Merrit Althopians Traum begann wunderschön. Die rote Dame hielt ihn bei den Händen und redete zu ihm, auf eine seltsame Weise, denn er verstand ihre Worte nicht. Es war wie eine uralte Sprache, die ganz ohne Klang auskam, die er direkt in seinem Herzen wahrnahm.

Doch was sie sagte, war – nein, es gab nichts, was es beschreiben könnte. Aber es nahm für eine Weile alle Müdigkeit, alle Wut und alle Last und vor allem den Schmerz von ihm. Sie nahm ihn in den Arm und ließ ihn sehen, einen Blick auf etwas werfen, das sich mit dem Augen überhaupt nicht erfassen ließ. Merrit schaute und wusste nicht mehr zu erkennen als dass es … gut tat.

Aber ebenso wusste er, dass sie ihn noch nicht dorthin gehen lassen würde.

Dann verblasste der Traum, und als der Junge erwachte, war der rote Mantel, den er als Decke benutzt hatte, ganz nass und er selbst erschöpft und schwer, als habe er sich beim Laufen und Kämpfen verausgabt. Offenbar hatte er im Schlaf geweint wie ein Wiegenkind, bis die Tränen zur Neige gegangen und sein Geist reingewaschen waren.

Merrit schniefte und setzte sich auf. Der Traum, den er mehr gefühlt als erlebt hatte, begann ihm bereits zu entgleiten. Er kletterte vom Tisch herab und fragte sich, wie lange er wohl geschlafen hatte. Ob es schon hell war? Ob die beiden älteren Jungen bei der teirandanja hatten vorsprechen können?

Er tastete sich hinüber zum nächstliegenden Fensterladen und versuchte, ihn aufzuschieben. Diesmal, so nahm er sich vor, wollte er sich nicht von der Tiefe faszinieren lassen. Aber das schwere Holz rührte sich um keinen Fingerbreit, wie sehr er sich auch mühte.

Der Junge tastete sich an der Wand und an den Regalen entlang, brachte dabei irgendetwas irdenes zu Fall, das auf den Boden aufprallte, zerbrach und einen intensiven Kräutergeruch freigab. Doch auch der nächste Fensterladen saß fest, als sei er Teil des Mauerwerks. Aber hier gab es einen kleinen Spalt im Holz, breit wie sein kleiner Finger. Der Junge linste hindurch, sah aber nicht viel mehr als dunkelblaue Finsternis. Es war also noch Nacht.

Er tastete weiter, am Bett vorbei zum nächsten Fenster, schlug sich das Knie an der kleineren Truhe an, fand auch hier die Läden unverrückbar und entschied sich dann, eine Kerze anzuzünden, die ihm auf einem Regal in die Hände fiel. Ein kleines Feuerzeug führte der Junge zum Glück stets in seiner Tasche bei sich.

Wieso waren die Fensterläden nicht zu öffnen? Bei der Tür konnte er sich das noch erklären; Jándris und Láas hatten sie wahrscheinlich mit irgendetwas effektiv verrammelt. Dass er mit seinem Streitflegel keinen Erfolg gehabt hatte – nun ja. Besonders hartes Holz und eine bei ehrlicher Betrachtung recht verbrauchte Dornenkugel. Aber die Fensterläden, die er selbst noch eigenhändig zugemacht hatte?

Das ging nicht mit rechten Dingen zu. Wenn etwas nicht recht war, war sicherlich etwas Übernatürliches im Spiel. Und war nicht vorhin noch ein Magier leibhaftig in der Burg anwesend gewesen?

Merrit kam zu der Einsicht, dass er hier nun zwar ohne Ratten und geschützt vor Wind und Kälte saß, sich die Finsternis unten im Verlies mit der hier in dem abgeschotteten Turmzimmer aber nicht viel nahm. Mit etwas Glück würde durch Fugen im Holz ein wenig Tageslicht hereinkommen, sobald die Sonne aufgegangen war, aber das nun so verdunkelte Zimmer war ihm doch unheimlich. Und nicht nur das: Durch die Holzläden würde man ihn weder rufen hören noch konnte er seinen ursprünglichen Plan, etwas herab zu werfen, durchführen. Wie wahrscheinlich war es, dass jemand am Tag den Turm hinauf blickte und sich wunderte, dass die Läden geschlossen waren? Waren sie das vielleicht sogar üblicherweise?

Es würde ihm nichts übrig bleiben, als zu warten, bis diese beiden Vollidioten ihm die Tür öffneten.

Der Junge beschloss, nicht die Nerven zu verlieren wie ein unmündiges Kind. Er war Merrit Althopian, der Nachkomme einer langen Linie tapferer yarlay, die unzählige Abenteuer bestanden hatten, wenn man den Familienchroniken Glauben schenkte. Was würde der Vater tun, wäre er an seiner Stelle an diesem Ort?

Merrit Althopian dachte kurz nach und begann, die Stube erneut zu durchsuchen, diesmal nicht nach Schätzen oder blutigen Dolchen, sondern nach Dingen, mit denen sich Licht machen ließ.

***

Manjév war froh, sich ein Mäntelchen übergeworfen zu haben. Es war empfindlich kalt bei Nacht zu dieser Jahreszeit. Nicht mehr lange, und die Bäume würden bunt und danach kahl werden und Schnee die Ebene bedecken. Eine langweilige Zeit würde das werden, denn es war üblich, dass während der dunkelsten und kältesten Nächte, wenn der Schnee das Reisen erschwerte, die yarlay bei ihren Familien auf den eigenen Burgen blieben. Sie würde also eine Weile auf die Gesellschaft von Tíjnje, Láas und Jándris verzichten müssen.

Noch hatte der Vater nicht entschieden, ob er zuvor noch einmal für einen oder anderthalb Monde zurück nach Spagor reisen würde. Seine Anwesenheit in der Burg am Meer war nicht zwingend erforderlich, um das Tagesgeschäft dort kümmerten sich fähige maedloray. Aber der Vater war doch oft der Ansicht, es sei besser, ab und zu Anwesenheit zu zeigen. Vielleicht, dachte Manjév sich, nahm er sie diesmal mit. Sie erzählte es dem Jungen aus Emberbey, der mit ihr in der Rosenlaube saß und am ganzen Körper bebte, allerdings nicht vor Kälte. Er schien es nicht fassen zu können, dass er bei schlechter Beleuchtung und ohne Unfall die steile Treppe vom Wehrgang in den Gartenbereich bewältigt hatte. Ganz allein.

„An Eurer Stelle, Majestät”, sagte er, als er bemerkte, dass sie mit ihm redete, „würde ich das gut abwägen. Im Winter ist es bitterkalt und der Wind schneidet wie ein Messer.”

„Und Schnee?”

„Wenig. Er bleibt nicht an der Küste liegen, weil der Wind ihn so schnell ins Landesinnere treibt. Aber es ist oft Eis auf dem Wasser. Unsere Bucht friert regelmäßig zu.”

„Wie lustig”, sagte sie. „Dann kann man zu Fuß übers Meer gehen?”

Osse Emberbey schaute sie verwirrt an. „Warum sollte man das tun?”

„Weil es Spaß macht?”

„Selbstverständlich. Spaß …”

„Du bist ein wirklich seltsamer Kerl”, sagte sie. „Du bist kaum älter als ich und benimmst dich schon wie dein Vater.”

„Danke, Majestät.”

Sie hatte das nicht als Kompliment gemeint, aber wenn er es für ein solches nahm … nun gut. Doch es fiel ihr schwer, ein Gespräch mit ihm in Gang zu halten, während sie warteten. Láas und Jándris waren nämlich, entgegen der Ankündigung des Jungen, nicht anwesend. Ein Umstand, der ihn tatsächlich selbst zu verunsichern schien.

„Gewiss wurden die beiden aufgehalten”, versicherte er. „Sie waren so bestrebt, Euch zu treffen. Wenn sie nun nicht kämen, wäre das seltsam.”

„Und du weißt wirklich nicht, was sie mit Merrit Althopian angestellt haben?”

„Nein. Ich wollte nicht weiter nachfragen. Das ist allein Eure Sache. Ich werde warten, bis die beiden eintreffen und dann wieder gehorsam in unser Gastgemach zurückkehren. Mein Vater kündigte an, dass wir aufbrechen werden, sobald Merrit Althopian wieder in Erscheinung tritt. So die Mächte wollen, also im Laufe des morgigen Tages.”

„Ich will, dass du hierbleibst.”

„Mein Vater …”

„Nein, ich meine … bleib hier, wenn Láas und Jándris eintreffen. Du …” Sie zögerte und war überzeugt, wäre sie nur einige Sommer älter, hätte sie besser aussprechen können, was ihr auf dem Herzen lag. „Du wirst doch einmal so etwas wie mein mynstir sein, oder?”

„Ich denke, das ist das, was die Mächte von mir erwarten. Mit einem Schwert kann ich nichts anfangen.”

„Ich glaube”, sagte sie, setzte sich quer auf die Bank und zog die Knie an, „so viele Leute mit Schwert werde ich gar nicht brauchen. Láas, Jándris … Merrit … und wer weiß, ob die Mächte nicht einem von ihnen oder Tíjnje noch einen Bruder schenken.”

„Ihr könnt nicht wissen, was die Mächte mit Euch vorhaben, Majestät.”

„Eben. Und weißt du … ach.” Sie stützte das Kinn auf die Knie. „Weißt du, alles das hier, das ist nur passiert, weil ich nicht nachgedacht habe. Weil … da waren ganz viele Gefühle, aus dem Nichts, und alle viel lauter als mein Verstand. Und anstatt dass ich meine Eltern um Rat gebeten habe …”

„Wieso habt Ihr nicht, Majestät?”

Sie dachte nach. „Ich glaube, ich habe gedacht, dass sie sich über den Gedanken erschreckt hätten. Deshalb hab ich es heimlich gemacht.”

Er fragte nicht neugierig nach. Zugleich hatte Manjév nicht den Eindruck, dass er sich ein Urteil über sie bildete. Er hörte einfach nur zu. Das war angenehm. Sie betrachtete ihn nachdenklich aus den Augenwinkeln. Er schien ruhiger zu werden, nachdem sie ihn abgelenkt hatte.

Sie wollte ihn weiter ausfragen, mehr über ihn erfahren, andere Dinge als das langweilige, oberflächliche Zeug, das sie bei Tisch vor den Ohren der anderen aus ihm herausgeholt hatte. Aber sie kam nicht dazu. Zwischen den hohen Bohnenranken und Beerenbüschen raschelte es. Láas und Jándris zischten sich mit gedämpften Stimmen gereizt an.

„Bitte, bleib bei mir”, sagte sie und erhob sich. „Ich will, dass du alles erfährst.”

„Es geht mich nichts an, Majestät.”

„Bitte!”

Er regte sich nicht. Sie senkte enttäuscht den Kopf und trat aus der Laube heraus, um allein ihren Dienstleuten gegenüberzutreten.

Die beiden jungen yarlandoray kamen heran. Manjév hob überrascht die Brauen. Außer jeweils einer Stalllaterne schleppten die beiden Metallzeug mit sich. Sie waren voll gerüstet, trugen ihre Knappenhelme und Schilde. Jándris hatte einen Kriegshammer bei sich, Láas eine Streitaxt. Scharfe Waffen, keine Ausrüstung für Übungen.

„Mein Vater hat mich aufgehalten”, flüsterte Láas ihr entgegen, als er sie entdeckte. „Sonst wären wir früher hier gewesen!”

„Was habt ihr vor?”, fragte die teirandanja, befremdet über den martialischen Auftritt.

Im selben Moment stand Osse Emberbey hinter ihrer linken Schulter.

„Das ist nur zur Sicherheit”, sagte Jándris mit geisterhafter Fröhlichkeit und versuchte, die spitze Waffe hinter dem Schild zu verstecken.

„Sicherheit?”, fragte Osse. „Das sieht aus, als zieht ihr in den Krieg!”

„Was machst du denn noch hier?”, gab Láas ungehalten zurück. „Gehörst du nicht ins Bett?”

„Ich will, dass er hier ist”, sagte Manjév. „Erklärt euch. Was soll das Waffenzeug?”

„Na ja. Es ist nicht auszuschließen, dass der Frechling überreagiert.”

„Es ließ sich nicht umgehen, dass er seinerseits die Hände an eine Waffe bekam.”

„Ihr habt ihn also irgendwo eingesperrt?”

Die beiden nickten.

„Dann verlange ich, dass ihr ihn umgehend laufen lasst”, sprach Manjév aus, was sie die ganze Zeit so dringend hatte sagen wollen. „Ich widerrufe meinen Befehl.”

Die Jungen wechselten einen halb bedenklichen, halb erleichterten Blick miteinander. Dann sagte Jándris: „Manjév, ich denke, es wäre gut, wenn du mitkommst und ihm erklärst, was das Ganze sollte.”

„Ja”, schloss sich Láas an. „Vielleicht erfahren wir dann auch, was geschehen ist.”

Sie sank in sich zusammen. Einen kleinen Rest Hoffnung hatte sie noch gehabt, um die Geschichte herumzukommen. Aber es sollte wohl nicht sein. „Wo habt ihr ihn?”

„Im Turm.”

„Ihr habt ihn doch wohl nicht wirklich ins Verlies gesperrt?”, fragte die teirandanja entsetzt. „Was, wenn jemand etwas aus dem Abstellgewölbe holen will?”

„Nein, nicht im Kerker. Oben im Turm.”

„Oben?”

„Ja, oben in dem mysteriösen Turmzimmer, wo die Tür …”

„Wo die Tür am Abend ausnahmsweise offen stand, damit der Magier mit den teiranday im Geheimen reden konnte?”, fiel ihm Osse Emberbey ins Wort. „Bei den Mächten. Du hattest gelauscht?”

Manjév wandte sich ihm überrascht zu. „Woher weißt du …”

„Abendtüre. Das hat die yarlaranda von Moréaval gemeint. Die Tür, die keines Menschen Hand öffnen konnte, stand heute abend also offen?”

„Ja, aber …”

„Und jetzt ist sie wieder geschlossen?”

„Natürlich. Sonst würde der Frechling doch gleich wieder rauslaufen.”

„Und Meister Yalomiro ist nicht mehr hier”, murmelte Manjév. „Der ist unterwegs zu seiner Familie.”

Die vier Kinder standen einen Moment ratlos beieinander.

„Kommt”, sagte Manjév. „Gut, dass ihr dieses furchtbare Kampfzeug dabei habt. Hoffen wir, dass wir es nicht brauchen.”

***

Salghiára!

Ich schreckte hoch. Yalomiro? Wo war er? Ich hatte seine Stimme doch gerade ganz deutlich …

Verflucht. Natürlich hatte ich sie ganz deutlich gehört. Ich musste nach all der Anstrengung unter dem schützenden Magiegitter auf dem Großmeisterthron eingeschlafen sein. Wahrscheinlich hatte Yalomiro genau auf diesen Moment gewartet, um sich in mein Traumgeschehen einzuschalten. Das war eine Kunst, die Schattensänger beherrschten, die miteinander sehr vertraut waren. Erfahrene Magier konnten so über große Entfernungen hinweg in der Nacht kommunizieren, wenn sie sich zu abgesprochener Zeit in Trance versetzten. Bei Leuten wie mir, die einen solchen Bewusstseinszustand nicht willentlich herbeiführen konnten, weil sie zu dumm dazu waren, funktionierte es auch im Traum. Erfahrene Schattensänger waren dazu in der Lage, Träume zu betreten und sie zu formen.

Ich musste unbedingt schnell wieder einschlafen!

Erwartungsgemäß misslang das. Ich hatte nie zu denjenigen gehört, die auf Kommando einschlafen konnten. Zugleich war mir klar, dass es vollkommen kontraproduktiv war, wenn ich mich nun unter Druck setzte.

Ich versuchte es dennoch eine Weile, aber es gelang mir nicht mehr, auch nur in eine bequeme Sitzposition zu gelangen. Es hatte keinen Zweck.

Das Magiegitter glomm nicht mehr so intensiv wie zuvor; ein sicheres Zeichen dafür, dass die Nacht vorangeschritten war. Sicher war es unnötig, noch weiter auf dem schwarzen Steinthron zu sitzen. Also erhob ich mich, durchschritt die letzten Reste von Schutzmagie und tappte barfuß aus der kathedralenartigen Halle in das Vorhaus des Etaímalon, wo wir normal dimensionierte Zimmer bewohnten.

Ich ging in Yalomiros Arbeitszimmer und schaute mich in dem Winkel um, wo er getrocknete Kräuter, Blätter und Samen aufbewahrte. In der allerersten Nacht, die ich damals in dieser Welt verbracht hatte, hatte ich ebenfalls nicht schlafen können. Yalomiro hatte mich damals kurzerhand ausgetrickst, indem er mir eine Art Schlaftrunk aus einem Kraut und Grundwasser verabreicht hatte. Das Zeug hatte damals gewirkt wie eine Vollnarkose. Mit Sicherheit hatte Yalomiro etwas von diesem Zauberkraut hier vorrätig. Wenn ich mir einen Tee daraus zubereitete, vielleicht …

Ernüchtert stand ich vor all den Döschen, Gläschen und Kräuterbüscheln, die an Fäden aufgereiht hingen. Natürlich hatte Yalomiro kaum etwas davon beschriftet. Wozu auch? Er war der einzige hier, der mit den Pflanzen hantierte, um die Elixiere für die Unkundigen herzustellen. Er wusste, was er jeweils vor sich hatte. Das einzige, was ich mit Gewissheit sagen konnte, war, dass nichts von dem, was hier offen lag, tödlich giftig war. Ich hatte darauf bestanden, dass er solches Material hinter einer verschlossenen Tür aufbewahrte, damit Dýamirée nicht unbedacht etwas davon in den Mund steckte. Er hatte diese Vorsicht übertrieben gefunden (vermutlich, weil Schattensänger instinktiv Gift erkennen konnten), mir den Gefallen jedoch getan. Nun schützte es mich selbst vor Dummheiten.

Ich versuchte, mir in Erinnerung zu rufen, wie die sonderbare Heidepflanze ausgesehen hatte, kam damit nicht weit und musste mir dann eingestehen, dass ich sie in getrocknetem Zustand ohnehin wohl nicht erkannt hätte. Dafür fand ich etwas, das ich vom Duft her ziemlich sicher für Melisse hielt. Im Bewusstsein, dass nichts Schlimmes passieren konnte, bereitete ich mir einen Aufguss aus ein paar Blättern zu und zog mich damit in die Stube zurück, in der Yalomiro und ich schliefen. Sicher würde ich hier auf dem Bett leichter einschlafen als in Noktámas Halle. Ich trank schluckweise das heiße Getränk – wie ich ohne Feuer kleine Mengen Wasser erhitzen konnte, war einer der wenigen praktischen Alltagszauber, die ich sicher beherrschte – und kuschelte mich dann in die Kissen.

Einschlafen. Jetzt!

Ich schloss die Augen und versuchte, langsam und bewusst zu atmen. Im Haus war es absolut still. Für Vogelgesang war es draußen noch zu früh, und es fehlten die vertrauten Geräusche von Yalomiros und Dýamirées Anwesenheit. Die Stille war mir schon bald zu laut.

Ich drehte mich zur Seite und streckte die Hand aus, dorthin, wo Yalomiro üblicherweise lag und schlief. Das Laken dort war flach und kühl. Zumindest eine ganz, ganz flüchtige Spur seines Duftes erhaschte ich, ein vertrauter Geruch nach frischen Blättern und einer Spur von Harz. Anfangs, als ich Yalomiro gerade erst kennengelernt hatte, hatte ich mich über diesen angenehmen Duft gewundert, den scheinbar ich allein wahrnehmen konnte. Ich holte mir sein Kopfkissen näher und schmiegte mich daran. Das war besser. Ich atmete konzentriert, richtete all meine Aufmerksamkeit auf den Duft, meine Gedanken auf ihn und dann wurde mir ganz fürchterlich übel.

***

Yalomiro Lagoscyre schauderte. Er hatte eine Weile in der Wirklichkeit verbracht, war durch eine düstere Klamm südwestlich des yarlmálon Valfrontír im Montazíel marschiert und hatte dabei nach Salghiára Ausschau gehalten. Einmal war es ihm ganz kurz beinahe gelungen, sie zu packen, aber sie war ihm sofort entglitten. Wahrscheinlich war sie so aufgeregt, dass er sie erschreckt und geweckt hatte.

Er hatte es noch einige Male versucht, aber ohne Erfolg. Nun, er war bald über den Montazíel hinweg. Sobald er die Heide von Hethrom betrat, würde er sich in ein Pferd verwandeln und rennen. Am Mittag, vielleicht noch früher, konnte er den Etaímalon erreichen und würde endlich herausfinden, was geschehen war.

Für den Moment schlüpfte er wieder in den Schatten und ging weiter. Auf diese Weise musste er sich nicht an die verschlungenen Umwege, Pässe und Täler halten.

Doch als er diesmal in den Schatten ging, war etwas … anders als vorher.

Yalomiro Lagoscyre blieb stehen und fühlte irritiert in die Dunkelheit hinein. Es war nicht viel, nur eine winzige Kleinigkeit, die sich verändert hatte. Etwas, das unbedeutend, fast nichtig war, aber definitiv nicht hierher gehörte, auch nicht hier war, aber irgendwie doch … störte.

Wie eine Ameise, die sich in ein Haus mit tausend Zimmern verirrte. Allein, verwirrt und unauffindbar.

Der Schattensänger ging weiter, langsamer, bedacht. In den Schatten waren seine Sinne geschärft, denn hier gab es nichts zu sehen oder zu hören außer Noktámas Dunkelheit. Das, was er bemerkt hatte, spürte er auf seiner maghiscal wie ein Staubkörnchen auf seinem Mantel.

Irgendetwas im Weltenspiel hatte Dunkle Magie aufgestört. Irgendwo geschah etwas. Konnte es etwas sein, das er selbst unbedacht bewirkt hatte? Nein, unmöglich. Alles, was er in den vergangenen Tagen an Magie gewirkt hatte, hatte er auch wieder gelöscht und versiegelt. Salghiára konnte nichts geschaffen haben, das er bis hierher spüren konnte. Dýamirée war unkundig.

Dýamirée. Ob es auf irgendeine Weise doch mit seiner Tochter zu tun hatte?

Der Schattensänger schüttelte die ungute Ahnung ab, die sich seiner bemächtigen wollte. Nicht ablenken lassen. Nicht unnütz Wahrscheinlichkeiten erwägen. Was immer ihn hier gerade in Noktámas Domäne berührte, es war so schwach und nebensächlich wie ein einzelnes Sandkorn, das ihm in den Schuh geraten war. Unter anderen Umständen hätte er keine Notiz davon genommen.

Yalomiro Lagoscyre begann, zu rennen.