
Manjév schaute ihr Gegenüber verlegen an. Sie hatte sich durch die Abwesenheit ihrer beiden künftigen Gefolgsleute so sehr ablenken lassen, dass sie die geänderte Sitzordnung neben sich gar nicht bemerkt hatte.
„Ihr mögt mir den Korb gerne geben”, sagte Osse Emberbey bescheiden. „Bei Tisch gilt es anders mit dem Brot.”
„Wie? Oh … ja. Natürlich.” Sie errötete und reichte ihm das Körbchen. Er nahm genügsam eine sehr kleine Scheibe hinaus und gab das Brot an Tíjnje weiter. Das jüngere Mädchen griff hungrig zu. Tíjnjes Mutter hatte neben Alsgör Emberbey Platz genommen. Manjév wandte sich ihrem Teller zu. Ob Vater oder Mutter darum gebeten hatten, dass die Tischordnung für diesen Abend geändert wurde? Erwartete man von ihr, dass sie mit dem sonderbar linkischen, langweiligen Jungen plauderte?
„Ich nehme an, weil es sonst bei Gastmählern viel Unordnung gäbe?”, fragte sie, um peinliches Schweigen zu vermeiden.
„Eben darum, Majestät.” Er schaute konzentriert das kleine Stückchen Brot auf seinem Teller an und mied ihren Blick.
„Wieso sitzt du neben mir?”, flüsterte sie. „Das ist Tíjnjes Platz!”
„Ich wollte Eure Vertraute nicht vertreiben”, antwortete er ebenso gedämpft. „Eure Mutter bat darum.”
„Warum? Warum sitzt du nicht neben deinem Vater, wie …” Sie unterbrach sich und spähte über seinen und Tíjnjes Teller hinweg. Der Platz neben yarl Althopian war immer noch leer.
„Möchtet Ihr, dass ich mich entferne, Majestät? Ihr müsst es nur gebieten.” Er schaute aus den Augenwinkeln zu ihr auf. „Ich denke nicht, dass jemand daran Anstoß nähme.”
Sie zögerte. Tíjnje, die mit scharfen Ohren zugehört hatte, wollte etwas sagen, besann sich und schluckte den Bissen, den sie im Mund hatte, zuvor sittsam hinunter.
„Nicht wegschicken, Manjév”, bat sie. „Er ist nett! Und weißt du, seine Schwester kommt bald zu uns. Dann können wir endlich zu dritt spielen.”
„Du hast eine Schwester?”, fragte Manjév. Etwas Besseres fiel ihr nicht ein.
„Zwei Schwestern, Majestät. Hat man Euch darüber nicht unterrichtet?”
Die teirandanja errötete. Natürlich hatte sie von den yarlarandaé von Emberbey gehört, aber sich weiter kaum dafür interessiert. Noch nicht, denn sie waren weit entfernt, uninteressant für den Moment. Trotzdem mochte es einen schlechten Eindruck machen, wenn er annehmen musste, dass sie keinen Überblick über ihren künftigen Hofstaat hatte.
„Entschuldige”, sagte sie leise. „Ich hab über andere Sachen nachzudenken.”
Er verneigte sich artig in ihre Richtung.
Die Suppe wurde aufgetragen. Manjév atmete auf über diese kleine Unterbrechung des Gesprächs und wandte sich Tíjnje zu.
„Weißt du, wo Láas und Jándris sind?”
„Ja, die sind vorhin ins Haus gegangen. Die haben etwas sehr Wichtiges zu tun.”
„Weißt du, was sie vorhaben?”
„Nein. Sie sagen, es sei ganz ungeheuer wichtig und geheim. Ich durfte nicht mitkommen. Láas sagt, das sei eine Abendtüre und als ich fragte, meinte er, das sei nichts für kleine Mädchen.”
„Eine was?”
„Eine Abendtüre.”
„Majestät, Eure Vertraute meint sicherlich eine Aventüre. Eine ritterliche Heldentat.”, schaltete Osse sich diskret ein.
Manjév seufzte unbehaglich und starrte auf den freien Platz neben Waýreth Althopian. Der Ritter aß schweigend und war mit den Gedanken sichtlich ganz woanders.
„Und du?”, fragte sie den Jungen. „Weißt du, wo … wo der yarlandor von Althopian sich aufhält?”
„Nein, Majestät. Als ich ihn zuletzt sah, bat der Meister Yalomiro ihn um ein Gespräch unter vier Augen.”
Manjév tauchte den Löffel in ihre Suppe. Auch das noch. Hoffentlich hatte der Magier dem abscheulichen Jungen nichts von dem erzählt, was sie ihm anvertraut hatte. Wie sähe das aus!
„Hoffentlich begegnen die drei sich nicht”, sagte Tíjnje und löffelte hungrig aus ihrer Schale. „Láas hat heute früh noch gesagt, er will den Sohn von yarl Althopian verprügeln.”
„So?”, fragte Manjév unbehaglich.
„Ja, so feste, dass er nicht mehr in den Sattel kommt und nach Hause kriechen muss. Jándris macht bestimmt mit.”
„Tíjnje”, mahnte die yarlara von Moréaval. „Wer plappert denn so viel bei Tisch?”
„Aber es ist so!”
„Kind! Bitte. Lass die teirandanja doch in Ruhe reden.”
Tíjnje seufzte und widmete sich sittsam ihrer Suppe.
„Majestät”, fragte Osse nebenbei, so ruhig als mache er eine höfliche Bemerkung über die Speise, „steht zu befürchten, dass die yarlandoray von Wijdlant Merrit Althopian Gewalt antun?”
Manjév zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. Was sollte sie antworten, wenn doch der Vater direkt neben ihr saß und bestimmt genau jedem Wort lauschte, das sie von sich gab? „Aber nein. Die beiden würden nie etwas Unritterliches tun. Und schon gar nicht unerlaubt”, behauptete sie und Scham lag ihr auf der Brust wie ein Stein.
Er bedachte sie mit einem nachdenklichen Blick durch das Glas, das er immer bei sich tragen musste. Das wurde ihr schnell unangenehm.
„Warum isst du nicht?”, fragte sie und widmete sich ihrer Suppenschale wie einem rettenden Anker.
„Ihr habt es mir noch nicht gestattet, Majestät.”
„Ich? Aber meine Mutter …” Sie wandte sich verwirrt Asgaý von Spagor zu. „Der Tisch ist freigegeben, Papa, oder? Alle essen!”
„Natürlich. Aber … oh. Natürlich.” Der teirand schaute zerstreut zu Osse hin und schüttelte dann den Kopf. „Bei den Mächten, Junge. Du nimmst das alles wirklich viel zu ernst.”
„Herr, es sind Regeln.”
Asgaý von Spagor grinste, aber in seiner Miene stand zugleich etwas anderes. Ein wichtiger Gedanke wahrscheinlich, der es nicht erlaubte, dass seine Laune sich unbesorgt hob.
„Erlaube es ihm, Manjév. Solange du mit im Raum bist, bist du seine Gebieterin. Nicht deine Mutter oder ich.”
„Das ist ja lustig!” Tíjnje vergaß ihre Sittsamkeit. „Als wäre er dein ganz eigener Dienstmann.”
„Das bin ich, Majestät”, bestätigte Osse Emberbey höflich.
„Bei den Mächten”, murmelte Manjév.
„Ich werde Euch stets mit meiner Ehre und meinem Leben ergeben sein”, fügte er förmlich hinzu.
„Musst du dazu die ganze Zeit so umständlich reden?”, fragte sie ungeduldig. Gleich tat es ihr wieder leid, denn jetzt sah er verwirrt aus.
„Du redest immer so, nicht wahr?”
„Ich rede in der Sprache meines Vaters, Majestät.”
Sie seufzte. Das erklärte sowohl seinen altmodischen Namen als auch seine viel zu erwachsene Förmlichkeit. Alsgör Emberbey war alt, hätte sein Großvater sein können. Nun, Tíjnje schien den Jungen zu mögen, fand ihn wahrscheinlich auf kindliche Art amüsant. Er wirkte ganz anders als Láas und Jándris in ihrer lauten, unbekümmerten und großspurigen Art.
„Iss, Osse Emberbey. Ich … ich erlaube dir fortan, immer wenn wir gemeinsam bei Tisch sind und ich es vergessen sollte, allezeit zuzugreifen sobald ich selbst den ersten Bissen genommen habe. Das ist doch in Ordnung, Papa, oder?”
„Sehr klug gedacht, Manjév”, sagte der teirand liebevoll und wandte sich mit seiner Sorgenmiene wieder ab.
„Ich danke Euch, Majestät.” Osse verneigte sich erneut, brach sich ein Stück von seinem Brot ab und führte es manierlich zum Mund. Láas oder Jándris hätten einfach hinein gebissen.
Manjév seufzte auf. Bis die beiden auftauchten, würde das ein sehr anstrengendes Mahl werden.
Andererseits, dieser Junge fühlte sich … gut an.
***
Merrit Althopian erklomm Stufe um Stufe des mächtigen Turmes und fragte sich, ob er noch bei Sinnen war.
Er traute den beiden yarlandoray der teirandanja nicht recht über den Weg. Die Geschichte von dem geheimnisvollen Turmzimmer, das niemand betreten durfte, wirkte so an den Haaren herbei gezogen und zugleich in ihrer Wirrheit dermaßen plausibel, dass die beiden Junge sich irgendetwas auf Dingen zusammengesponnen haben mochten, die sie irgendwo aufgeschnappt hatten.
Wahrscheinlich würde er in diesem geheimnisvollen Zimmer etwas finden, was nicht für die Augen von Kindern bestimmt war. Oder etwas, das eine Überraschung für die teirandanja werden und demzufolge vor ihr geheim bleiben musste.
Er leuchtete mit seiner Laterne die Stufen hinauf. Im unteren Teil des Turmes hatte es noch schmale Fenster in den Mauern gegeben, und einige kleine Kammern, in denen in alten Zeiten Wachleute und Waffenknechte ihrer Pflicht nachgegangen werden. Weiter oben ging die stabile innere Stein- in eine knarrende Holzwendeltreppe über, die sich die Außenwand entlang wand und in deren Mitte eine beklemmende Leere klaffte. Als er in die Höhe blickte, erahnte er tatsächlich im Dunkel ein mächtiges Gebälk, das eine Etage unmittelbar unter dem Dach stützte.
So war der Turm der Burg seines Vaters nicht. Der viereckige Wohnturm dort bot Unterkunft für einen Teil des Hausgesindes und die Treppen waren steil und gerade.
Sicherlich hatte dieser seltsame Zwischenraum ohne Kammern, in den tagsüber ein wenig Licht durch vereinzelte Scharten drang, irgendeinen strategischen Sinn. Vielleicht konnte der Vater es ihm erklären.
Merrit seufzte und stieg weiter. Was tat er hier? Warum war er nicht wie ein artiges Kind dort, wohin er gehörte, an der Seite seines Vaters? Hatte er nicht bei dem Gespräch am Vormittag unter dem Tisch mit eigenen Ohren gehört, wie sehr der hochgerühmte Wayreth Althopian sich nichts mehr wünschte als seinen Sohn an seiner Seite? Mussten sie nicht einander festhalten und trösten, nun, da die Mutter hinter den Träumen war?
Stattdessen hatte er sich nun wieder in eine Sache hineintreiben lassen, die ihm selbst nicht recht geheuer war. Aber sollte er vor den beiden älteren Jungen Schwäche oder Feigheit zeigen? Auf die Gelegenheit verzichten, seinen guten Ruf vor der teirandanja wieder geradezurücken? Auch nur den geringsten Zweifel daran aufkommen lassen, dass er die vielgerühmte Tapferkeit des Hauses Althopian stolz bewahren und weitertragen würde?
Beim Gedanken an die teirandanja berührte etwas sein Herz wie eine Welle von heißem Wasser. Das verwirrte ihn, und er drängte es weg. Die teirandanja war hier in diesem Turm, auf dieser Mission unerreichbar. Hier ging es um etwas ganz anderes.
Nein, er wollte den Vater nicht weinend sehen. Und er würde es nicht ertragen, wenn die teirandanja ungnädig mit ihm war. Diese eine, letzte Unartigkeit musste er noch begehen. Ab dem Morgen wollte er ein vorbildlicher, ein demütiger Junge sein, der den Erwachsenen keinen Grund zum Tadel gab. Was immer man ihm als Strafe auferlegte, er wurde sie ohne zu murren ertragen und fortan dreimal nachdenken, bevor er sich von seinem Temperament zu irgendetwas hinreißen ließ.
Vielleicht würde er sich bei seinem neuen Freund, dem yarlandor von Emberbey mit dem wunderlichen Namen einige Tugenden abschauen können. Mit diesem Jungen, das war Merrit klar, obwohl er die Tragweite noch nicht begriff, würde er sich niemals messen und niemals Gefühle verbergen müssen.
Folgten Láas und Jándris ihm? Er hörte sie nicht hinter sich auf der Treppe. Das war seltsam, denn selbst wenn sie beide geschlichen wären, hätten die knarrenden Holzstufen sie verraten. Merrit blieb stehen, einen Fuß in der Luft. Nichts. Zumindest auf der Holztreppe war er allein. Nicht einmal ihre Laternen flackten unter ihm in dem stockdüsteren Treppengelass.
Feiglinge, dachte er belustigt. Vielleicht glaubten die beiden tatsächlich an ein gruseliges Geheimnis, das im verbotenen Zimmer schlummerte. Vielleicht brauchten sie wirklich einen mutigen Kämpfer, der für sie die Lage klärte. Diese Idee schmeichelte ihm einen Moment, obwohl sie nicht sehr wahrscheinlich war. Dann hatte er die kleine Stiege erreicht, die durch eine Falltür nach oben führte. Er kletterte hinauf und stand zu seiner Überraschung tatsächlich vor einer offenstehenden Tür an einem Treppenabsatz.
Merrit Althopian runzelte die Stirn. Die Tür war geöffnet?
Er leuchtete in den Raum hinein, um festzustellen, ob es womöglich noch weitere Treppen nach oben gab. Aber es schien sich tatsächlich um das oberste Stockwerk zu handeln, ein großzügig bemessener Raum mit Fenstern in alle Himmelsrichtungen, in dem es dank des hell leuchtenden Mondes nicht völlig finster war. Merrit erahnte Möbel, einen großen Tisch mit Stühlen, ein Bett, Truhen und Regale an den Wänden zwischen den Fenstern. Nur ein kleiner Bereich des runden Raums war durch den Treppenabsatz ausgespart, wie ein aus einer Pastete herausgeschnittenes Stück.
Kein Chaosgeist. Kein Mordopfer. Kein Schatz.
Zumindest keiner, der offen herumlag. Der Junge zögerte einen Moment und trat dann über die Schwelle. Flüchtig leuchtete er an den Regalen entlang. Bücher. Tiegel. Flaschen. Kleine Schatullen. Eine größere Laterne, die sogar noch mit etwas klarem Leuchtöl gefüllt war. Daneben eine offene Schachtel mit langen Kienhölzern. Merrit nahm eines, pflückte ein Stück von der Flamme seiner Handlaterne und entzündete die größere Lampe. Das war besser. Nun hatte er noch mehr Licht, um sich umzuschauen.
Nichts Besonderes. Ein Wohngemach, geräumig und an einem äußerst ungewöhnlichen Ort, aber nichts, was aussah, es berge es ein großes Geheimnis.
Ob es genügte, einfach einen der Gegenstände aus den Regalen zu nehmen und vorzuzeigen? Nichts davon erschien ihm spektakulär genug, um vor den yarlandoray oder gar der teirandanja als Beweis zu gelten, dass er hier gewesen war. Vielleicht gaben die Truhen mehr her.
Zwei Stück gab es, beide ganz schlicht, unverziert und nicht verschlossen. Gleich in der ersten fand Merrit das, was er brauchte. Die Truhe enthielt Bekleidung, wenig bemerkenswert, schlichte Männergewänder aus fein gewirkter, dunkelroter Wolle und ein mit Fuchsfell besetzter Mantel, Sachen, die ein vornehmer Herr an frostkalten Wintertagen getragen haben mochte. Obenauf lag ein unglaublich großer Edelstein.
Merrit zögerte, das Juwel zu berühren. War das tatsächlich das, wonach es aussah? Ein Karfunkel, groß wie die Faust einer Dame? Ehrfürchtig nahm er den Stein in die Hand und hielt ihn gegen die Laterne. Angenehm kühl war er, glasklar und hatte die tiefrote Farbe von Wein.
Warum lag so etwas Wundervolles in einer unverschlossenen Truhe zwischen alten Gewändern? Gab es noch mehr davon? Er wühlte sich durch den Inhalt der Kleidertruhe, fand aber nur noch mehr Stoff und etwas praktisches Lederzeug. Die zweite, kleinere Truhe gab ebenfalls keine Schätze mehr preis. In ihr befanden sich Laken und Decken für die bescheidene Bettstelle.
Merrit setzte sich auf die Fersen und dachte nach. Ein einzelner Edelstein war fast noch seltsamer, als wenn er wenigstens noch eine Schatulle mit kleineren Juwelen oder Münzen gefunden hätte. Aber das tat nichts. Wenn der große rote Stein die teirandanja nicht beeindrucken würde, was dann?
Der Junge schaute sich bedacht nach irgendetwas um, worin er den Stein sicher transportieren konnte. Nicht auszudenken, wenn er im letzten Moment durch ein Missgeschick das Juwel auf den Steintreppen fallen ließe. Seine Hände brauchte er, um das Geländer zu halten und die Laterne zu tragen. Da er keine zurückgelassene Tasche finden konnte, wickelte er den Karfunkel schließlich in ein Tuch ein und machte ein Bündel daraus, das er sich um Brust und Schulter knoten konnte. Das hielt ihn eine Weile beschäftigt.
Irgendetwas, meldete sich eine leise Stimme in Merrits Bewusstsein, war unrecht mit diesem Zimmer. Wer hatte hier gewohnt? Warum war die Tür, entgegen den Behauptungen der yarlandoray, geöffnet gewesen? Wieso war es so …
Er blickte auf und runzelte die Stirn. So … sauber hier drinnen? Die Luft so frisch? Nirgends auch nur ein Spinnennetz über den Dingen in den Stellagen? Öl in der Lampe?
Nie im Leben war dieses Zimmer seit vielen Wintern verlassen. Es sah aus, als sei der Bewohner nur kurz aus dem Raum gegangen. Vielleicht, um am Abendessen teilzunehmen.
Und dann klickte der Türriegel.
Merrit sprang auf und eilte hin. Die Tür war zu und blieb es auch, als er am Knauf rüttelte und versuchte, die Sperre wieder aufzuziehen.
„He!”, rief er. „Seid ihr das?”
Draußen polterte etwas gegen das Holz. Ein gedämpftes Fluchen war zu hören.
„He!” Merrit schlug mit der flachen Hand vor die Tür. „He! Was macht ihr?”
Es kam keine Antwort, nur weiteres Geklapper. Der Junge legte das Ohr an das Türblatt.
„Was soll das?”, rief er. „Antwortet mir wenigstens.”
Was immer die beiden da draußen für ein Spektakel veranstalteten, offenbar kamen sie damit zum Ende. Das Geklapper und Klopfen ließ nach.
„Merrit Althopian”, hörte er dann die Stimme vom Jándris Altabete, „im Namen von Manjév von Wijdlant und Spagor stehst du unter Arrest!”
„Was?”
„Es ist nichts persönliches,” versicherte Láas Grootplen. „Hat nichts mit unserer Besengeschichte zu tun. Das klären wir bei Gelegenheit.”
„Ja, wenn du je wieder da herauskommst. Dann bekommst du eine Tracht Prügel, dass du zwei Monde lang nicht mehr sitzen kannst!””
„Falls du noch mal da heraus kommst.”
„Seid ihr irre?”
„Nein, wir führen nur den Befehl unserer teirandanja aus. Sie will dich nie wieder sehen!”
Wieder diese heiße Welle in seinem Herzen. Diesmal tat es weh.
„Mein Vater wird nach mir suchen!”
„Aber bestimmt nicht hier oben. Dieser Turm ist ihm verboten.”
„Das war nämlich kein Scherz! Alles, was oberhalb der Verliese ist, darf nicht betreten werden! Von niemandem!”
„So?”, zürnte Merrit Althopian. „Macht es einen Unterschied, dass ihr zwei vor dieser Tür steht? Geht euch dafür nicht ebenso an den Kragen?”
Einen Moment war es still vor der Tür. Dann sagte Láas: „Sei du lieber froh, dass unten im Kerker kein Platz ist vor lauter Gerümpel.”
„Das ist keine Antwort!”
„Bei den Mächten!”, rief Jándris aus. „Wir machen das hier nicht freiwillig. Manjév will es so.”
„Warum denn? Wisst ihr wenigstens, warum sie das will? Ich hab noch nicht einmal mit ihr geredet bisher!”
„Du wolltest nachts in ihr Gemach! Wir haben dir gesagt, dass sie stinkwütend deswegen ist!”
„Entsetzlich ist der Weiber Wut!”, zitierte Jándris.
„He! Hüte deine Zunge, Altabete! Du redest von deiner teirandanja!”
Einen Moment waren die beiden draußen still. Die Zurechtweisung durch ihren Gefangenen schien sie zugleich zu verwirren als auch zu beschämen.
„Außerdem”, sagte Merrit, „wird mich hier schneller jemand befreien, als ihr euch denken könnt!”
„Wir haben dir gesagt, der Turm …”
„Das wird meinem Vater völlig egal sein! Ich stell mich ans Fenster und rufe um Hilfe. Notfalls werfe ich irgendwelche Sachen in den Hof. Hier ist genug Plunder! Denkt ihr im Ernst, es bemerkt niemand, dass ich hier drin bin? Die Leute sind doch nicht blind und taub!”
Wieder Schweigen vor der Tür. Merrit horchte angestrengt. Waren die beiden etwa weggegangen?
„Wenn du auch nur einen Mucks machst”, sagte Jándris, „dann … du willst doch bestimmt nicht, dass dein neuer Freund es ausbadet, oder?”
Die heiße Welle schwappte zurück, diesmal über seinen ganzen Körper und fast bis heran an seinen Verstand.
„Das ist … unehrenhaft“, rief Merrit empört.
„He, wir machen das nicht gerne! Aber wenn du nicht brav bist …”
„Was seid ihr beiden denn? Seid ihr ehrenwerte yarlandoray oder … Schergenpack? Wissen eure Väter überhaupt, was ihr hier treibt?”
„Lass unsere Väter aus dem Spiel!”
„Und die teiranday! Dass ich Strafe verdiene ist mir klar, aber … ich will ein ordentliches yarlpénar!”
„Du nimmst dich ganz schön wichtig, Wiegenkind.”
„Ach? Und es ist nicht unter Eurer Würde, ein Wiegenkind auszutricksen?”
„Die teirandanja …”
„Meine Mutter”, sagte Merrit, bevor er sich besinnen konnte, was er tat, „sagt, wer einen teirand über seine Ehre gebieten lässt, ist nicht wert, geachtet zu werden.”
Nun waren die beiden einen Moment still.
„Hör zu”, sagte Láas endlich. „Wir machen es so. Du bist hier oben fein still und übst dich in Geduld. Wenigstens bis …” Er tuschelte einen Moment mit Jándris. „Wenigstens bis morgen Vormittag. Wir versuchen, bei Manjév ein gutes Wort für dich einzulegen. Vielleicht bekommen wir sie auch dazu, persönlich mit dir zu reden. Dann könnt ihr das unter euch ausmachen.”
„Wenn unten auf dem Hof bis dahin irgendwas von dir zu hören ist oder herunterfällt, können wir nicht garantieren, dass das Eulengesicht in keine Schwierigkeiten gerät. Wenn du uns keine Wahl lässt …”
Merrit war heiß. In seinen Adern rann Lohe wie Wasser in einem reißenden Wildbach. Darin vermengten sich die Sorge um den arglosen Osse und die Enttäuschung darüber, dass Manjév von Wijdlant und Spagor eine … schlechte teirandanja sein könnte. Bestimmt, so klammerte er sich an einer Hoffnung fest wie ein Ertrinkender an ein Stück Treibholz, das herumwirbelte, war das alles nur ein großes Missverständnis.
Andererseits hatte er den Eindruck, dass Jándris und Láas mit ihrer Rolle bei alledem nicht glücklich waren, obwohl sie die Oberhand hatten. Das war gut zu wissen.
„Gut”, antwortete er bedächtig. „Ich rufe nicht um Hilfe und ihr lasst Osse in Ruhe. Aber … wenn es mir gelingen sollte, bis morgen Vormittag aus eigener Kraft den Turm zu verlassen …”
„Kannst es gern versuchen”, lachte Láas auf, aber es klang eher hilflos als höhnisch.
„Wenn du es schaffst, hier rauszukommen, ohne um Hilfe zu rufen”, sagte Jándris, „dann … dann verlieren wir über die ganze Sache kein Wort. Ist das klar?”
„Meinetwegen.”
„Gut. Dann gehen wir jetzt und schauen, ob wir bei Manjév ein gutes Wort für dich einlegen können.”
„Sagt ihr, ich habe ihr etwas Interessantes zu zeigen, hört ihr?”
Er bekam keine Antwort. Als er wieder das Ohr an die Tür legte, war draußen nichts mehr zu hören. Kurze Zeit später sah er aus dem Fenster zwei dunkle Schemen unten auf dem von einigen Feuerschalen erhellten Burghof. Láas und Jándris hatten den Turm verlassen.
Merrit Althopian legte das Bündel mit dem Edelstein ab. Nun musste er die Hitze nicht mehr zurückdrängen.
Ohne Beherrschung und mit überwältigender Wut begann Merrit Althopian, die Tür mit seinem rostigen und für seine Kinderhände viel zu großen und schweren Streitflegel zu bearbeiten, Schlag um Schlag um Schlag. Doch die Tür des Turmgemachs hielt stand, versiegelt mit schattensängerischer Magie und verrammelt mit einer zerbrochenen Lanze.
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