
Láas stand auf der Treppe, die im Turm von der Ebene hinter dem Hocheingang hinab in den Keller führte und horchte. Der Junge fragte sich, ob es Jándris wohl gelingen würde, Merrit Althopian abzulenken, bis sie sicher sein konnten, dass die teiranday das Gebäude wieder verlassen hatten. Die beiden hatten sich mit dem arglosen Gast vorsorglich schon vor den Majestäten in den Turm begeben, aber zunächst im unteren Bereich aufgehalten, um nicht vor der Zeit entdeckt zu werden.
Láas Grootplen war überrascht gewesen, wie gut das geglückt war. Dieser Merrit Althopian schien, ungeachtet seiner verstörenden Angriffslust, ein recht einfältiger Kerl zu sein. Oder nein … einfältig war nicht das richtige Wort. Der Junge war auf gar keinen Fall ein Dummkopf. Aber dass er ihnen so bereitwillig gefolgt war, um herauszufinden, wie er die teirandanja besänftigen konnte, war leichtsinnig. In Anbetracht dessen und Jándris eine potenziell rachsüchtige Übermacht darstellten, schien der yarlandor von Althopian erschreckend naiv und arglos zu sein. Oder, das war nicht auszuschließen und äußerst beunruhigend, er war sich seiner Unbezwingbarkeit bewusst.
Unsinn. Er ist ein Wiegenkind, sagte Láas Grootplen sich. Er ist vier Sommer jünger als du.
Vor vier Sommern, musste er sich eingestehen, hätte er sich wohl auch geehrt gefühlt, wenn ein älterer Junge sich mit ihm abgegeben hätte. Als er und Jándris vor drei Sommern ihre Eltern einmal zu einem prunkvollen, großen vásposar begleitet hatten, waren ihnen die älteren yarlandoray beeindruckend und großartig vorgekommen. Insbesondere der Sohn von yarl Tjiergroen aus dem teirandon Valvivant hatte ihnen imponiert.
Láas lauschte nach oben. Die Tür, die die Keller von der Treppe trennte, hatten sie halb geöffnet, um das Knarren der hölzernen Treppenstufen oben im Turm und des Geländers nicht zu überhören, sobald Kíaná von Wijdlant und Asgaý von Spagor wieder hinabsteigen. Doch das dauerte nun schon so lange, dass zu befürchten stand, dass der Junge bald endlich wissen wollen würde, warum sie ihn denn nun in den Turm geführt hatten. Verkauft hatten sie ihm das zunächst als eine Besichtigung der spannendsten Teile der Burg. Nachdem er am Vortag doch sicher keine Gelegenheit gehabt hatte, sich an der Stätte seines künftigen Wirkens umzuschauen, würde ihn das Bauwerk, der älteste Teil der Burg, ihr Herzstück, doch bestimmt interessieren, hatten sie ihn gelockt.
Vorerst war Merrit Althopian abgelenkt. An den Gewölbekellern mit den Vorräten und Fässern unter der Burg hatte der Junge wenig Interesse gezeigt. Umso faszinierter war er von dem alten Krempel, der in den ehemaligen Verliesen in der unterirdischen Basis des Turmes lagerte. Jándris hatte seine Burgführung mit einer grausigen und gruseligen Geschichte über die Kerker und die Schicksale der Gefangenen in den Zeiten der Chaoskriege beginnen wollen, gekrönt von den Gerüchten über einen Geheimgang, der zu einem verborgenen Schatz führend sollte.
Dann aber hatte Merrit Althopian in einer der längst aufgegebenen Zellen mit ausgehängter Tür ein Arsenal von ausrangierten, beschädigten und altmodischen Waffen entdeckt. Dort stand er nun mit Jándris im Schein ihrer Laternen schon eine ganze Weile und war entzückt wie ein kleines Kind in einem Raum voller Zuckerwerk.
„Warum liegt das alles hier herum?”, hatte er gefragt und staunend und mit vorsichtigen Fingern uralte Spinnweben zwischen Hellebarden, Piken und Bidenhändern weggestrichen, die in einem wackeligen Gestell seit sicher mehr als hundert Sommern hier vor sich hin rosteten.
„Na ja, das ist alles kaputt und nicht mehr zu gebrauchen. Vielleicht wollten sie irgendwann mal die Eisenteile erneuern. Aber guck mal, hier.” Jándris hatte die Laterne nahe an eine Klinge herangeführt. „Das Ding ist Abfall. Das bekommt kein Schmied mehr hin.”
„Unserer schon”, behauptete Merrit. „Der sagt immer, Eisen altert nicht. Man muss nur wissen, wie es geht.”
„Einen guten Schmied kann man nicht genug wertschätzen. Das sagt mein Vater auch immer. In Altabete haben wir eine Schmiede, da arbeiten drei Meister unter einem Dach, einer aus Ovéstola. Die haben zusammen fünfzig Lehrlinge und Gesellen.”
„Großartig!” Merrit Althopian lauschte begierig Jándris’ stark übertriebener Prahlerei und schaute die ausgemusterten Waffen durch. Eine entdeckte er, die er fast ehrfürchtig aus dem Regal nahm. „Aber der hier ist doch noch gut!”
„Wenn du damit einmal zuschlägst, blendest du den Gegner vielleicht mit einer Wolke aus Rost.”
„Aber nein. Der ist einwandfrei. Muss nur poliert werden.”
Láas entschied sich, seinen Lauschposten vorerst aufzugeben. Er wollte wissen, was der Kleine da so Interessantes gefunden hatte. Zu seinem Erstaunen war es nur ein einhändiger Streitflegel mit einer männerfaustgroßen, dornenbesetzten Eisenkugel an einer Kette. Einige der Stacheln waren zernagt von Rost und abgebrochen. Das altmodische Ding war so schwer, dass Merrit Althopian es zwar beinahe zärtlich in Händen halten, aber keineswegs benutzen können würde. Das war fast niedlich anzuschauen.
„Wenn du willst, nimm es mit. Ich denke, den braucht wirklich keiner mehr.”
„Wirklich?”
„Sicher.” Vielleicht würde ein Geschenk den Jungen noch zutraulicher machen.
„Selbst wenn er in Ordnung wäre, der ist doch noch viel zu schwer für dich. Was willst du damit?”, fragte Jándris kopfschüttelnd.
In die eisfarbenen Augen des Knaben trat ein verträumter Ausdruck, und zwar der eines Fiebertraumes.
„Chaosgeister besiegen”, sagte er geistesabwesend.
Jándris warf Láas einen vielsagenden Blick zu. Kein Zweifel – Merrit Althopian war verrückt.
Ein gedämpftes Geräusch im Hintergrund lenkte sie ab. Die Außentür des Turmes war zugefallen. Der ältere Junge nickte seinem Kameraden zu.
„Um auf die teirandanja zurückzukommen”, begann Jándris, „was hältst du davon, ihr eine große Freude zu bereiten?”
„Das würde sie sicherlich milde stimmen”, setzte Láas hinzu.
„Ich höre”, sagte Merrit sachlich und versuchte, den Streitflegel und die Kette irgendwie an seinem Gürtel zu befestigen.
„Oben hier im Turm”, begann Jándris, eine neue Geschichte zu spinnen, „gibt es ein Gemach, in das wir nicht hineindürfen.”
„Warum denn nicht? Wohnt dort jemand?”
„Nein. Aber die teiranday haben ausdrücklich verboten, dass ein Bewohner dieser Burg dort hinein geht.”
„Bei strenger Strafe”, ergänzte Láas.
„Weißt du, was das bedeutet?”
„Sie werden ihren Grund dafür haben.”
Láas neigte sich vor und flüsterte: „Sie verstecken etwas darin.”
„Vielleicht einen Schatz!”, sagte Jándris.
„Aber hast du nicht gerade gesagt, der Schatz wäre im Geheimgang hier unten?”
„Nicht dieser Schatz.” Jándris winkte ab. „Denkst du, in der Burg eines teirandon gibt es nur einen Schatz?”
„Und was hat das mit der teirandanja zu tun?”
„Nun … die teirandanja liegt uns schon seit ewig in den Ohren damit, sie wisse zu gern, was sich in diesem verbotenen Zimmer verbirgt.”
Das war nicht einmal gelogen. Bei irgendeiner Gelegenheit hatte Manjév bei einem ihrer geheimen nächtlichen Treffen mit Konfekt und Schauergeschichten tatsächlich erwähnt, das sie sich fragte, was es mit der verschlossenen Tür auf sich hatte. Manjév hatte natürlich die Eltern danach gefragt, aber nur ausweichende Antworten erhalten. Kíaná von Wijdlant hatte etwas von einem morschen Fußboden vorgeschoben, von Sicherheit und dass es dort oben nichts zu sehen gebe.
„Es muss nicht unbedingt ein Schatz sein”, fuhr Jándris fort. „Vielleicht ist da auch was ganz anderes drin. Weißt du … ich hab mal gehört, dass die Leute früher Häuser, in denen ein Mord geschehen ist, niedergerissen haben. Weil sie glaubten, dass sonst Unrecht einen Ort verseucht.”
„Das habe ich auch mal gelesen”, stimmte Merrit zu. „Das ist ein Abenteuer des Smaragdritters. Der findet im Wald ein niedergebranntes Häuschen, und …”
„Du liest Bücher für Damen?”, unterbrach Jándris ihn grinsend. Der jüngere Knabe errötete und nestelte geschäftig an seinem Streitflegel weiter.
„Na, jedenfalls können sie ja schlecht eine einzelne Kammer oben aus dem Turm herausschlagen. Deswegen haben sie das Zimmer einfach verboten und sagen es nicht offen, weil sie der teirandanja keine Angst machen wollen.”
„Und nun?”
„Du schaust nach.”
Merrit Althopian ließ die Hände sinken.
„Die teiranday werden das nicht zu schätzen wissen”, sagte er. “Ich habe schon gegen genug Regeln verstoßen.”
„Sie brauchen es gar nicht zu erfahren. Du tust es ja nur für Manj… für die teirandanja.”
„Und außerdem musst du ihnen nicht sagen, dass wir dich auf diese Idee gebracht haben. Ich meine … woher hättest du das wissen sollen?”
„Du bist auf der Flucht vor deinem Vater ganz zufällig in das Gemach geraten.”
„Aber …”
„Und außerdem”, trumpfte Láas auf, „bist du kein Bewohner dieser Burg. Sie können dich dafür also nicht bestrafen.”
„Noch nicht. Sobald du einmal hier deinen Hofdienst beginnst, ist die Chance vorbei.”
Merrit runzelte die Stirn. „Ich verstehe immer noch nicht ganz, was ich machen soll.”
„Ganz einfach. Du gehst in das Zimmer uns schaust nach, was es da zu sehen gibt. Wenn du einen Schatz finden solltest, nimmst du was davon und bringst es der teirandanja.”
„Ich soll stehlen? Das kommt gar nicht in Frage!”
„Das ist kein Diebstahl. Der Schatz gehört doch den teiranday sowieso.”
„Und wenn da kein Schatz ist, sondern … na ja … vielleicht doch ein Ermordeter da herumliegt?”
„Keine Ahnung. Dann bringst du einen Knochen, oder wenn da noch ein blutiger Dolch ist…”
„Du nimmst einfach irgendwas aus dem Zimmer heraus, das interessant aussieht”, schaltete Láas sich ungeduldig ein. „Du bringst es der teirandanja als Beweis und erzählt ihr, was du gefunden hast.”
„Und wenn das Zimmer leer ist?”
„Hast du etwa Angst?”
„Möglicherweise haben sie da oben ja auch einen geheimen Gefangenen. Einen verrückten Verwandten der teiranda, oder es wohnt ein Chaosgeist da drin, und …”
„Ihr verlangt also, dass ich vor der teirandanja eine Mutprobe ablege. “
„Nun ja. Gewissermaßen.”
„Wir könnten uns denken, die teirandanja wäre die sicher … zugeneigter, wenn sie wüsste, dass du mindestens so furchtlos und tapfer bist wie dein Vater.”
Merrit Althopian schien ernsthaft nachzudenken. Láas sah Jándris aufmunternd grinsen. Sie hatten den Kleinen an der Angel!
„Oben hier im Turm, ja?”
„Eine Stiege führt durch eine Luke nach ganz oben. Da ist ein Treppenabsatz mit einer Tür. Dahinter ist das Gemach. Direkt unter dem Dach.”
Merrit Althopian überlegte noch einen kurzen Moment. Dann nahm er seine Laterne vom Regal und schritt entschlossen und ohne ein weiteres Wort an Láas und Jándris vorbei, heraus aus dem Verlies und die Treppe hinauf.
„Das war einfach”, murmelte Láas verblüfft. Jándris griff nach einer zerbrochenen Turnierlanze, die wohl irgendein Ritter vergangener Zeiten aus sentimentalen Gründen aufbewahrt hatte und gab ihm eine Hälfte.
„Nur für den Fall, dass er es sich anders überlegt.” Dann besann er sich und nahm noch einen Schild dazu, von dem die Farbe schon so abgeblättert war, dass das Wappen darauf nicht mehr zu erkennen war.
„Immerhin”, erklärte er mit gedämpfter Stimme, „ist das Wiegenkind jetzt wieder bewaffnet!”
***
Cýelú zuckte schmerzhaft zusammen, verkniff sich aber einen Laut.
„Oh weh. Das gibt bestimmt eine Beule”, sagte Dýamirée ernst und tupfte seine Schläfe mit dem Saum ihres Röckchens, den sie sorgsam mit Tümpelwasser getränkt hatte.
Er schaute sich um. Ein paar Schritte entfernt zupfte Perlenglanz am mageren Gras, als sei nichts geschehen.
„Warum hast du das getan, Kind?”, fragte er matt.
„Ich wollte weglaufen.” Sie tupfte vorsichtig weiter.
Er ächzte und richtete sich wieder auf. „Und wieso bist du noch hier?”
Sie setzte sich auf die Fersen und schaute auf ihre Knie hinab.
„Du hättest deine Chance gehabt”, sagte er. „Mit etwas Pech hätte mein eigenes Ross mich totgetreten.”
„Das wollte ich aber nicht.”
„Kind!” Er berührte sie sachte an der Schulter. Dass sie unter seinem Handschuh nicht einmal zuckte, bestätigte ihm erneut, dass sie unmagisch und schwach war. Aber, bei den Mächten, was für ein Mut! Was für eine Willenskraft! Was für ein reines Herz. Nie durfte ein Schattensänger an solche Unschuld rühren!
„Und wenn er nun auf dich getreten wäre?”
„Dann hätte er das sicher nicht absichtlich gemacht.”
„Trotzdem wärst du dann hinter den Träumen.”
Er legte seinen Finger sacht unter ihr Kinn. Sie sollte ihn anschauen. Ihr Blick ähnelte dem von Advon, abgesehen von der Augenfarbe, die seinen blau wie der klare Himmel, ihre grün wie das dichte Laub eines kühlen Waldes.
„Was du gerade getan hast”, sagte er, „hätte nicht einmal mein Sohn gewagt. Versprich mir, dass du nie, niemals wieder allein auf ein Einhorn kletterst.”
„Ich wollte …”
„Versprich es mir!”
Sie nickte. „Versprochen.”
Er konnte nicht anders, zog sie an sich und schloss sie dankbar in seine Arme. Sie ließ es verwundert geschehen.
„Ich wünschte”, sagte er leise, „ich müsste all das nicht tun. Aber ich habe keine Wahl.”
„Warum nicht?”, fragte sie. „Hast du denn keinen Willen über dich selbst?”
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Nicht in dieser Sache.”
„Dann erklär mir doch wenigstens, warum nicht.”
„Das kann ich nicht, Kleines. Es … wäre nicht gut, wenn du es wüsstest. Es würde dich in Gefahr bringen.”
„Du hast Angst”, stellte sie fest, und als er nicht antwortete, fügte sie hinzu: „Es ist nicht schlimm, Angst zu haben. Meine Mama sagt immer, nur Dummköpfe hätten keine Angst.”
„Deine Mama ist eine kluge Frau.” Er ließ sie los und erhob sich. Mit einem so dezenten Zauber, dass sie es zunächst gar nicht zu bemerken schien, trocknete er seine und ihre Kleidung. Dann ging er hinüber zu seinem Einhorn und untersuchte Beine und Flügel. Perlenglanz schien sich bei der wilden Jagd nicht verletzt zu haben.
Dýamirée blieb am Boden sitzen und beobachtete ihn nachdenklich.
„Kann ich dich was fragen?”, meldete sie sich schließlich.
„Natürlich. Ich kann dir nur nicht versprechen, dass ich dir antworten kann oder darf.”
Sie stand auf und kam näher heran. „Wenn mein Papa an deiner Stelle wäre – glaubst du, er hätte dasselbe getan wie du? Ich meine … ist es so schlimm, dass er deinen Sohn gestohlen hätte, um es abzuwenden?”
Er zögerte einen Moment. „Ja. Ich glaube, das hätte er.”
„Du bist der Großmeister der Regenbogenritter. Was ist so mächtig, dass du Angst hast?”
„Dasselbe, was selbst dein Vater fürchten müsste, wenn er nicht selbst damit im Bunde ist.”
„Mein Papa ist mit gar nichts im Bunde”, murmelte Dýamirée zornig, aber das klang ihm, als wüsste sie gar nicht so recht, was das bedeutete.
„Das werden wir sehen, Kind.”
„Versprichst du mir auch was?”
„Nein.” Er versuchte ein Lächeln, aber sein Kopf schmerzte. Er versuchte, es wegzuzaubern und zu lindern, aber das gelang ihm nicht gänzlich. Das Mädchen lenkte ihn zu sehr ab. „Ich werde mich hüten. Aber”, fügte er hinzu, „du darfst mich um etwas bitten. Du hast mich beschützen wollen. Ich stehe in deiner Schuld.”
„Wenn es soweit ist”, sagte sie bedacht, „bitte tue meinem Papa nichts an. Nicht wie dem armen mutigen Ritter, dem mit dem kleinen Mädchen und der lieben hýardora.”
Sein Herz krampfte sich zusammen. Sie war also immer noch nicht darüber hinweg. Genügte es denn nicht, dass er mit dieser Schuld heimkehren musste?
„Wenn er mir keinen Anlass dazu bietet”, sagte er vorsichtig, „werde ich nicht den ersten Angriff tun. Das verspreche ich dir, Aber du musst mit mir kommen.”
„Versprochen”, sagte sie.
„Dann lass uns jetzt noch einen Augenblick ruhen. Sobald Pataghíu sich offenbart, fliegen wir weiter. Schlaf eine Weile, Kleines.”
„Passt du auf mich auf?”
„Du wirst mir nicht weglaufen”, scherzte er. „Ich habe meinen Willen wieder auf dir.”
„Nein, das meine ich nicht. Vorhin im Wasser … ich hab um Hilfe gerufen, nicht wahr?”
„Ja, das hast du.”
„Ich hab nicht gerufen, weil ich dich überlisten wollte”, erklärte sie. „Ich meine, natürlich wollte ich das, aber Mama sagt, man darf nie um Hilfe rufen, wenn man es nicht meint, sonst endet es wie bei dem Gänsehirten, als der wilde Waldbär dann doch plötzlich da war. Da war wirklich etwas im Wasser.”
Cýelú schaute auf den Tümpel, in dem das Wasser nun wieder still und gerade brusthoch stand. Die Wasservögel waren wieder zurückgekehrt. „Etwas?”
Sie nickte. „Etwas. Es hat mich gepackt.”
Vermutlich hatte sie sich im Teichtang verheddert. Aber etwas an ihrer Ernsthaftigkeit ließ ihn ein klein wenig daran zweifeln.
„Ich passe gut auf dich auf”, versprach er. „Niemand und nichts greift dich an, wenn ich bei dir bin, in Pataghíus Namen.”
***
Kaum hatte die opayra das Benimmbuch zugeklappt und die teirandanja entlassen, sauste Manjév bereits äußerst unmajestätisch aus dem Zimmer, den Gang entlang und die Treppe hinab, die zur Galerie führte. Unten im Saal hatte schon ein guter Teil der Burgbewohner Platz an gedeckten Tischen genommen. Es duftete nach dem guten Kohl und einer Suppe mit Pilzen und viel frischem Brot.
Láas und Jándris waren nicht zu sehen. Die Plätze, an denen sie gestern noch gesessen hatten, waren verwaist. Dafür waren am Tisch an der Stirnseite nun ein paar Stühle mehr vorhanden. Yarl Altabete und yarl Grootplen standen, wie es Sitte war, geduldig hinter ihren Stühlen. Sie schienen auf ihre Söhne zu warten. Yarl Althopian, der seinen Platz auf der anderen Seite neben seinem Herrn hatte, wirkte müde und ergeben. Sein Sohn war ebenfalls nirgends zu sehen. Bevor die teiranday nicht anwesend waren und es gestatteten, durfte sich keiner der Herren niederlassen.
Manjév schauderte.
Der andere Junge, der Sohn von yarl Emberbey, war bei seinem Vater und schien sich sehr artig mit Tíjnjes Mutter zu unterhalten. Das kleine Mädchen stand an deren Hand daneben und blickte zutraulich zu ihm auf. Immerhin das war ein gutes Zeichen. Tìjnje schien den ungelenken, hageren yarlandor zu mögen, der sie, Manjév, am Vortag in diese peinliche Situation gebracht hatte..
Manjév duckte sich und huschte im Schutz der Banner auf dieser Seite der Galerie an die entgegensetzte Stirnseite. Mit etwas Glück konnte sie den Nebentreppe hinab huschen und die Halle verlassen, um die beiden Jungen zu suchen. Das gelang ihr sogar, ohne dass ihr jemand begegnete, Aber kurz bevor sie die Tür erreichte, kam ihr von draußen ein Mann entgegen.
„Manjév?”, fragte Asgaý von Spagor. Er wirkte geistesabwesend, aber der Anblick der Tochter schien ihn wieder in die Wirklichkeit zurückzuholen. „Wo willst du hin?”
„Raus”, sagte sie ehrlich. „Nur ganz kurz, Papa.”
„Es ist Essenszeit, Manjév”, mahnte die Mutter, die ihm auf dem Fuß gefolgt war. „Du kannst jetzt nicht hinaus.”
„Aber Láas und Jándris sind auch noch nicht da!”
„Dann verspäten sie sich wohl noch ein wenig”, sagte Kíaná von Wijdlant freundlich und legte der Tochter die Hand auf die Schulter. „Komm. Sicher sind die Leute hungrig. Willst du Gäste und Gesinde warten lassen?”
Manjév schaute zu ihr auf. Wie ernst und nachdenklich die Mutter wirkte! Was war geschehen?
„Aber …”
„Manjév”, mahnte der teirand, „bitte sei ein braves Kind und mach uns vor den Herren keinen Kummer.”
„Nein, Papa …”
„Und sei achtsam, wenn du mit yarl Althopian sprichst. Sein Sohn versteckt sich offenbar immer noch, weil er sich in Schande glaubt. Hast du dich bei ihm eigentlich schon für das schöne Pferd bedankt?”
„Pferd? Ach ja … nein.”
„Mach das nachher bitte. Er sagt, sein Sohn hat es eigens für dich ausgesucht.”
Manjév seufzte, aber Widerstand war nicht statthaft. Sie konnte unmöglich vor all den Leuten trotzig sein. Es genügte, wenn die Jungen gegen die Ordnung verstießen.
Ergeben begleitete sie die Eltern, begrüßte die Herren und ließ sich an der Seite ihres Vaters nieder. Das war auch das Zeichen für die Gäste, ihre Plätze einzunehmen.
Manjév wandte den Blick nicht von der Tür an der Fußseite des Saales ab. Wenn Láas und Jándris sich verspäteten, würden sie den Eingang dort nehmen.
Die Mutter sprach die rituellen Worte, dankte den Mächten dafür, dass sie genug Speise für jeden unter dem Dach der Burg hatten und eröffnete die Mahlzeit. Der Brotkorb wurde herumgereicht. Manjév bediente sich, ohne richtig hinzuschauen, gab ihn zu ihrer Linken weiter und zuckte zusammen. Es war nicht, wie gewohnt, Tíjnje, die zugriff.
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