nicht viel zu entdecken. Der Stadtälteste schaute zu ihr hinüber. Um ihn mit seinem Stuhl zu ihr zu tragen, hatte gerade niemand Zeit.

„Was macht er mit all diesen Büchern?”, fragte sie.

„Er ist sehr belesen und gelehrt”, sagte Saháalír. „Das habt ihr gemeinsam, Teuerste.”

Sie lächelte über seine schmeichlerischen Worte und konnte dann nicht an sich halten. Sie nahm eines der Bücher von einem Stapel herunter, um zu sehen, was es war. Aber der Einband war nicht beschriftet, und als sie es öffnete, dachte sie zuerst, ihre Augen spielten ihr einen Streich. Sie blinzelte, drehte das Buch sogar einmal zur Probe und legte es dann verwirrt zurück. Einen Augenblick zögerte sie. Dann nahm sie ein zweites und ein drittes Buch zur Hand und verfuhr damit auf dieselbe Weise.

Der sinor schaute sich das einen Augenblick an, während der junge Wächter seinen Abstieg in die Tiefe begann, Die Laterne in der einen Hand, die Flasche unter den Arm geklemmt und mit verkrampfter Hand ans Seil geklammert. Die drei anderen Männer ließen ihn vorsichtig in die Tiefe.

„Was ist es, Teuerste? Liest er ungeziemliche Schriften?”, fragte der Stadtälteste amüsiert.

„Wenn es nur das wäre. Aber schau dir das an.” Sie brachte ihm ein viertes und sicherheitshalber ein fünftes Buch, und er zückte seinen Lesestein.

Beide Bücher waren Handschriften, akkurat und sauber ausgeführt von ruhiger, besonnener Hand. Aber die Worte ergaben keinerlei Bedeutung. Es war, als habe jemand nach einem willkürlichen Muster und ohne Sinn und Verstand wahllos Buchstaben und ab und zu mitten im Wort einige Zahlen aneinandergereiht und gruppiert.

„Ist es eine Geheimschrift?”, fragte sie.

„Wahrscheinlich. Aber gleich dieselbe in so vielen Büchern?”

„Das ist wirklich äußerst ungewöhnlich.” Saháalír blätterte weiter. Das ganze Buch war tatsächlich in dieser sonderbaren Weise von Hand geschrieben.

„Herr”, rief einer der Knechte, „er ist unten!”

„Wie ist es da?”

„Hier ist ein Bächlein”, klang die Stimme des jungen Mannes aus der Tiefe. „Ziemlich schnell. Aber nur knöcheltief.”

„Er soll die Flasche füllen”, sagte Saháalír, den das rätselhafte Buch nun viel mehr faszinierte als der Brunnen, wegen dessen sie hergekommen waren. „Und dann bringt ihr ihn wieder hinauf.”

Der Mann in der Tiefe tat wohl, wie ihm geheißen war und schöpfte vom Wasser.

„Hier liegt Zeug herum”, schallte es dann plötzlich verwundert aus dem Brunnen.

„Wie bitte?”

„Da glänzt was. Und da auch. Ich sehe es im Wasser. Bei den Mächten!”

Die sinora kam näher an den Brunnen heran. „Was hast du gefunden?”, rief sie hinab. Ihre leise alte Frauenstimme echote im Brunnenschacht.

„Metall. Es … ihr müsst das mit eigenen Augen sehen.”

„Dann bring es mit hinauf!” Der sinor wandte sich wieder dem Buch zu und wechselte dann einen ratlosen Blick mit der sinora. „Teuerste, würdest du bitte willkürlich in einer der anderen Kisten nachschauen, ob die Bücher darin ähnlich zu uns sprechen?”

Sie nickte und winkte ihre Magd heran, die neugierig über dem Brunnenschacht lehnte. Unten darinnen barg der junge Stadtwächter Wasser und seinen Fund.

Die sinora nahm den kleinen Weidenkorb, der ganz oben auf dem Stapel stand herunter. „Greif bitte zwei Bücher aus der Truhe”, bat sie die junge Dienerin und stutzte im selben Moment. Der Korb war unerwartet leicht, und etwas darin klimperte gläsern.

Die Männer zogen den mutigen Brunnengänger wieder hoch. Einer nahm die gefüllte Flasche entgegen. Der junge Mann ließ sich auf dem gemauerten Rand nieder und förderte unter seinem Hemd zwei metallische Gegenstände hervor, die er im Bach gefunden hatte.

Saháalír ließ sich beides geben und betrachtete es. Dann reichte er den Fund an den älteren Wachsoldaten weiter. „Wie erklärst du dir das?”

Die Männer beäugten das verformte und verbogene Metall. „Das sind Handfesseln, Herr. Aber … das sieht aus, als hätte sich jemand mit gewaltigen Kräften hinaus gewunden.”

„Und das hier? Ist das das, wozu es bestimmt zu sein scheint?”

„Bei den Mächten”, sagte die sinora, indem sie zu den anderen heran trat, ihre Dienerin im Gefolge, die zwei weitere Bücher in unverständlicher Schrift heranbrachte. „Was für ein scheußliches Gerät.”

Saháalír betrachtete das dornenbesetzte Metall von allen Seiten und warf den beiden Stadtwächtern einen fragenden Blick zu. „Lässt sich herausfinden, wer das wo hervorgeholt hat? Meines Wissens hat der Rat von Aurópéa solche Instrumente vor vielen Wintern schon gebannt. Aber sicherlich wird es irgendwo verwaltet.”

„Ich kann den Zeugmeister fragen, was er darüber weiß. Wenn es von hier und offiziell ist.”

„Es ist aus Gold. Mit Sicherheit wurde es nicht anderswo geschaffen. Nimm es und lass dir bestätigen, ob es irgendwo fehlt. Ich erwarte hier deinen Bericht.”

Der Wächter nahm den Knebel an sich. Der junge Mann hatte sich zwischenzeitlich aus dem Geschirr befreit und versuchte, mit ebenso Beifall heischenden wie verlegenem Grinsen die Aufmerksamkeit der Magd zu gewinnen. Die sinora bemerkte es.

„Danke”, sagte sie zu dem Mädchen. „Ich komme allein zurecht. Ich erwarte dich erst am Abend. Geh nur.”

Das junge Mädchen verneigte sich erfreut. Sicher würde sie in der Nähe bleiben, um den jungen Mann im Auge zu behalten.

„Es erklärt in gewisser Weise”, sagte Saháalír und nahm die Flasche an sich, „warum unser báchorkor so unversehens die Sprache verloren hat.”

„Der arme Kerl. Du meinst, jemand hat ihn … hier im Brunnen? Aber wer mag ihm das angetan haben? Und wie sollte er denn von hier in den Garten … das ist doch alles gar nicht möglich.”

„Wie schade, dass wir es nie erfahren werden. Offenbar ist er jemandem gehörig in die Quere gekommen. Wer weiß, was er sich alles hat, zuschulden kommen lassen.”

„Gar nichts”, sagte die sinora leise. „ich wage zu behaupten, dass … jemand … dem Ärmsten übel mitgespielt hat.”

„Ich weiß, was du meinst”, sagte Saháalír mit einem wachsamen Seitenblick auf die Männer, die ihre Gürtel wieder auseinanderknoteten. „Aber hast du Beweise dafür?”

Sie nickte. Dann stellte sie ihm das Körbchen auf den Schoß. Der Stadtälteste runzelte erstaunt die Stirn, öffnete die Klappe und schaute hinein.

Ein fast vollständiger Satz kristallener Figuren für ein kunstvolles Brettspiel lag darin. Figuren, die ihm vor langer, langer Zeit ebenfalls aus der Hand einer wunderbaren Dame überreicht worden waren. Nur ein Magier fehlte.