
Advon war, so schnell er nur konnte, zurück in sein Gemach geeilt, hatte ein neues Nachtgewand übergezogen und sich dann schnell ins Bett gelegt. Kaum legte er den Kopf auf seinem Kissen ab, fiel ihm siedend heiß ein, dass er vergessen hatte, sich den Ruß von Gesicht und Händen zu waschen. Bestürzt stellte er fest, dass seine Wange bereits eine dunkle Spur auf dem Kissen hinterlassen hatte, aber es war zu spät, das jetzt noch zu ändern. Er hörte, wie seine Mutter sich auf dem Korridor dem Zimmer näherte und schaffte es gerade noch, seine Nachtlaterne ganz zu löschen und sich so tief wie möglich in die duftigen Laken einzukuscheln. Darüber, wie er am nächsten Tag die Flecken erklärte oder beseitigte, konnte er später nachdenken. Hauptsache, die Mutter sah nicht zu genau hin. Das war einer der Momente, in denen Advon es zutiefst bedauerte, nicht zaubern zu können. Es würde sein Leben um einiges erleichtern.
Für einen Augenblick überlegte er, ob er leise schnarchen sollte, aber das kam ihm dann doch zu übertrieben vor. Also atmete er ruhig und leise, das Gesicht von der Tür abgewandt, und stellte sich schlafend.
Als Elosál eintrat, mischte sich ein milder goldener Lichtschimmer in die Mondnacht im Zimmer, Advon nahm es durch die geschlossenen Lider wahr. Ihre maghiscal leuchtete immer noch. Sie musste sehr besorgt und aufgeregt sein.
Anmerken ließ sie es sich nicht. Still nahm sie auf seiner Bettkante Platz und wartete lautlos, ohne etwas zu sagen.
Der Junge zwang sich zur Ruhe. Sie würde es bemerken, dass er wach war, hatte es wahrscheinlich längst festgestellt. Die einzige Möglichkeit, die ihm blieb bestand darin, augenblicklich wirklich einzuschlafen; ein Ding der Unmöglichkeit unter ihren goldenen Augen und dem Eindruck der verstörenden Dinge, die er belauscht hatte. Alte Magie, fremde Magie, die Unruhe, die die Regenbogenritter ergriffen hatte. Die geheimnisvolle Höhle, in die er einen Blick hatte werfen können, er sah sie ihm Geist noch deutlich vor sich, den zuckenden Feuerschein und die Schatten, die er selbst und der Grüne geworfen hatten. Und dieser sicher völlig unschuldige Unkundige, dem die arcaval’ay nicht helfen wollten … oder konnten.
Und wenn es gar kein Unkundiger war? Wenn dieser schreckliche alte Mann etwas zu vertuschen hatte?
„Ich weiß, dass du wach bist”, sagte Elosál nach einer Weile.
Er gab sich den Anschein, aufzuschrecken und gähnte geräuschvoll. „Mama? Was machst du hier?”
„Ich wache über dich, mein Sohn”, antwortete sie milde.
„Ich hab wirklich versucht, einzuschlafen”, murmelte er in sein Kissen.
„Gar nicht so einfach, nach einem so aufregenden Erlebnis, nicht wahr?”
„Mir tun die Tiere und die Pflanzen so leid”, murmelte er so schläfrig, wie er konnte. „Vor allem die Pflanzen. Die konnten nicht weglaufen.”
„Manchmal”, erklärte sie sanft, „sendet Pataghíu Feuer zum Wohle der Pflanzen. Asche nährt den Boden, und die Flammen lichten Gestrüpp, das anderes zu ersticken droht.”
„Ob denn wohl die Tiere fliehen konnten?”
„Ganz sicher, Advon. Wie ich hörte, griff das Feuer den Hügel hinab, kam nicht von mehreren Seiten. Und der Winter ist schon so nahe heran, dass bestimmt keines mehr auf einem Nest saß oder hilflose Junge hatte.”
„Es ist gut, dass die arcaval’ay Feuer löschen können, nicht wahr, Mama?”
„Es hat mehr als einmal ein Unheil verhindert, Advon.”
„Dann kann ich ja nun beruhigt schlafen”, sagte er. „Gute Nacht, Mama.”
Aber so leicht ließ sie ihn nicht davonkommen. „Hast du in den Flammen noch etwas gesehen, Advon?”
Er zögerte. „Meinst du die Höhle, Mama? Der Grüne hat mir verboten, hineinzuklettern. Er sagt, es sei Magie darin. Mama, wie ist Magie in die Höhle gekommen?”
„Advon, ich will, dass du mir versprichst, zu Siledaú nicht das geringste Wort über diese rätselhafte Höhle zu sprechen. Unter gar keinen Umständen, verstehst du?”
Advon stutzte und wollte sich ihr zuwenden, entsann sich gerade noch rechtzeitig seines schmutzigen Gesichtes und blieb still liegen.
„Mama, ich würde Siledaú doch nie nach … nach solchen Dingen fragen. Sie würde doch sofort sagen, dass ich mich um eigene Dinge kümmern soll.”
„Schon. Aber in diesem Fall ist es anderes. Ich möchte nicht, dass sie vor der Zeit davon erfährt.”
„Meinst du, sie würde nachschauen wollen?”, fragte Advon gespannt. „Warum?”
„Weil sie uns schon einmal eine ungute Faszination für Dinge beweisen hat, mit denen Unkundige besser nichts zu schaffen haben.”
Advon Herz klopfte schneller. Also doch! Wenn in der Höhle irgendetwas Uraltes, Magisches war, das Siledaú möglicherweise interessierte, dass war es vielleicht so etwas wie die alten Bücher und das Zeug, das sie von den Schattensängern zusammengetragen hatte. Vielleicht sogar etwas, das ein Schattensänger dort hinterlassen hatte.
Bei den Mächten – dann war die Höhle verflucht! Aber er durfte vor seiner Mutter nicht zugeben, dass er gelauscht hatte und mehr wusste, als er wissen konnte.
„Ich will jedenfalls nicht, dass Siledaú sich dazu hinreißen lässt, den Garten des sinor auf eigene Faust zu betreten und auf ihre alten Tage in irgendwelchen Höhlen herum klettert.”
Nein, dachte Advon. Das wollte er auch nicht. Das war schließlich seine Höhle. Er hatte sie entdeckt. Dort wollte er sich umschauen, zusammen mit dem Vater, sobald der wieder da war.
„So interessant”, behauptete er, vielleicht etwas zu munter, „war die Höhle nun auch wieder nicht.”
„Nein, natürlich nicht. Wir werden uns von dem alten sinor die Erlaubnis geben lassen, uns bei Tageslicht auf seinem Hügel umzusehen und die Magie, die der Grüne in der Höhle vermutet, genauer zu betrachten.”
„Wenn alles harmlos ist, darf ich mir die Höhle später auch einmal anschauen? Ich war noch nie in einer Höhle. Vielleicht ist ja ein Schatz drinnen. Wie in dem Märchen von den dreißig Räubern, das Papa mir erzählt hat.”
„Wenn es ein Schatz ist”, sagte Elosál mahnend, „gehört er dem sinor Úldaise.”
„Ich will den Schatz nicht haben, Mama. Nur finden. Das ist aufregend!”
Sie lachte leise. „Wir werden sehen. Eines nach dem nächsten.”
Die fajía erhob sich. Advon atmete zaghaft auf, als sie Anstalten machte, das Zimmer zu verlassen. Aber sie ging noch nicht.
„Willst du denn heute gar kein Lied mehr hören, Advon?”, fragte sie.
Er hätte gern, aber heute durfte sie nicht näher kommen.
„Nein, Mama. Heute bin ich ein großer Junge. Ich schlaf ganz alleine ein.”
Sie stand einen Moment lang schweigend da. Dann wandte sie sich ab. „Gute Nacht, Advon Irísolor. Mögest du sicher in den Träumen verweilen.”
„Gute Nacht, Mama”, antwortete er, aber er war sich nicht sicher, ob sie das noch gehört hatte, so lautlos bewegte sie sich davon. Als sie kam, hatte er ihre Schritte noch gehört.
Advon seufzte und lag noch lange wach. Dieser Nachtgruß hatte sich … falsch angefühlt.
***
Úldaise hatte sein Pferd in Empfang genommen, seinen Knecht zurück in die Stadt befohlen, wo er dem anderen Idioten beim Bewachen des báchorkors helfen sollte. Dann war er durch die schwelenden Überreste des Gartens bis zum Tor in die Tiefe geritten. Natürlich, die arcaval’ay waren hier gewesen und hatten hinein geglotzt. Ihre Spuren waren deutlich zu erkennen. Aber was hatten sie entdeckt?
Der sinor krabbelte so weit in den Höhleneingang hinein wie möglich und spähte hinab. Die goldenen Fingerspuren auf dem Felsen waren nicht zu übersehen, und auch nicht, was der Kerl sonst noch angestellt hatte. Das Wasser rann viel stärker und schneller durch das Bachbett der Wüste entgegen. Offenbar hatte der junge Mann es irgendwie geschafft, den engen Stollen zu überwinden und bei dieser Gelegenheit das mühsam aufgeschüttete Geröll zu entfernen.
Verfluchtes Pack.
Úldaise rappelte sich ächzend wieder auf. Gern hätte er sich die Sache näher angesehen, aber das hatte nachts und ohne seine Gehilfen, die ihm beim Ab- und Aufstieg halfen, keinen Sinn. Auch rannte ihm die Zeit davon. Die Gongschläge von den Stadtmauern waren bis hierher zu hören. Es gab so viel zu tun! Mochten die Mächte wissen, wieso es all die Zeit so gemächlich gegangen war und ausgerechnet jetzt mehr Dinge zugleich ans Laufen gekommen waren, als sich dirigieren ließen. Der Alte erklomm mithilfe eines rußbedeckten Findlings nahebei sein Ross und galoppierte los. Mochte Saháalír in seinen seidenen Kissen von seiner Jugend in Ivaál träumen, wenn er den báchorkor noch einmal sehen wollte, dann musste er es entweder jetzt tun oder verzichten.
Er preschte durch die Nacht auf die Stadt zu und ritt dabei um ein Haar seinen Knecht über den Haufen, der den Weg zu Fuß bewältigte und dem Alten verblüfft nachschaute. Das Pferd war erschöpft, hatte es doch die Strecke von und nach Aurópéa seit dem Abend bereits mehrfach hinter sich gebracht. Aber Úldaise hütete sich, ungeduldig zu werden und dem Tier zu viel abzuverlangen. Wenn der Gaul ihm unterwegs zusammenbrach, würde es seinen Plan noch viel mehr in Unordnung bringen. Besser, er ließ sich nun etwas Zeit, als sich mit übertriebener Eile selbst zu schaden. Dass das nicht gutging, hatte er einmal in einem sehr ungünstigen Moment erfahren müssen.
Und dann war da noch das Balg. Um den kleinen Rotzbengel würde er sich auch rechtzeitig kümmern müssen.
Er passierte das Westtor und ritt durch die belebten, niemals ruhenden Gassen auf den Marktplatz zu. Ausgelassen gestimmte, teils angeheiterte, teils berauschte Nachtschwärmer kamen ihm entgegen, sogar einige ältere Leute, von denen er mehr Mäßigung und Würde erwartet hätte. Diejenigen, die nicht völlig ihren Freuden hingegeben waren, waren offensichtlich bei der Arbeit, Beutelschneider, Betrüger, Falschspieler, liederliche Dirnen, alles wogte ineinander und um ihn herum wie tanzendes Laub auf strudelndem Wasser. Sollten sie. Nur zu. Es war sehr gut so. Es gefiel ihm.
Wer ihn in dem Trubel erkannte und noch genug bei Sinnen war, wich ihm rasch aus, mancher bekam sogar noch eine demütige Verbeugung zustande. Úldaise lächelte über sie hinweg. Er wusste, jeder einzelne wünschte ihn sich hinter die Träume. Aber den Gefallen würde er ihnen nicht tun. Nicht so, wie sie es sich jetzt oder in spätestens einem Dutzend Wintern vorstellten. Was waren Sommer, was Winter? Lächerlich!
Auf dem Marktplatz angekommen war er wenig überrascht, seinen unfähigen Knecht schnarchend über einem der Tische hingestreckt anzutreffen. Aber der Wachmann, der seinen Dienst furchtsam und gewissenhaft versah, erhob sich und eilte ihm entgegen. Während das Nachtleben in und vor den Tavernen seinen Gang nahm, war direkt vor der Zelle niemand zu sehen, der Späße mit dem báchorkor getrieben hätte. Scherben und ein paar übersehene Holztrümmer lagen umher. Offenbar war es noch vor kurzem hoch hergegangen.
„Es ist alles unter Kontrolle, Herr”, sagte der Stadtwächter. „Er hat nicht versucht, zu entkommen.”
Úldaise beachtete ihn nicht weiter und hielt sein Ross vor der Zelle an. Der junge Mann hing schwer in den magieimprägnierten Riemen und schien vor Erschöpfung eingeschlafen zu sein.
Úldaise saß ab und drückte dem Wachmann die Zügel in die Hand. Dann schob er dem báchorkor den Knauf seines Gehstocks unters Kinn und brachte ihn dazu, den Kopf zu heben. Der junge Mann sah furchtbar aus. Offenbar hatte er auf irgendeine Weise ebenfalls Prügel bezogen. Er hatte Streifen im Gesicht, wo Speichel oder vielleicht auch eine Träne Blut, Dreck und Ruß weggewaschen hatten.
„Sprich”, sagte Úldaise, als der Gefangene die Augen aufschlug. „Saháalír wird Fragen stellen. Kannst du wieder reden?”
Galéon schüttelte müde den Kopf und murmelte etwas unverständliches Es klang, als hätte er einen großen Kieselstein im Mund.
„Zeig mir deine Zunge”, forderte der sinor, und der báchorkor gehorchte müde. Der Wachmann verzog schaudernd das Gesicht.. Aber der sinor war zufrieden. Wenn er sich nun beeilte, würde er die Sache mit dem Stadtältesten geregelt haben, bevor der báchorkor wieder zu einem artikulierten Laut fähig war. Gerade noch rechtzeitig, denn dass ein wie auch immer gearteter Heilungsprozess einsetzte, war nicht zu übersehen. Was für einen Zauber mochte der Kerl sich da nur eingefangen haben?
„Ich habe gesehen, was du in der Höhle gemacht hast”, fuhr er fort. „Eine jämmerliche Leistung. Ein kleines Kind hätte es so getan.” Er lachte spöttisch auf. „Wer immer dein Lehrer war, es ist lächerlich.”
Der junge Mann runzelte fragend die Stirn.
„Ich stelle es mir so vor”, fuhr Úldaise fort. „Wahrscheinlich ist dein Meister hinter die Träume gegangen, als du noch ein kleines Kind warst. Viele von deinesgleichen sind damals im Kampf verreckt. Vielleicht haben dich weichherzige Menschen gefunden und aufgenommen? Ist es nicht so gewesen? Ist das Gold vielleicht das erste und einzige kleine Spiel, das er dich noch lehren konnte, bevor er sich feige aus dem Weltenspiel fortgemacht hat?”
Der báchorkor zögerte. Dann nickte er.
„Ich wäre begierig zu erfahren, wer deinen unfähigen Lehrer hinter die Träume gebracht hat. Hat er dir denn gar nichts hinterlassen? Gar kein Besitz, der in deine Hände gehört hätte? Wo ist dein Erbstück. báchorkor? Ist es verlorengegangen? Hast du all die Zeit danach gesucht?”
Ein Kopfschütteln, und zugleich ein interessierter, ein aufmerkender Blick aus diesen unschuldigen dunklen Augen. Der Kerl war tatsächlich naiv und ahnungslos. Wie gut, dass er ihn gefunden hatte, bevor er sein Potential entdeckte. Aber selbst wenn … was hatte er zu bieten? Etwas Intuition, etwas Talent, eine Gabe. Aber nichts, was nach Können und Wissen aussah. Offenbar hatte er nicht einmal eine Ahnung, dass ihm das allerwichtigste Werkzeug fehlte, das, was ihn wirklich und ernsthaft zu einer Gefahr gemacht hätte. Glück gehabt!
„Bedauerlich. Nun, vielleicht gelingt es uns, morgen noch ein paar Worte miteinander zu wechseln, bevor du in der Wüste neue Bekanntschaften machst. Ich bin zu neugierig, wie es ausgeht. Was es mit dir anstellen wird.”
„Herr”, unterbrach der Wachmann, „der hier und fünf weitere sollen auf den Weg, wenn die Sonne über die Südmauer tritt. So ist es für morgen angesetzt.”
„Wie viele Gongschläge sind das noch?”
„Sechs, Herr.”
Úldaise fluchte. Das wurde knapp. Das war kaum zu schaffen! Nein, es war unmöglich.
Andererseits – es würde genügen, wenn er hinzukam, sobald der Spaß begann.
„Hilf mir aufsitzen”, herrschte er den Stadtsoldaten an. „Und dann weck mir den Idioten dort hinten auf. Und sorg für etwas Ordnung hier auf dem Platz. Hol dir Verstärkung. Wenn der sinor Saháalír hier eintrifft, will ich, dass es hier zugeht und aussieht wie im Palast der Weisheit von Forétern!”
„Der sinor Saháalír? Mitten in der Nacht?”, rief der Wächter bestürzt aus.
„In spätestens zwei Gongschlägen ist er hier. Und wenn ich morgen im Rat auch nur eine Rüge aufgrund von ungehörigem Betragen der guten Leute hier höre …”
Der Wachmann schluckte jedwede Bemerkung und verneigte sich hastig. Dann hielt der dem Greis den Steigbügel und stemmte ihn in den Sattel. Kurz darauf war der sinor wieder im Trubel Aurópéas verschwunden.
***
„Du solltest schlafen”, mahnte yarl Emberbey.
Osse schaute zu ihm hinüber. Der alte Mann hatte sich bereits niedergelegt und das Licht gelöscht. Der Junge saß am Tisch, hatte eine kleine Öllampe und ein dünnes Buch vor sich, das er von daheim mitgebracht hatte. Damit, hatte er sich gedacht, könnte er sich Wartezeiten vertreiben, wenn er wie üblich im Hintergrund bleiben musste, wenn die Erwachsenen redeten.
„Ich kann nicht schlafen”, sagte er ruhig. „Ich bin zu aufgewühlt von dem Gespräch mit der teirandanja bei Tisch.”
„So. Aufgewühlt.”
„Sag, Vater, ist es besser, wenn ich wachliege und ins Finstere starre oder die Zeit nutze, um zu lernen?”
„Meinetwegen”, seufzte der yarl.
Osse blätterte eine Seite um. Er las nicht. Stattdessen hatte er begonnen, die Buchstaben zu zählen. Die Worte sollten ihn nicht von den Lauten draußen auf dem Korridor ablenken. Der Wachmann vor der Tür der teirandanja war bereits unruhiger geworden. Man hörte ihn ab und zu mit seiner Hellebarde auf den Boden klopfen, wenn er hin und her ging, ganz leise, aber immer fahriger.
Wenn doch der Vater nur bald einschliefe!
„Truda wird es hier sehr gefallen”, sagte der alte Ritter, ungewohnt gesprächig für seine Art. „Die yarlara von Moréaval ist eine sehr kluge und tugendhafte Dame.”
„Die yarlaranda ist ein liebes Mädchen. Sie wird Truda sicher eine gute Kameradin sein”, entgegnete Osse. Dass der Vater die fremde Dame lobte, irritierte den Jungen. Er entsann sich nicht, dass er jemals ähnliches über die Mutter ausgesprochen hatte.
Alsgör Emberbey dreht sich auf seinem Lager um. „Ich werde mich um eine gute opayra für Raýneta umschauen müssen”, sagte er.
„Ja, Vater.” Osse zählte. Wie einsam würde die Zeit für das winzige, schutzlose Schwesterchen werden, wenn Truda und er selber die Burg verließen? Mit wem würde das Kind spielen und wer würde es umsorgen und ihm Lieder singen und Geschichten erzählen wie die Mutter es einst bei ihm und später bei Truda getan hatte?
Sechzig Buchstaben in einer Zeile, dreißig Zeilen auf einer Seite.
„Wir werden abreisen, sobald Herr Waýreth seinen ungeratenen Sohn wieder bei sich hat. Es wäre taktlos, sich nun zu entfernen.”
„Sicher, Vater.” Osse strich vorsichtig eine Träne vom Papier.
„Ich bin froh”, sagte der Ritter, der gar nicht müde zu werden wollen schien, „dass die Mächte mich mit einem gehorsamen Sohn beschenkt haben.”
War das ein Kompliment? Der Junge schaute von seinem Buch auf, aber in der dunklen Zimmerecke war der Vater kaum zu erkennen.
Eine Weile regte und äußerte sich der alte Ritter nicht mehr. Dann hörte Osse sein näselndes, trockenes Schnarchen, leise und gedämpft. Draußen hatte das Klopfen aufgehört.
Lautlos erhob der Junge sich, löschte das Öllämpchen und streifte sich das Nachthemd über den Kopf, das er über seine Hausgewänder gezogen hatte. Der Vater hatte tatsächlich nicht richtig hingeschaut, als er nur wenige Momente später in die Stube zurückgekehrt und seinen Sohn in die Lektüre vertieft vorgefunden hatte.
Osse löste leise den Riegel und spähte auf den Gang. Die Nachtlichter gaben ein bisschen Orientierung; gerade genug für den Jungen um zu erkennen, dass der Wachmann seinen Posten verlassen hatte. Die Hellebarde lehnte neben der Tür der teirandanja an der Wand.
Osse Emberbey nahm all seinen Mut zusammen, zog die Zimmertür behutsam hinter sich zu und schlich dorthin. Leise pochte er an.
„Majestät?”, flüsterte er.
Fast augenblicklich wurde ihm geöffnet. Die teirandanja musste ebenfalls hinter der Tür auf der Lauer gelegen haben. Sie war angekleidet und trug über ihrem hellen Kleidchen sogar einen Überwurf aus dunkelgrünem Loden, als sei sie unterwegs zu einem Jagdausritt.
„Du?”, fragte sie, erstaunt und etwas zu laut.
„Wen habt Ihr erwartet, Majestät? Und bitte, seid etwas leiser!”
„Na ja. Einen von meinen … Dienstleuten eben.”
„Ich bin Euer Dienst-…”
„Ja. Tut mir leid. Ich muss mich daran gewöhnen”, flüsterte sie. „Komm rein!”
„Nein, Majestät, kommt Ihr heraus! Eure Dienstleute brauchen Euch vor Ort. Lasst uns gehen, solange der Wächter fort ist.”
Sie schaute sich um. „Wo ist er denn?”
Er erlaubte sich mahnende Ungeduld. „Bitte, Majestät! Verlieren wir keine Zeit!”
Sie schlüpfte ins Freie. „Und wo sind die beiden? Ich habe die yarlandoray Altabete und Grootplen erwartet!”
Er legte die Finger an die Lippen und winkte ihr, ihm zu folgen. Auf leisen Füßen schritt sie neben ihm, als er den Weg zum Stiegenhaus einschlug.
„Wenn alles glückt, wie es soll”, raunte er, „warten sie im Garten auf uns.”
„Gut”, sagte sie und wollte ihm voran die Treppe hinunter. Aber er fasste sie eilig bei der Schulter und zog die Hand sogleich so schnell zurück, als habe er sich an ihr verbrannt. Die teirandanja blieb erschrocken stehen. Berühren durfte er sie nicht, das wusste er. Aber dies war ein Notfall.
„Nicht nach unten”, zischte er. „Hinauf. Und über den Wehrgang.”
„Warum?”
„Weniger Leute.”
Sie nickte, lächelte sogar ganz kurz. Vielleicht nutzte sie selbst diesen Umweg aus genau demselben Grund bisweilen.
Sie stiegen die beiden Etagen bis zur Mauerkrone hinauf, tatsächlich ohne dass ihnen auf der Treppe jemand begegnete. Osse klammerte sich bei jedem Schritt nervös am Handlauf fest. Die Stufen im Halbdunkel der Lichtlein in den Wandgläsern zu erklimmen war ihm nicht geheuer, aber sie stieg ihm leichtfüßig voran.
An den Weg nach unten, den er zuvor bei Tageslicht mit Merrit Althopian gegangen war, wagte er noch nicht zu denken.
Oben auf der Mauer hielt sie es nicht länger aus. „Wie kommt es, dass du mit Láas und Jándris gemeinsame Sache machst?”, fragte sie.
„Ich hörte davon, dass ein gewisser yarlandor nach eurem Willen zu den Ratten sollte, um Euch aus den Augen zu bleiben.”
„Du hast also meinen Brief gelesen.” Es überraschte ihn, wie verunsichert sie klang.
„Die Mächte haben ihn mir in die Hände gespielt. Es war keine Neugier, Majestät, aber vielleicht eine Fügung.”
„Wer weiß außer dir davon?”
„Nur jene, für die der Brief bestimmt war.”
Nun schien sie auf eine sonderbar hoffnungsvolle Art panisch. „Ich … ich befehle dir, über diesen Brief immerdar zu schweigen. Hörst du? Wenn du mich verpetzt, dann … dann ist das Hochverrat!”
„Ich verstehe. Es ist Euch also sehr ernst.”
„Ich … ach, ich wünschte, ich hätte diesen furchtbaren Brief nie geschrieben.” Sie blieb stehen und blickte über die Mauer auf das weite ebene Land hinaus. Viel zu sehen war nicht unter dem Mond. „Dass der Junge verschwunden ist, hängt also mit dem Brief zusammen, ja? Láas und Jándris halten ihn irgendwo fest?”
„Ja.”
„Aber du weißt nicht, wo?”
„Ich weiß ich nicht einmal um den Brief.”
Sie seufzte unbehaglich. Er trat an ihre Seite und schaute ebenfalls in die Schwärze. Was mochte sie darin sehen?
„Ihr müsst es auflösen, solange es ein Kinderspiel ist”, erinnerte er sie. „Herr Waýreth ist in Nöten.”
„Ja”, sagte sie. „Wahrscheinlich denkt er, der Junge sei vor ihm weggelaufen.”
„Ihr müsst Merrit Althopian vergeben”, sagte Osse geduldig. „Womit auch immer er Euch geärgert haben mag. Sicher war es ein Missverständnis.”
Sie nickte. Dann wandte sie sich ihm zu und sah ihm zum ersten Mal direkt ins Gesicht.
„Osse Emberbey”, fragte sie leise, „hast du schon einmal etwas richtig böses gemacht?”
„Nicht willentlich, Majestät. Nicht, dass ich wüsste. Mein Vater lässt mir keinen Ungehorsam durchgehen. Und ich kann niemandem hitzige Befehle erteilen.”
Sie dachte nach. „Hättest du gern Macht? Ich meine, später. Wenn du erwachsen bist.”
Was war das für eine sonderbare Frage? Sie wollte auf etwas heraus, das war ihm klar. Aber er verstand nicht, was sie beschäftigte.
„Ich glaube, Macht ist gefährlich”, fuhr sie fort. „Du kannst dir nicht denken, was ich durchgemacht habe, seit Meister Yalomiro mit mir geredet hat.”
„Ich denke, Macht ist nützlich, Majestät. Mit Macht kann man Gutes bewirken.”
Sie schwieg einen Augenblick nachdenklich. Dann gab sich einen Ruck. „Komm, Osse Emberbey. Ich will mein Herz reinwaschen.”
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