
Yalomiro hatte den erschrockenen Ausdruck auf dem Gesicht der teirandanja wohl bemerkt und fragte sich einen Augenblick lang, ob er tatsächlich besser so hätte so sprechen sollen, dass das Kind es nicht gehört hätte.
Nein, entschied er dann. Mochte sie eine kurze Weile allein mit dem sein, was ihr Verstand und die erdrückende Schwere des schuldbewussten Gewissens daraus machten, die er an ihr wahrnehmen konnte. Manjév von Wijdlant war ein unschuldiges Kind mit klarem Verstand und einem gütigen, gerechten Herzen. Von allen Kindern hier in der Burg war sie dasjenige, das es gerade am meisten zu beschützen galt. Der Schattensänger zweifelte nicht mehr daran, dass jene furchtbare Wesenheit, die er immer wieder erkennen würde, seit er sie damals in sich selbst getragen hatte, ihr Glück versuchte.
Nein. Nicht, wenn er es verhindern konnte. Und nicht jetzt. Diesmal war er gewarnt, und er war hier, um dem Spielverderber das Spiel zu verderben.
Vorerst schloss und versiegelte er mit einem Wink die Tür zwischen ihr und dem Audienzzimmer. Dann besann er sich und tat das Gleiche mit dem Fenster und der kleinen Nebentür. Weglaufen durfte die Kleine ihm nicht.
„Redet Ihr im Ernst, Meister Yalomiro?”, fragte Kíaná von Wijdlant erschrocken. „Ihr meint, das … das Widerwesen …”
„Das Widerwesen?”, rief Asgaý von Spagor entgeistert. Sein Gesicht war kreidebleich vor Entsetzen. „Seid Ihr bei Sinnen?”
„Majestät, über Derartiges würde ich niemals scherzen. Aber macht Euch keine Sorgen.”
„Meister, Ihr könnt mir nicht zugleich sagen, das … ich mag es nicht aussprechen … und zugleich zu raten, mir keine Sorgen zu machen!”
„Doch, das kann ich. Vergesst bei alledem nicht, dass das, was Ihr nicht auszusprechen mögt, nichts gegen den Willen ausrichten kann, den die Mächte den Menschen geschenkt haben. Es war gut und richtig, dass Ihr mich hergerufen habt. So konnte ich mir einen Eindruck von dem machen, was in der Zukunft geschehen könnte.”
„Wieso denkt Ihr, dass Manjév …”
„Lasst mich mit dem Kind allein sprechen. Und zugleich bitte ich Euch, auch wenn mir klar ist, wie schwer Euch das fallen wird, es nicht hernach sofort nach dem auszufragen, was zwischen ihr und mir geredet wurde. Es sei denn, sie erzählt es Euch von sich aus. Das müsste ich respektieren.”
„Ich weiß nicht, was ich davon halten soll”, sagte Asgaý von Spagor unbehaglich. „Es macht mir Angst.”
„Ich will nichts entgegen Eurem Vertrauen tun. Wenn Ihr es wünscht, belasse ich es dabei, meine bescheidene Vorahnung geäußert zu haben und kehre dann wieder zu meiner Familie zurück.”
Kíaná von Wijdlant legte die Hand auf den Arm ihres hýardor. Sie schaute zu Yalomiro hinüber, vermied zwar Blickkontakt, aber sie nickte still. Die teiranda wusste, wovon er sprach. Sie hatte es miterlebt, und ihr hatte er die Erinnerung nicht nehmen können, um sie zu entlasten.
„Was können wir tun?”, fragte sie.
„Genau das, was Ihr bisher tut. Seid dem Kind liebevolle Eltern. Hört der teirandanja gut zu, wenn sie Euch ihre Freuden und Nöte erzählt. Bedrängt sie nicht und lasst sie ihren eigenen Weg finden. Vorerst sind es nur Kinder, die teirandanja und jene, die sie durch das Weltenspiel begleiten. Noch hat das … nicht Genannte keinen Zug getan. Es scheint noch … zu prüfen. Es betrachtet. Vielleicht gibt es sein Spiel auch wieder auf und wendet sich Dingen an anderen Orten zu, von denen wir nichts ahnen.”
„Was wollt Ihr uns damit sagen?”
„Seid wachsam. Aber bewahrt die Ruhe. Und nun entschuldigt mich für den Moment. Die teirandanja erwartet mich.”
Er verneigte sich und fügte hinzu: „Übrigens könnten der arme yarl Althopian und die anderen Herren wirklich jede verfügbare Hilfe bei der Suche nach den Kindern benötigen. Auch die Eure, edle teiranda, denn es geziemt sich für die Herren wirklich nicht, in den Damenunterkünften unter Betten und in Truhen zu schauen. Wirklich bemerkenswerte yarlandoray, die beiden Knaben. Ein beherzter und ein kluger Junge. Welche Möglichkeiten, was für eine Stütze und Stärke, wenn es gelänge, diese beiden für die Zukunft zu gewinnen.”
„Ich werde mit Herrn Alsgör darüber reden. Meister.”
„Tut das, Majestät. Ihr findet den yarl vielleicht noch auf dem Außenwall, falls er sich nicht der Suche bereits angeschlossen hat.”
Kíaná von Wijdlant erhob sich. Asgaý von Spagor zögerte noch, dann aber stellte er seinen Becher beiseite und folgte ihr eilig. Als sie das Audienzzimmer verließen, hörte Yalomiro die opayra aufgeregt auf die beiden einflüstern. Offenbar hatte die gestrenge Edeldame geduldig vor der Tür gelauert. Der Magier wartete noch einen Moment, bis die Gruppe sich entfernte und öffnete die Tür zum Nebenzimmer. Wie er erwartet hatte, hatte Manjév gelauscht und wich hastig zurück, als er still eintrat. Ihre kostbaren Spielsachen lagen unbeachtet am Boden.
Yalomiro zauberte die Tür wieder zu. Er rechnete nicht damit, dass das Kind fliehen würde, aber falls es das versuchte, würde es ihn mehr Mühe kosten, ihr Vertrauen wiederherzustellen, als wenn er sie einfach einen Moment gegen ihren Willen festhielt. Er war schließlich nicht hier, um sie zu belehren oder zu schelten. Doch den ersten Schritt musste sie tun.
Er ignorierte ihren verstörten Blick, ging gelassen an dem Mädchen vorbei und ließ sich auf dem Teppich neben der Spielzeugburg nieder. Interessiert hob er eines der hölzernen Püppchen auf und betrachtete es. Wie es sich für herrschaftliches Spielzeug anschickte, handelte es sich um eine erlesene Handarbeit mit erstaunlich detailliert geschnitzten Figuren in winzigen Kleidungsstücken. Der kunterbunt gewandete báchorkor in seiner Hand hatte sogar eine winzige Laute bei sich. Ob Dýamirée an regnerischen Tagen an so etwas Freude hätte? Oder war sie dazu bereits zu alt? Wäre es ihr zu fern? Er entsann sich an das Lieblingsspielzeug seiner Tochter, dieses bizarre Ding aus Wolle und Filz, das Salghiára gebastelt hatte. Dýamirée spielte schon lange nicht mehr damit. Aber es musste immer noch in ihrem Bett schlafen, wie ein unbelebter kleiner Beschützer aus etwas Stoff und ganz viel Liebe. Yalomiro erinnerte sich nicht, als Kind jemals ein Spielzeug besessen zu haben. Schattensängerkinder hatten so etwas nie gebraucht.
So sann er einen Moment nach, bist die teirandanja zu ihm kam und sich ebenfalls wieder setzte. Über die hölzerne Burgattrappe hinweg schaute sie ihn schuldbewusst an.
„Ihr wisst, was ich gemacht habe, nicht wahr?”
„Nicht in allen Einzelheiten. Aber ich weiß davon, ja.”
„Ich hätte das wohl nicht tun sollen.”
„Wenn Ihr wisst, dass es Unrecht war, warum habt Ihr es getan?”
Sie griff verlegen nach einem Püppchen, das eine vornehme Dame darstellen sollte, um etwas anderes zum ansehen zu haben als ihn.
„Ich kann ihn nicht ausstehen. Ich will ihn nicht hier haben. Er soll verschwinden. Ganz weit weg.”
„Ihr habt noch kein einziges Wort mit ihm gewechselt, soweit ich das weiß.”
Sie nickte. Yalomiro spürte, wie eine tiefe Erschöpfung sie ergriff. Das war seltsam.
„Könnt Ihr den yarl Althopian leiden, Majestät?”
„Ja, sehr! Herrn Waýreth habe ich sehr gern! Er ist nett und klug und passt gut auf Papas teirandon auf.”
„Und wenn ich Euch sagte, dass Merrit Althopian seinem Vater in so vielen Dingen gleicht?”
Sie seufzte unwillig.
„Er ist für einen Knaben in seinem Alter ganz bemerkenswert gut erzogen und ohne Dünkel.”
„Er war heute Nacht beinahe in meinem Zimmer drin!”
„Würdet Ihr mir glauben, wenn ich Euch sagte, dass er darüber erschrockener war als Ihr? Es war ein Versehen, das seiner Ortsunkenntnis geschuldet war. Ganz sicher wollte er Euch nicht belästigen.”
„Ich kann ihn trotzdem nicht leiden, Meister. Es … er … er ist abscheulich!”
„Abscheulich?”
„Ich ertrage es einfach nicht, wenn er in den Nähe ist. Er … es fühlt sich schlimm an.”
Yalomiro betrachtete geistesabwesend das Figürchen, das er in der Hand hielt. Was das Mädchen sagte war … interessant. „Inwiefern ist es Euch unangenehm?”
„Ich weiß nicht. Ich würde es Euch gern erklären, aber ich weiß gar keine Worte dafür, wie es sich anfühlt.”
„Nun … ich habe vorhin mit ihm reden können. Ich habe an ihm absolut nichts Bedrohliches gespürt, dass mir Sorgen bereitet hätte. Ihr wisst, dass ich mich in solchen Dingen auf meine Sinne verlassen kann.”
„Heißt das, Ihr glaubt mir nicht?, fragte sie mutlos.
„Nein. Es heißt, dass es wohl etwas sein muss, das ich mit meinen magischen Sinnen nicht wahrnehmen kann.” Oder mit meinen menschlichen, fügte er in Gedanken hinzu und seine Besorgnis wuchs.
Sie konzentrierte sich auf das Damenpüppchen in ihrer Hand, nun ohne es wirklich anzuschauen.
„Könnt Ihr nichts machen, dass er von mir fortbleibt?”
„Wie stellt Ihr Euch das vor? Er hat seine Bestimmung im Weltenspiel zu erfüllen wie Ihr die Eure. Wie sollte ich mich da einmischen?”
Nun schaute sie ihn direkt an. In ihren großen blauen Kinderaugen las er etwas, das an Verzweiflung grenzte.
„Wisst Ihr, was gestern Abend nach dem Essen geschehen ist?”
„Ich habe es beobachtet, ja.”
„Ihr wart anwesend?”
Er lächelte. Offenbar hatte ihn tatsächlich niemand bemerkt.
„Jedenfalls … Papa und Mama sagen, die beiden seien nun sozusagen für immer meine Dienstleute. Das heißt, dieser Junge … ich mag das nicht.”
„Verspürt Ihr dieselbe Abneigung gegen Osse Emberbey?”
Mit dieser Frage hatte sie wohl nicht gerechnet. „Nein”, antwortete sie, ohne zu zögern. „Ich glaube, der ist einfach nur langweilig. Er tut mir leid, weil seine Augen kaputt sind. Aber er scheint ziemlich schlau zu sein.”
„Was genau habt Ihr getan, Majestät?”
„Das wisst Ihr nicht?”
„Nein. Ich hatte mit einer Reihe anderer Leute zu tun und kann meine Blicke nicht überall zugleich haben. Ich spüre nur, dass Ihr beginnt darüber nachzudenken, dass Ihr gestern um diese Zeit noch für ausgeschlossen gehalten habt, Befehle zu erteilen, die anderen schaden könnten. Das lässt mich Schlimmes ahnen.”
„Da wusste ich noch nicht, wie unangenehm … ich …” Sie seufzte jämerlich. „ich habe Láas und Jándris befohlen, dafür zu sorgen, dass er mich in Ruhe lässt,” gestand sie dann.
„Kurz nachdem die beiden die größte Schmach ihres noch so jungen Lebens erlebt haben und gewisse Vergeltungsgelüste noch nicht abgekühlt sind?”
Sie nickte schuldbewusst. Yalomiro wartete.
„Das war den Mächten ungefällig, nicht wahr?”
„Nun, es war nicht besonders nett.”
„Ihr habt gerade zu meinen Eltern gesagt, dass … ich hab das nicht verstanden.”
„Aber Ihr versteht, dass was immer Ihr den beiden Söhnen Eurer yarlay aufgetragen habt, unrecht ist?”
Sie nickte.
„Und das sagt Ihr nicht nur jetzt, nachdem Ihr Euch ertappt fühlt, weil ich davon weiß? Weil ich der Erwachsene bin und ihr das Kind?”
Nun zögerte sie etwas länger. Er ließ ihr die Zeit, konzentrierte sich auf ihre wirren Gedanken. Das war besser, als auf ihre kindlichen Worte zu hören. Ihr Gewissen stritt mit einem Impuls, der sie aus dem Nichts getroffen hatte. Das Gewissen war stark. Aber ihr Missbehagen war es auch.
„Ich glaube”, sagte sie endlich leise, „ich hab es vorher schon gewusst und nicht darüber nachgedacht.”
„Sehr gut, Majestät.”
„Könnt Ihr mir helfen, es ungeschehen zu machen?”
„Warum sollte ich? Es ist Eure Verantwortung. Und noch, Majestät, habt Ihr die Gelegenheit, Eure ungestümen Dienstmänner zurückzurufen, bevor noch ein Unheil passiert, das mehr zertrümmert als Euer rätselhafter Widerwillen gegen Merrit Althopian rechtfertigt. Es ist Eure Verantwortung, Majestät. Und Eure Einsicht.”
„Werdet Ihr meinen Eltern davon erzählen?”
Nun lachte er. „Habt Ihr nicht vorhin noch selbst erlauscht, dass ich unser Gespräch vor Euren Eltern zum Geheimnis bestimmt habe? Und sehe ich aus wie ein Zuträger?”
„Nein. Natürlich nicht.”
„Dann habt das Vertrauen und versucht, die Sache selbst ungeschehen zu machen.”
Sie seufzte. Er spürte vorsichtig in ihre kindliche Seele hinein. Was mochte das nur für ein Ding sein, das ihr die Gegenwart von Merrit Althopian verleidete? Das passte nicht zu dem, was seine Intuition ihm über die Bestimmung der Kinder sagte. Yalomiro überlegte, ob es taktvoll wäre, auch den Jungen nach seinen Gefühlen zu befragen. Wahrscheinlich kam er nicht darum herum.
„Dann will ich nun gehen und Láas und Jándris suchen. Vielleicht sind sie noch nicht fertig mit ihrer Aufgabe, und …”
„Auf ein Wort noch, Majestät. Zufälligerweise weiß ich, dass Merrit Althopian derzeit, sagen wir, unauffindbar ist. Es gibt also keinen Grund zur Eile. Bitte leistet mir einen Moment Gesellschaft und kommt zu mir.”
Sie setzte das Figürchen der Dame achtlos auf dem Turm ab und ging dann zögerlich um das Spielzeug herum auf seine Seite. Er stellte seine Figur achtsam neben die ihre auf die Puppenburg und bot ihr dann seine Hände an. Sie zögerte kurz und befangen. Dann kniete sie sich zu ihm und legte die ihren hinein.
Yalomiro schloss die Augen. Kein Zweifel. Dieses Kind hatte eine wichtige Bestimmung, Wenn die Mächte doch nur etwas deutlicher wären mit dem, was sie für das Weltenspiel planten. Wessen Strategie würde die teiranda von Wijdlant und Spagor einst vertreten?
„Majestät … meine hýardora hat von dem fernen Ort, von dem sie einst gekommen ist, viele Geschichten mitgebracht, die man dort den Kindern erzählt. Ich höre ihr gern und aufmerksam zu, wenn sie unserer Tochter solche Geschichten vorträgt. Viele davon sind albern und amüsant, andere abenteuerlich und verwirrend. Eines haben sie gemeinsam: Am Ende ist es meist der Schwache, Lautere und Aufrechte, der heil und glücklich daraus hervorgeht. Das, Majestät, macht diese Geschichten phantastisch. Es sind Märchen.”
„Ja”, sagte Manjév. „Ich weiß. So kann es nicht immer sein.”
„Mit einer geradezu erstaunlichen Häufigkeit kommen in diesen Geschichten arglistige und neiderfüllte teirandaé vor, die aus Grausamkeit und Selbstsucht den Mächten ungefällige Dinge tun und Menschen Leid zufügen.”
Sie schlug den Blick nieder. Sie schämte sich.
„So eine teiranda will ich nicht sein”, sagte sie leise.
„Ich weiß. Und ich gehe nicht davon aus, dass Ihr Eure künftigen Ritter dazu ausgeschickt habt, Euch Merrit Althopians Lunge und Nieren zum Abendessen zu bringen.”
„Was?”, entfuhr es Manjév entsetzt und voller Ekel. Yalomiro entsann sich, dass es ihm und Dýamirée ganz ähnlich gegangen war, als Salghiára einst dieses seltsame Märchen von der schönen, aber törichten teirandanja, ihrer eifersüchtigen Stiefmutter und den klein gewachsenen Bergleuten erzählt hatte. Dýamirée hatte Salghiára anschließend beständig gefragt, warum die kleinen Männer nicht einfach einen der ihren abgestellt hatten, der das offensichtlich wirklich dumme Mädchen daran hinderte, fortwährend übel gesonnene Krämerinnen einzulassen, nachdem sich die Mordanschläge häuften.
„Ich verspreche Euch, dass ich ergründen will, was Euch an Merrit Althopian so abstößt und ob sich dagegen etwas tun lässt. Ich gebe Euch derweil mein Wort, dass Ihr vor dem Jungen nichts zu befürchten habt. Im Gegenteil. Versprecht Ihr mir nur, in allem, was Ihr tut, zu bedenken welche großen Folgen ein kleines Wort aus dem Mund einer teiranda haben kann. Ich möchte nicht, dass Euch etwas dazu verlockt, eine teiranda zu werden, die in die Märchen meiner hýardora passt.”
Er öffnete mit einem Wink Türen und der Vollständigkeit halber auch das Fenster wieder. Dann bemerkte er, dass ihre kleinen Kinderfinger immer noch vertrauensvoll in seiner anderen Hand lagen.
„Seid Ihr böse mit mir?”, fragte sie leise.
„Fürchtet Ihr den Zorn eines Magiers?”, entgegnete er belustigt.
„Ich will eine gute und gerechte teiranda sein. Aber nun, nun habe ich Angst, dass ich dazu nicht tauge.”
„Ihr seid nicht allein auf Eurem Weg, eine große teiranda zu werden. So viele wohlmeinende Menschen sind um Euch, Manjév von Wijdlant und Spagor, so viel Liebe und Freundschaft schirmt Euch gegen das ab, wovor Eure Eltern sich fürchten. Vertraut auf all jene, die Euch Gutes wollen. Aber werdet darüber nicht unachtsam und hochmütig. Und wenn Ihr einmal zornig seid oder verletzt oder Begierde Euch erfasst … zügelt Euch. Besinnt und beratet Euch. Niemals, nie im Leben, tut etwas aus Zorn oder Erregung heraus. Gesprochene Worte, Majestät, lassen sich schwerer einfangen als heimliche Brieflein. Versucht es nur.”
Sie nickte betrübt und immer noch voller Beschämung. Das tat ihm leid. Sie nahm sich die Angelegenheit so sehr zu Herzen. Es war besser, sie abzulenken.
„Majestät, eine Sache noch. Dieses Spielzeug hier …”
„Die Burg? Ein Geschenk der teiranday von Forétern.”
„Es ist hübsch. Aber habt Ihr noch Freude daran? Beschäftigt Ihr Euch gern damit?”
„Nicht mehr” gestand sie zögerlich. „Aber Tíjnje ist ganz verrückt danach. Ich wollte es ihr demnächst weiterschenken. Ich bin längst zu alt dafür.”
„Danke, Majestät. So werde ich für meine Tochter nach etwas anderem Ausschau halten.”
„Sie ist so alt wie ich, nicht wahr?”
„Ich glaube, Ihr und sie seid nur einige Monde auseinander.”
„Ich mag Brettspiele. Beim Steinespiel bin ich schon besser als Láas. Versucht es mit so etwas.”
„Sie hat keine anderen Kinder, mit denen sie sich messen könnte.”
Manjév lächelte zaghaft. „Das ist traurig. Aber dann müsst Ihr mit ihr spielen.”
„Ich würde immer gewinnen.”
„Ohne Magie. Das wäre gemogelt.”
Er lächelte. „Ich denke darüber nach.”
Sie verneigte sich. Dann ging sie zur Tür, spähte vorsichtig hindurch, fand das Audienzzimmer wohl leer und schlüpfte hinaus.
Yalomiro schaute ihr nachdenklich hinterher. Wie gut würden die beiden Mädchen sich verstehen! Sie waren einander so ähnlich!
Aber darüber konnte er sich später bedenken. Nun galt es herauszufinden, was für ein seltsamer Fluch an dem unglücklichen Merrit Althopian haftete.
***
„Erzähl mir mehr von deinem Sohn,” bat Dýamirée.
Hoch oben in der Luft ließ sich erahnen, wie die Nacht langsam im Süden aufzog. Am Horizont war sie bereits als lavendelfarbener schmaler Streifen zu erkennen.
Perlenglanz war wieder wach und galoppierte kraftvoll und mit ruhigem Schwingenschlag. Das Mädchen staunte, wie unermüdlich das Einhorn war. Cýelú hatte aber bereits angekündigt, dass sie die Nacht am Boden rasten würden. Arcaval’ay flögen nur ungern im Dunklen, hatte er erklärt. Und auch ein Einhorn benötigte ein paar Stunden Entspannung für seine Flügel.
Am nächsten Tag um die Mittagszeit, hatte der Regenbogenritter weiter geplaudert, würden sie Aurópéa dann erreichen. Er hatte ihr buchstäblich in schillernden Farben die Schönheit von Pataghíus Heiligtum, dem Cielástel geschildert. Dýamirée hatte interessiert zugehört. Demnach war der der Cielástel wohl ganz ähnlich wie der Etaímalon, nur eben groß und hell und bunt und burgförmig. Regenbogenritter hatten es nicht nötig, die Pracht des Hellen Tages in bescheidenen Wänden zu verstecken, so wie Noktámas Halle in dem kleinen Häuschen im Boscargén die Dunkelheit barg.
Dýamirée hatte in ihrem Leben noch nie ein größeres Gebäude gesehen, es sei denn in den Erinnerungen, die ihre Eltern mit ihr geteilt hatten. Schade, dass sie auch das sicherlich beeindruckende Bauwerk und die große Stadt nicht zu Gesicht bekommen würde. Denn am Morgen würde Cýelú alleine weiterfliegen müssen. Sie hatte nicht vor, sich noch einmal einfangen zu lassen.
Andererseits beschäftigte sie der Gedanke, dass der Regenbogenritter selbst ein Vater war, der seinem Kind Märchen erzählte, wenn auch reichlich seltsame, in denen Wildwölfe versuchten, die Häuser von kleinen Waldschweinchen umzupusten. Ob der Junge im Cielástel sich auch fragte, warum Märchen immer so unglaubwürdig sein mussten?
„Was willst du denn wissen? Bist du neugierig darauf, ihn kennenzulernen?”
„Ein wenig”, antwortete Dýamirée unverbindlich. „Was macht er den ganzen Tag, wenn er nicht wie ich einen großen Wald zum darin spielen hat? Läuft er stattdessen durch die Wüste?”
„Bei den Mächten! Die Wüste ist viel zu gefährlich, um darin zu spielen. Dorthin darf er nur unter Aufsicht.”
„Wie langweilig. Ich darf im Wald überall hin.”
„Na ja”, gab der Ritter zu. „Manchmal versucht er es trotzdem.”
„Ist er dann die ganze Zeit in eurer Burg?”
„Dort, oder in den Gärten.”
„Und in der Stadt?”
„Nein. In die Stadt … nun, wir gehen nicht dorthin.”
„Ihr geht nicht in die Stadt gleich neben Eurer Burg?”
„Wir haben es den Unkundigen versprochen. Wir mischen uns nicht in ihre Angelegenheiten ein.”
„Warum? Also, warum musstet ihr denen das versprochen?”
Cýelú zögerte.
„Was weißt du über die Chaoskriege?”, fragte er.
„Nicht so viel. Mein Papa meint, ich bin noch zu jung dafür.”
„Das habe ich mir gedacht.”
Sie schaute über die Schulter zurück. „Er sagt, wir haben das schlimme Ding unschädlich gemacht.”
Cýelú lachte bitter auf. Dýamirée schaute ihn fragend an. Aber er erklärte sich nicht.
„Was haben die Chaoskriege damit zu tun, dass ihr nicht nach Aurópéa geht? Die arcaval’ay haben die Unkundigen doch beschützt?”
„Die Unkundigen wären gar nicht erst in Gefahr geraten, wenn wir nicht dort gewesen wären.”
„Wart ihr vor den Unkundigen da?”
„Ja. Der Cielástel war lange vor Aurópéa am Rand der Wüste. Die Unkundigen sind dorthin gezogen, weil sie dachten, wir beschützen sie.”
„Das habt ihr doch getan?”
„Ja.”
„Aber warum …”
Cýelú lächelte müde. „Vielleicht bist du tatsächlich noch zu klein dafür.”
„Nun gut. Dein Sohn ist also nie in der Stadt. Langweilt er sich nicht den ganzen Tag in der Burg?”
„Ich hoffe nicht. Seine Mutter und ich, wir beschäftigen und so oft es geht mit ihm. Und außerdem ist Siledaú da.”
„Wer ist Siledaú?”
„Siledaú ist eine alte unkundige Frau, ein große Gelehrte. Sie ist Advons mestara.”
„Wieso hat Advon eine unkundige mestara?“
„Nun, er muss doch auch Dinge lernen, die er später einmal für sein Leben brauchen kann. Lesen und rechnen und all diese Sachen. Kannst du lesen und schreiben?”
„Natürlich”, gab sie zurück, fast etwas empört darüber, dass Cýelú das anzweifeln konnte. „Aber das hab ich von Papa und Mama gelernt. Ich brauche keine mestara.”
„Wir waren Siledaú etwas schuldig. Wir sind dankbar, dass sie Advon in Unkundigendingen unterweist.”
„Macht ihm das Freude?”, zweifelte Dýamirée.
„Nein”, gestand Cýelú nach kurzem Schweigen. „Aber wer würde ihm das verdenken. Er ist ein Kind, er hat andere Vorlieben und all das ist ihm zu langweilig.”
„Sicher zaubert er schon viel besser als du”, sagte Dýamirée ernsthaft.
„Er zaubert überhaupt nicht”, antwortete der Ritter und erschrak ertappt.
Dýamirée horchte auf und wartete.
„Er kann nicht zaubern”, sagte Cýelú beiläufig.
„So wie ich?”
Er nickte. „Aber er versucht es wieder und wieder.”
„So wie ich.”
„Ja, so wie du. Aber Pataghíu hat ihm die Gabe vorenthalten.”
Sie dachte darüber nach. Eine Weile war außer Perlenglanz’ Flügelschlag und entspanntem Schnaufen nichts zu hören.
„Wieso haben die Mächte deinem Sohn auch keine Magie gegeben?”, wollte sie wissen.
„Ich weiß es nicht, Kleines.”
Dýamirée schaute schweigend hinab. Der Schatten des Einhorns auf den Wiesen unter ihnen war mit der sinkenden Sonne in ihrem Rücken größer geworden.
Irgendwie war es tröstend zu wissen, dass es an einem anderen Ort ein Kind gab, dem es ebenso ging wie ihr.
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