
„Willst du uns nicht etwas erzählen, báchorkor?”
„Ja, lass was hören! Du bekommst so schnell kein großes Publikum mehr!”
„Gar kein Publikum bekommt er!”
„He, wir warten! Wir wollen eine Geschichte!”
Was darf es denn sein, dachte Galéon müde. Die Geschichte von den neunmalklugen Narren, die sich besser um ihren eigenen Dreck kümmern sollten?
„He!” Einer der Stadtwächter, der Aufsicht hielt, wie Úldaise es angewiesen hatte, hob mahnend die Stimme. „Leute! Der ist stumm! Lasst den in Ruhe! Der erzählt sowieso niemandem mehr was!”
„So”, sagte einer der Männer, die sich zur Abendunterhaltung gemacht hatten, den kürzlich eingetroffenen Verbrecher zu verhöhnen. „Mal was ganz Neues, was? Ein stummer báchorkor.”
„Wohl eher was ganz Exklusives”, lästerte ein anderer. „Wahrscheinlich für die Alten oben in der Stadt.”
„Wie kommst du darauf?”
„Na, die sind doch ohnehin alle taub!”
Der angeheiterte Mann grinste in die Runde, als habe er den großartigsten Witz aller Zeiten gemacht. Die schon wesentlich Betrunkeneren grölten, als sei das tatsächlich der Fall. Galéon seufzte und richtete die Augen müde gen Himmel. Der war nun tiefschwarz, der Mond weitergezogen. Noktáma zeigte ihre Anwesenheit nun mit glänzenden Gestirnen. Der Gong von den Mauern kündigte von der Mitte der Nacht. Vor kurzem noch hatte er vor einer solchen Zelle gesessen und jemanden mit einer Geschichte getröstet, der tatsächlich Unrecht getan hatte. Wie schnell wechselte das Schicksal in dieser wahnsinnigen, doppelgesichtigen Stadt die Seiten!
„Gebt acht!”, mahnte der Wächter. „Keine frechen Worte über die sinoray!”
„’tschuldigung”, beschwichtigte der Spaßvogel. „Kommt nicht wieder vor!”
Aber der Wächter war gar nicht weiter interessiert. Er saß auf einer der Bänke, die zu einer der Schankstuben am westlichen Markt gehörte und hatte, obwohl er das eigentlich nicht durfte, einen kleinen Krug mit verdünntem Bier vor sich. Nach dem Ende seiner Dienstzeit würde er zu stärkeren Getränken übergehen. Im Augenblick hatte er nicht anderes zu tun als darauf zu achten, dass niemand von dem übermütigen Nachtvolk es zu weit trieb und den Gefangenen verletzte. Verspotten durften sie ihn, solange sie ihnen danach war.
„Was haste denn angestellt, báchorkor?”, mischte sich eine der frivolen fánjulaé ein, die sich zu dem Grüppchen vor der Zelle gesellt hatte. „Hast du wen totgelangweilt mit einer Geschichte?”
„Oder nicht aufgepasst, wem du was erzählt hast? Hab mal gehört, da hat eine báchorkor eine heiße Geschichte vorgetragen, von einem brünstigen Weibsbild, das reihenweise Kerle rumkriegte. Mit allen Details! Stellte sich heraus, das war eine wahre Geschichte über die hýardora von dem, für den er erzählt hat! Vor dessen Freunden. Da haben sich einige erkannt!”
Das löste eine Welle der lüsternen Erheiterung unter den Umstehenden aus. Dass das Nachtvolk von Aurópéa Zotiges und Zweideutiges aller Art schätzte, hatte Galéon gewusst, und natürlich hatte er auch Sinnliches in seinem Repertoire. Von der Geschichte jenes unglücklichen báchorkor hatte er einst selbst gehört, wenn auch die Zeit den Rahmen der tatsächlichen Ereignisse verzerrt hatte. Seine aufgebrachten Zuhörer hatten dem armen Kerl seine Geschichte in einer Weise entgolten, die die anderen báchorkoray umgehend zu einer eigenen, viel nachgefragten Erzählung ausgeschmückt hatten. Man sollte meinen, Menschen gierten nach Gräueln, solange es sie selbst nicht betraf.
Galéon schloss die Augen. Es hatte ihm in all der Zeit kaum etwas ausgemacht, sich unter dem zügellosen Volk zu bewegen, zu dem ein Großteil der Einwohner Aurópéas in der Nacht mutierte. Inmitten der Masse hatte er die Kontrolle gehabt, konnte beobachten, urteilen und wenn er es geschickt anstellte, kommen und gehen, wie es ihm gefiel. Nun aber, war er zugleich ausgeschlossen und ihnen ausgeliefert. Er konnte sich nicht einmal abwenden und versuchen, sie zu ignorieren. Úldaises Knechte waren auf den überraschend effektiven Gedanken gekommen, ihn mithilfe der kostbaren Zügel an Handgelenken und Knien so an das Gitter zu binden, dass er den Passanten Auge in Auge gegenüberstand. So hatte der Wachmann ihn im Blick und konnte bequem von seiner Bank aus aufpassen, während der eine Knecht, der Nervöse, dem sinor sein Ross zurückbrachte und der andere losgezogen war, um sich irgendwo eine neue Hose zu besorgen. Auf dem Weg hierher hatten sie von einer Wäscheleine in einem Garten ein Bettlaken gestohlen, das der Muskelmann als Wickelrock zweckentfremdet hatte. Es hatte bei ihrem Einzug in die Stadt eine Menge höhnischer Blicke gegeben, aber niemand hatte gewagt, über diesen Aufzug zu lachen. Seit kurzer Zeit war der Knecht nun wieder da, ordentlich angezogen und versuchte, mit einem scharfen Getränk die letzten Nachwirkungen der Kuchenorgie zu lindern. Schade. Zu gerne hätte Galéon diese ganze peinliche Geschichte, humorvoll aufbereitet, einmal einer heiteren Gesellschaft zum Besten gegeben, vorzugsweise weit nördlich des Montazíel.
„Hat dem sinor Saháalír wertvolle Sachen geklaut”, rief der frisch Eingekleidete zu der Lästerbande hinüber. „Und den Garten von sinor Úldaise abgefackelt. Das waren nämlich bestimmt nicht w… niemand anderes als er!”
Nun ging ein halb anerkennendes, halb ungläubiges Raunen durch die Reihen der Spötter. Gegen Saháalír, den senilen Greis hatten sie nichts, aber was Úldaise schadete, das gefiel ihnen. Von dem Feuer draußen in den Hügeln hatten einige flüchtig gehört, denn natürlich war es von den Stadtmauern aus zu sehen gewesen. Aber in der Nacht, in der Zügellosigkeit, kümmerte ein Unglück jenseits der Stadt kaum.
„Geschieht ihm recht, dem Úldaise”, murmelte eine Frau, die noch nüchtern zu sein schien und deren Anwesenheit inmitten der Nachtschwärmer etwas fehl am Platz erschien. Sie sprach allerdings so leise, dass der Wachmann am Tisch es nicht mitbekam.
„Also, wenn das wahr ist”, sagte der erste mit schwerer Zunge zu Galéon, „dann biste dran.”
„Aber warum denn?”, rief jemand zu Úldaises Knecht hinüber. „Warum hat er den Garten angezündet?”
„Weil …” Der Mann stutzte. Wahrscheinlich war ihm bewusst, dass er nicht allzu viel erzählen durfte. „Weil das einfach ein übler Dreckskerl ist!”
„Warum hast du das gemacht?”, wandte sich nun ein weiterer Schaulustiger, ein älterer Mann mit einer Lederkappe auf seinem Glatzkopf direkt an Galéon. Irgendetwas hatte er wohl an Rauschzeug in den Adern, denn seine Augen waren glasig und die Lider zuckten. „Dem Úldaise den Garten abbrennen, dem Dreckskerl?”
Galéon zuckte die Schultern, soweit er es in den Fesseln konnte. Er würde sich hüten, auch nur zu versuchen zu sprechen. Sie mussten nicht noch mehr Stoff für ihren Spott bekommen.
„Still”, zischte die Nüchterne. „Wer weiß, wer zuhört!”
„Wahr ist das! Ohne den Tattergreis ging’s uns allen gut!”
Nun zischten ihn noch andere nieder, sodass der Wachmann misstrauisch aufschaute.
„Kommste in die Wüste für, báchorkor“, lenkte jemand die Aufmerksamkeit wieder auf ihn. „Wird wohl auch ein heißer Tag, morgen.”
„Kann er noch von Glück sagen”, sagte jemand im Hintergrund. „Früher sind sie hier mit Brandstiftern nicht so zimperlich gewesen!”
„Schade um so einen Hübschen”, kam es von der aufreizend gekleideten fánjula. „Hätte dir wohl was geboten für eine feine Geschichte.”
„Ich kann dir wohl auch was erzählen”, meldete sich einer weiter hinten aus der Menge.
Sie schnaubte abfällig, trat vor Galéon hin und zupfte ihr Leibchen so gekonnt zurecht, dass sie einen Blick auf ihre Reize gewährte. Der männliche Teil der Umstehenden johlte anzüglich. Galéon schaute peinlich berührt zur Seite und beobachtete bei dieser Gelegenheit, wie ein Geldbeutel unauffällig seinen Besitzer wechselte. Der Taschendieb stellte es so an, dass der nahebei sitzende Wächter es nicht bemerkte. Vielleicht interessierte es ihn auch nicht. Schließlich war dies nicht sein Auftrag.
„Gefalle ich dir etwa nicht? Jetzt bin ich aber beleidigt!”, kicherte die fánjula, die sich um Nachfrage in dieser Nacht wohl nicht sorgen musste.
„Vielleicht ist ihm nicht nach Weibsbildern!”, mutmaßte der im Hintergrund.
„Ist das wahr, Hübscher? Oder bist du außerstande?”
Das regte die Phantasie des Pöbels in geradezu unnötiger Weise an. Nun beschäftigten die Leute mehr oder weniger laut ausgesprochene Überlegungen über Dinge, den mit seinen angeblichen Untaten rein gar nichts mehr zu tun hatten und in wilde Richtungen über Galéons Mannbarkeit spekulierten.
Der, der seinen Zorn auf Úldaise so unverblümt ausgesprochen hatte, griff plötzlich durch das Gitter und zog Galéon so fest an sich, dass der wieder mit der Stirn gegen die Stangen prallte. Die Platzwunde, die Úldaises Tritt ihm beigebracht hatte, begann erneut zu bluten.
„Hättest sein dreckiges Rattenloch anzünden sollen”, wisperte er. „Idiot! Hättest der Stadt einen Dienst getan!”
„He!” Úldaises Knecht eilte herbei. „Macht den nicht kaputt! Der ist für die Wüste!”
Er erntete einen argwöhnischen Blick dafür. „Du arbeitest für den Alten, nicht wahr?”
„Klar. Was dagegen?”
Der Berauschte schien kurz zu überlegen. Einen Lidschlag später blutete auch die Nase des Knechtes. Fassungslos tat der einen Schritt zurück und tastete dorthin, wo ihn der Fausthieb getroffen hatte. Dann zerschmetterte er seine halbleere Schnapsflasche auf dem Haupt des Angreifers. Zum Glück milderte dessen Kappe die Wucht des Schlages.
Die fánjula kreischte schrill auf. Die nüchterne Frau beeilte sich, aus dem Gedränge fortzukommen, denn wie eine Welle von einem Dammbruch brach vor der Zelle binnen Lidschlägen eine Schlägerei aus.
Der Wachmann sprang auf die Füße, packte seine Pike und wollte wohl dazwischen gehen, aber schon rannten rauflustige, vom Alkohol aufgestachelte Männer von den umliegenden Etablissements hinzu, um mitzumischen, ohne zu wissen, was eigentlich der Anlass der Sache war. Der Stadtwächter war klug genug, die Übermacht gewähren zu lassen Die teilte sich bald auf in einen prügelnden Pulk, der Tisch, Bänke und irdenes Zeug mit einbezog, und eine umstehende Meute von die Kämpfenden anfeuernden Zuschauern, in der der Taschendieb reiche Beute machte. Der Wachmann lief davon, wohl um Verstärkung zu holen.
Galéon seufzte und ließ den Kopf hängen.
„Schau sie dir an”, sagte jemand angewidert neben ihm. „Ist es nicht eine würdelose Schande?”
Der báchorkor blickte auf. Der, der da zu ihm sprach, hatte eine ruhige, kultivierte Stimme, eine, die er nur allzu gut kannte. Der Mann war älter als damals, als er ihm von Angesicht zu Angesicht begegnet war. Aber er erkannte ihn, ohne jeden Zweifel. Die Schlägerei tobte um ihn herum, Faustschläge, Tritte und Kopfstöße verfehlten ihn um Haaresbreite. Er stand ruhig, an das Gitter gelehnt, die Arme verschränkt und schüttelte den Kopf über die Leute.
Warum kann ich dich sehen?, fragte Galéon stumm. Ich träume doch nicht!
„Woher willst du das wissen?”
Meine Stirn schmerzt ganz entsetzlich!
Der Mann lächelte amüsiert. Seine Gewänder waren so schlicht wie elegant und hatten die Farbe von frischem Herzblut. Aber sein Interesse galt eher den wildgewordenen Menschen denn dem báchorkor hinter den Gittern.
Bist du gekommen, um mich hinter die Träume zu holen? Wird mich hier gleich jemand versehentlich oder mutwillig umbringen?, fragte Galéon hoffnungsvoll.
„Nein. Sie werden dich wie geplant in die Wüste bringen und dort deinem Schicksal überlassen. Und um deiner nächsten Frage vorzugreifen: Ich kann und werde nichts tun, um sie daran zu hindern.” Er schaute mit freundlicher Anteilnahme zu Galéon hin. Es schien ihn auch niemand hören zu können. „Ich habe keine Macht und Befugnis mehr in dieser Ebene des Weltenspiels.”
Und was machst du dann hier und jetzt? Und – wieso sehe ich dich? Bist du ein Gespenst?
„Nein. Es gibt keine Gespenster. Was ich bin, wirst du zur passenden Zeit erfahren. Für den Moment bin ich ein interessierter Beobachter. Und meine Gestalt … nun. Gewohnheit. Es ist für einen Menschenverstand angenehmer, unseresgleichen so zu erblicken.” Er strich sich gedankenverloren über seinen grauroten Bart und wandte sich dem jungen Mann nun doch wieder ganz zu. Der prügelnde Pulk schien ihn weder zu bemerken noch antasten zu können. Marmorgraue Augen musterten Galéon.
Ich hätte nicht erwartet, dich sehen zu können. Ich habe dich bisher immer nur … gespürt.
„Da hast viel gelernt, seit sie dich in den Brunnen geworfen haben. Du siehst mich beeindruckt.”
Weit bin ich nicht gekommen.
„Du hast es bis hierher sehr gut gemacht. Leider hast du Spuren hinterlassen. Aber das mag kaum noch ins Gewicht fallen, vielleicht sogar nützen.”
Wie denn? Die ganze Flucht war umsonst! Ich habe mich wieder erwischen lassen! Und nun bin ich hier gefangen!
„Das bist du in der Tat. Aus diesen Fesseln entweichst du nicht. Beachtlich, dass ein alter unkundiger Greis die Magie kennt, die die arcaval’ay in ihr Lederzeug weben, findest du nicht auch?”
Ich habe versagt. Ich habe diesen Mann, den du mir zu suchen aufgetragen hast, noch nicht gefunden.
„Ich habe dir dafür keine begrenzte Zeit gegeben.”
Meine Zeit ist spätestens in einem halben Tag vorbei. Diese entsetzlichen … Dinger … sie werden mich umbringen!
„Ich denke nicht, dass diese ‚Dinger’ das zuwege bringen werden.”
Und was geschieht stattdessen mit mir?
„Ich weiß nicht. Vielleicht etwas wesentlich unangenehmeres. Wir werden es sehen.”
Galéon runzelte die Stirn. Das tat weh. Blut rann ihm ins Auge. Das Traumphantom, das nun offen und plastisch vor ihm stand, sah nun sehr ernst aus.
Was geschieht in der Wüste?, wisperte Galéon im Geist. Ich weiß, dass da etwas gegen die Mächte im Gange ist!
„Das wirst und musst du selbst sehen. Und diesmal durch deine eigenen Augen. Keine Spielereien mehr mit unzulänglichen Unkundigen. Das hast du nicht mehr nötig.”
Neue Rufe mischten sich in das Kampfgetöse, Metall klimperte. Ein Trupp von einem halbdutzend Wachleuten hastete heran, um die Lage auf dem Westmarkt wieder unter Kontrolle zu bringen. Das Traumphantom ignorierte sie.
Diese ganze Plackerei, der enge Tunnel, der steile Fels, die Hetzjagd… alles war fruchtlos.
„Nein. Es war nötig, dass du diesen Weg hinter dich bringst. Es war nötig, dass du Dinge siehst, um davon berichten zu können und später eine wirklich interessante Geschichte daraus zu machen.”
Galéon zuckte zusammen. Direkt neben ihm wurde ein Körper gegen das Gitter geschleudert, sackte zusammen, rappelte sich auf und stürzte sich erneut in den Kampf. Der Rotgewandete schaute ihm zerstreut nach.
Dinge? Das Zeug, das ich in der Höhle gefunden habe?
„Rede nicht zu den falschen Leuten darüber, sobald deine Zunge wieder ihren Dienst tut.”
Meine Zunge ist nicht mehr zu gebrauchen! Wenn ich nur nicht ..
„… dann hätte dieser seltsame Kerl sie dir längst ganz ausgeschnitten, bevor dich andere, mächtige Leute zum Sprechen bringen. So gesehen hast du großes Glück gehabt.”
Galéon dachte nach. Damit mochte das Traumphantom Recht haben.
Ich würde gern verstehen, was es mit alldem auf sich hat. Ich habe so viel falsch gemacht.
„Nein. Die Fehler liegen allein bei mir. Einst hätte ich die Zeichen, die mir die Mächte gaben, bedenken und nach ihnen handeln sollen. Ich hätte die Verantwortung und Pflicht nicht aus Eigennutz ablehnen und falschen Träumen nachhängen sollen. Ich hätte dich damals mit mir nehmen und dich in unserer Kunst unterweisen sollen, nicht nur dein Leben bewahren und dich dann deinem Schicksal überlassen. Das war eigensüchtige Dummheit.”
Du hattest wahrscheinlich keine Wahl, damals.
Das Traumphantom nickte nachdenklich. „Ich hatte keine Zeit für dich, damals. Hätte ich mir die Zeit genommen … Es wäre vielleicht so viel Leid erspart geblieben. Wer weiß?”
Die Autorität der Stadtwächter und ihre spitzen Stangenwaffen zeigten Wirkung. Die Schlägerei begann, sich aufzulösen. Die Umstehenden zogen sich in großen Teilen unauffällig in die Tavernen zurück.
Ich habe Angst, sagte Galéon.
„Es wäre idiotisch, keine Angst zu haben. Aber unseresgleichen erlangt keine Meisterschaft ohne Angst und Prüfungen. Du schlägst dich ausgezeichnet. Aber du bist noch nicht am Ende.”
Wirst du bei mir sein, wenn … wenn es geschieht?
„Selbstverständlich.”
Wirst du mir beistehen?
„Nein.”
Galéon schaute den Rotgewandeten fassungslos an. Dann traf den báchorkor ein heftiger Stoß vor die Brust. Erschrocken riss er die Augen auf.
„He!”, raunzte ihn einer der Stadtwächter, offenbar der ranghöchste der Gruppe ihn an. „Hast du das angezettelt?”
„Der ist stumm!”, rief jemand aus dem Hintergrund. „Der kann nicht antworten!”
„Dann sagt es mir einer von euch Pöbel! Hat der hier was damit zu tun?”
Vor der Zelle lagen drei Körper am Boden, der Glatzkopf mit der Lederkappe und zwei jüngere Kerle, die Galéon in dem Gewimmel zuvor nicht bemerkt hatte. Die Männer waren nicht tot, aber offenbar vorerst außer Gefecht. Die unsittliche fánjula hockte daneben, hielt sich die Wange und heulte aus Leibeskräften. Offenbar hatte sie in dem Getümmel ebenfalls Prügel bezogen.
„Hat er!” Úldaises Handlanger wischte sich das Blut weg und verteilte es dabei nur noch großzügiger über sein Gesicht. „Der hat das Weibsbild da hinten beleidigt! Hat sie selbst gesagt!”
Galéon seufzte auf. Wahrscheinlich hatte er das Traumphantom doch nur herbei phantasiert, um diese Albernheiten hier nicht ertragen zu müssen.
„Ist das wahr?”, herrschte der Wächter die fánjula an. „Hat der hier etwas Ehrenrühriges zu dir gesagt?”
Sie stutzte und runzelte die Stirn, humpelte auf Galéon zu und spuckte ihm unversehens ins Gesicht. Dann wandte sie sich auf dem Absatz um und wankte zurück in die Taverne, wo sie wohl eine Kammer für ihre Dienstleistungen hatte. Dem Wächter schien das als Antwort zu genügen.
„Diebstahl. Brandstiftung. Erregung eines öffentlichen Aufruhrs.” Kopfschüttelnd schaute er an Galéon herauf und herab. „Und das alles von so einem harmlos aussehenden Burschen.”
„Mein Herr sagt”, mischte sich der Knecht eifrig ein, „vermutlich hat der noch viel mehr auf dem Kerbholz.
„Tatsächlich?”
„Einen Aufstand will er wohl anzetteln. Gegen den konsej!”
„So?” Der Anführer musterte den arg ramponierten Muskelmann zweifelnd. „So ein kümmerlicher Wicht wie der da?”
„Sag mein Herr”, nuschelte der Knecht. „Ich kann’s nur ausrichten.”
Die übrigen Bewaffneten der Wache hatten sich zwischenzeitlich der drei verbliebenen Opfer der Schlägerei angenommen. Angesichts der Autorität der Stadtwächter kam wieder Leben, Verstehen und Entsetzen in die Männer. „Was machen wir mit denen hier?”, wollte einer der Stadtsoldaten wissen. „In die Zelle?”
„Nicht in die hier!”, meldete sich jener, der ursprünglich zuständig gewesen war, hastig zu Wort. „Der sinor Úldaise wünscht, den da allein, gesichert und unversehrt zu sehen.”
„Ja, nicht dass ihm in der Zelle noch jemand an den Kragen will!” Der Knecht schniefte Blut aus seiner Nase hinfort. „Da bin ich dann nämlich verantwortlich für! Den darf keiner anfassen!”
Der Anführer stand einen Moment unschlüssig. Dann winkte er seine Leute beiseite. „Gut. Lassen wir die hier laufen. Ihr könnt Euch beim sinor bedanken, dass wir heute Nacht schlicht keinen Platz für Euch haben!”
Die drei Geprügelten entfernten sich eilig und unter dankbaren, wenn auch wackligen Verbeugungen in alle Richtungen, tauchten wieder in den Schutz des Nachtlebens von Aurópéa ein. Der mit der Lederkappe, offensichtlich nun frei vom Rausch, wagte es unter dem missbilligenden Blick des Wachkommandanten, noch einmal an Galéon heranzutreten, dem der Speichel der Dirne von der Wange rann.
„Hat meinen Bruder in die Wüste geschickt, der Verfluchte”, zischte er dem báchorkor zu. „Wegen ‘ner Lappalie. Das Chaos soll ihn verschlingen! Versager, du!”
Damit landete eine zweite Ladung Spucke, vermischt mit Schnaps und Blut auf Galéons Stirn.
„He! Troll dich gefälligst!”
„Is’ ja gut!” Der Glatzkopf schlurfte davon. Im Vorbeigehen zischte er Úldaises Knecht noch eine verächtliche Beschimpfung zu. Der schubste den Mann wütend dafür, aber es wurde keine neuerliche Rauferei daraus. Nicht jetzt, da der führende Stadtsoldat mit strengem Blick daneben stand.
„Und Anstiftung zum Aufstand”, sagte er kopfschüttelnd in Galéons Richtung. „Ich denke, da ist was dran. Schade, dass wir wohl nie erfahren werden, was dahinter steckt. Aus einem Stummen bekommt nicht mal Úldaise etwas heraus. Vielleicht dein Glück, báchorkor.”
Er runzelte die Stirn und griff dann nach dem Ende eines Zügels, das lose neben Galéons Hand herabhing. „Sehr ungewöhnlich.” Der Kommandant ließ das fein gearbeitete und goldverzierte Leder durch die Finger gleiten. „Mir ist, als hätte ich so etwas heute schon einmal aus der Nähe gesehen.”
„Sind ganz besondere Riemen”, erteilte der Knecht ungefragt Auskunft. Jemand brachte ihm einen neuen Krug Bier. „Mit Magie drin”
„Mit Magie?” Der Wachanführer blickte auf. „Wie das?”
„Keine Ahnung. Hat mein Herr gesagt.”
„Der Regenbogenritter, Herr”, sagte einer der Wachsoldaten, die sich nun wieder um ihren Anführer gruppierten. „Der Gelbe, der mit dem Kind unterwegs war. Sein Einhorn hatte ganz ähnliches Lederzeug.” Er grinste verlegen und die fragenden Mienen seiner Kameraden. „Ich achte auf sowas. mein Großvater, möge er hinter den Träumen in Frieden sein, war Lederer. Schöne Sachen hat er gemacht.”
„Unfug”, rügte sein Vorgesetzter. „Wo sollte der sinor denn Zeug von den Magiern hernehmen?”
Ja, dachte Galéon, der schon eine ganze Weile darüber nachgesonnen hatte. Welchem Einhorn mag er das unter den Augen eines arcaval’ay vom Zaum gepflückt haben? Und dann gleich vier Stück!
„Fälschungen werden das sein”, tat der Befehlshaber die Sache ab und ließ den Lederriemen wieder los. „Da hat einer die Kunst der Ritter kopiert. Dein Herr hat viel Sinn für Kunst, was?”
„Na ja. Er besitzt viele Bücher und Silberzeug und sowas.”
Der Anführer der Truppe zuckte die Acheln. „Verschwendung. Ein Stück Strick hätte es auch getan. Richte deinem Herrn aus, dass es morgen soweit ist, sobald die Sonne über die Südmauer steigt. Mit dem hier sind es sechs.”
„Ich werd’s ihm sagen.”
„Magie”, schnaubte der Wachanführer kopfschüttelnd. „Was ihr dem Alten so alles glaubt. “
Er entfernte sich mit seiner Truppe. Nur der, der ursprünglich zur Wache beordert gewesen war, blieb zurück und setzte sich zu dem Muskelmann mit dem blutrot verschmierten Gesicht an den Tisch. Argwöhnisch starrten die beiden nun Seite an Seite zu Galéon hin und ließen ihn nicht aus den Augen.
Hier und dort kam aus den Gasthäusern und Schankstuben Personal hervor, um die umgeworfenen Bänke und Tische wieder aufzustellen und Scherben wegzukehren. Innerhalb kurzer Zeit normalisierte sich das Nachtleben wieder. Gelächter, Musik und Gegröle vermischten sich wieder zu der Geräuschkulisse der Unterstadt. Das Nachtgetümmel zog nun an der Zelle vorbei. Menschen gafften hinein und machten sich über den jungen Mann mit dem blutigen, bespienen Gesicht lustig. Aber niemand wagte sich mehr als eine Armlänge an die Zelle heran.
Der Gong von den Mauern zeigte an, dass die Nacht voranschritt.
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