Advon war sich dessen bewusst, dass Elosál seine Anwesenheit spüren konnte. Es war also ganz ausgeschlossen, dass er sich in irgendeiner Ecke versteckte und einfach nur mäuschenstill war. Das wäre verdächtig.

Zum Glück gab es außerhalb der Räume der fajía sehr viele Möglichkeiten, sich aufzuhalten, ohne unmittelbar mit dem Ohr an einer Tür zu sein.

Die Gemächer der Feen, die vor Urzeiten den Cielástel bewohnt hatten, waren im Grunde eine einzige Zimmerflucht mit vielen kleineren Kammern, die durch offene Durchgänge verbunden waren und sich durch verschiedene Bodenniveaus über das Äquivalent von drei Etagen erstreckte. Diese Gemächer befanden sich unterhalb von Pataghíus Halle im zentralen Turm und waren dort, in baulicher Hinsicht betrachtet, in Anbetracht ihrer Fragilität sehr sonderbar platziert. Advon hatte einmal ein verlassenes Wespennest gefunden und bestaunt. Die Gemächer der fajiaé hatten eine ähnliche Struktur wie die perfekten Zellen, nur dass sie zusätzlich gegeneinander verschoben waren und die Wände nicht aus zartem Papier, sondern aus Kristall, Glas und Perlmutt gefertigt waren. Perlenvorhänge trennten die Räume statt massiver Türen voneinander und klimperten leise, wenn von der Wüste oder von Norden Wind hindurch strich.

Hier hatte seine Mutter früher mit ihren Schwestern gelebt. Advon gefiel die Idee, dass diese so seltsam filigranen Räume mit dem Saal darüber der eigentliche Kern des Cielástel waren, um den herum sich mit der Zeit der Rest der mächtigen, trutzigen Burg gebildet hatte, wie auch immer das zugegangen sein musste. Früher, als die fajiaé und die arcaval’ay noch unter sich gewesen waren, ohne Unkundige in der Nachbarschaft, hatten sie keine mächtige Burg gebraucht.

Advon mochte besonders den Bereich, in dem die älteste der Feenschwestern, die uralte Großmeisterin ihren Platz gehabt hatte, bis zu jenem Tag, an dem die Chaoskriege endeten und alle bis auf Elosál hinter die Träume gegangen waren. Seine Mutter hatte ihm so oft erzählt, dass er sich mit jener ehrenwerten fajía Teneástre hervorragend verstanden hätte.

Die Räume von Teneástre überlappten mit denen, die Elosál heute bewohnte, wenn sie für sich sein wollte und wo sie nun mit Siledaú saß. Die Vorstellung, dass die Alte bei seiner Mutter im privatesten, zerbrechlichsten Bereich der Burg hockte, gefiel dem Kind nicht. Der Junge ahnte, dass Elosál diesen Ort und nicht irgendeinen anderen in dem riesigen Gebäude gewählt hatte, weil den arcaval’ay der Zutritt dorthin verboten war. Sie wollte ungestört mit der Greisin reden.

In Teneástres Raum gab es eine Besonderheit in Form eines kunstvollen, durchscheinenden Mosaiks auf dem Boden, ein aus hauchdünnen Plättchen von schillernden Opalen zusammengefügter Strahlenkranz. Das Gebilde hatte keinen magischen Zweck, es war einfach nur schön anzusehen. Und es war eine perfekte Strecke, um Murmeln exakt auszurichten.

Zum Glück war das eine Idee, die ihm nicht gerade zu diesem Zweck neu gekommen war. Elosál war wohl bekannt, dass Advon den Bodenschmuck seiner Tante, die er nie kennengelernt hatte, gern als Hilfslinien für sein Spiel nutzte. Dass er ausgerechnet jetzt sich damit die Zeit vertrieb, war daher vielleicht ein wenig unzeitig, aber ganz sicher nicht auf naseweise Neugierde zurückzuführen. Teneástres Gemach befand sich nicht einmal auf derselben Etage wie der Raum, in dem Elosál sich aufhielt. Dass die Akustik in den leeren Zimmerfluchten so außergewöhnlich gut war … nun. Zufall. Dass er seine Murmeln in einem tönernen Becher transportierte … warum nicht?

Advon schlich sich auf leisen Sohlen in das leere Gemach, in dem nicht einmal mehr Möbel vorhanden waren. Auf dem Weg dorthin war er an einem Perlenvorhang vorbeigehuscht, durch den er einen ganz flüchtigen Blick in das Gemach der Mutter hatte werfen können. Elosál saß dort auf einer niedrigen Polsterbank inmitten bunter, seidig schimmernder Kissen. Für Siledaú stand ein ähnliches Möbel bereit, aus dem die Greisin mit ihren alten Knochen nie im Leben aus eigener Kraft würde aufstehen können. Advon eilte nach oben und nebenan, verteilte hastig seine Murmeln auf dem Opalmosaik, setzte den Becher vorsichtig daneben auf den Boden und horchte.

Der Bechertrick funktionierte besser, als er erwartet hatte. Wahrscheinlich war das Material des Fußbodens noch dünner als gedacht. Das erklärte, wieso sich niemals die arcaval’ay hier aufhielten. Nicht, weil sie die Sphäre der Damen achteten, sondern weil vermutlich der Boden zusammengebrochen wäre, sobald mehr als einer von ihnen im Rüstzeug einen solchen Raum betrat.

Die Stimmen der beiden Frauen waren dumpf, aber überraschend deutlich zu hören. Allerdings hatte er den Anfang des Gespräches versäumt.

„… ein Zustand, den ich äußerst besorgniserregend finde”, ließ Elosál Siledaú gerade wissen. „Ich dachte, ich höre nicht recht, als der Gelbe mir davon berichtete.”

„Und was habe ich damit zu tun?” Siledaú klang beinahe empört darüber, dass Elosál sie mit dererlei Kleinigkeiten belästigte. „Ist das nicht das Problem der Menschen in Aurópéa, die sich entschlossen haben, sich von Euch loszusagen?”

„Wir mischen uns nicht in Menschenregeln und Menschengesetz ein, das ist wahr. Aber ich erinnere mich an die Zeiten, als wir und die Unkundigen noch miteinander existierten. Natürlich gab es damals schon Probleme. Aber bei weitem nicht in solchem Ausmaß.”

„Vielleicht habt Ihr es damals einfach nicht mit der entsprechenden Strenge gewertet.”

„Sicher. Spätestens nachdem das große Unheil über uns hereingebrochen war, sind alle Dämme gebrochen, und es schmerzt mich bis heute, wie sehr sie uns hernach zurückgestoßen haben. Aber dennoch …”

Elosál schwieg. Auch auf Siledaús nächste Antwort musste Advon ein wenig warten.

„Ich denke, der konsej der Unkundigen hat alle Dinge sehr gut im Griff. Er ahndet Verbrechen mit großer Strenge und hält die Stadt in Disziplin.”

„Aber ohne erkennbaren Effekt. Siledaú, denkst du, uns entgeht, wie sie sich ihrer Missetäter in der Wüste entledigen? Wie lange das schon so geht?”

„Ist das nicht besser, als wenn sie wie früher innerhalb ihrer Mauern Blut vergießen? Ich erinnere mich an Zeiten, da die fýntaray kaum damit nachkamen, der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Das ist gar nicht so lange her.”

Advon runzelte die Stirn. Wahrscheinlich funktionierte sein Becher doch nicht so gut, wie zunächst gedacht. Was redeten die beiden da?

„Siledaú, was geschieht mit den Verurteilten? Was erzählt man den Menschen in der Stadt?”

„Nun, der konsej ist darin übereingekommen, die Vollstreckungen aus der Öffentlichkeit heraus in die Diskretion der Wüste zu verlegen. Dort, wo sich niemand daran ergötzen kann. Ist dir klar, dass es für die Menschen in Aurópéa zum Freudenfest wurde, wenn Missetäter hinter die Träume geführt wurden?”

Wieder schwieg die fajía. Advon versuchte, die Worte der Alten zu begreifen. Sollte das heißen, all die Menschen, die er so oft hatte in die Wüste reiten sehen, waren gar nicht verbannt, wie ein unartiges Kind, das Stubenarrest bekam? Die Unkundigen hatten sie in die Wüste gebracht, um ihnen dort das Leben zu nehmen? Und seine Mutter, sein Vater, wahrscheinlich alle arcaval’ay hatten davon gewusst?

Er setzte sich auf und benötigte einen Moment, um sich zu sammeln. Ohne den Becher waren die Stimmen aus dem Raum unter ihm nur ein unverständliches Raunen.

In der Wüste starben Leute, und alle waren damit einverstanden?

Nein, nicht einverstanden. Elosál versuchte gerade, Siledaú darüber auszufragen. Bei den Mächten, warum tat sie es erst jetzt?

Und was hatte er gewonnen, indem er belauscht hatte, was nicht für seine Ohren bestimmt war? Sicher hatten die Eltern ihren Grund dafür, dieses Wissen vor ihm zurückzuhalten. Obwohl – hätten sie es ewig vor ihm verborgen? Hätte er nicht immer wieder und wieder danach gefragt? Hätte er es nicht früher oder später auf irgendeine Weise selbst herausgefunden?

Wann hätten sie es ihm von sich aus erklärt?

Er besann sich, nahm den Becher und lauschte weiter.

„… finden die arcaval’ay keine Spuren in der Wüste? Warum haben die Cýelú und die anderen niemals die Relikte all dieses Schreckens gefunden?”

„Vielleicht schauen sie nicht genau genug hin.”

„Siledaú, das ist albern! Wenn das seit vielen Wintern so geht und Mond für Mond mit Dutzenden, dann müssten da in der Wüste, und zwar keinen Tagesritt entfernt von der Stadt, Hunderte von Toten liegen. Ein Berg von Leibern, der den Rittern nicht verborgen bleiben kann.”

„Wer von Euch beschwört denn den Wind und die Wüste? Ist dir jemals im Sand etwas verloren gegangen, Elosál? Etwas kleines, ein Ohrring oder eine Münze? Ohne ein Sieb findest du es nicht wieder, sobald der Wind darüber gestrichen ist. Was sind Menschenkörper in der Wüste anderes?”

„Nun, ich sehe da schon einen gewissen Unterschied.”

„Ich verstehe nicht ganz, was ich damit zu schaffen habe, Elosál. Ich lebe mein bescheidenes und den Mächten gefälliges Leben, lasse mich nicht in Gesetzesbrüche verwickeln und kann dir auch nur sagen, was ich sehe und höre. Mich geht die Sache nichts an.”

„Der Gelbe berichtet mir, ein sinor namens Úldaise sei für die Verlegung der Richtstätten von innerhalb der Stadtmauern in die Wüste verantwortlich.”

Advon zuckte zusammen. Úldaise! Der gefürchtete alte Mann, dessen Dienern er den Kuchen überlassen hatte, um ihn loszuwerden!

„Das ist wahr. Seit Úldaise in den konsej aufgerückt ist, sind die erbärmlichen Spektakel keine Kurzweil für die Leute mehr gewesen.”

„Ich möchte mit diesem alten Mann reden,”

Nun war Siledaú offenbar einen Moment lang sprachlos. Advon hielt den Atem an.

„Wie stellst du dir das vor?”

„Ich möchte ihn zu einem Gespräch hierher einladen. Ganz offiziell und in aller Form.”

„Vergiss es. Darauf wird er sich nie einlassen!”

„Es wird ihm nichts anderes übrigbleiben, nachdem ich die Stadt nicht betreten darf.”

„Ich denke nicht, dass der konsej interessiert daran ist, dass du die Art und Weise kritisierst, mit der er Recht spricht.”

„Ich denke, ich werde die richtigen Worte finden. Und du wirst sie überbringen.”

Wieder Stille. Advon holte ganz leise Luft. Es war anstrengend, so reglos auf dem Boden zu hocken, das Ohr so fest an den Becherboden gepresst, dass es bereits schmerzte.

„Ich?”, sagte Siledaú. „Ausgerechnet ich? Wie kannst du …”

„Es ist eine sehr kleine Gefälligkeit, um die ich dich bitte, und im Gegenzug bin ich bereit, über ein paar Dinge hinwegzusehen, über die ich gern ein wesentlich ernsthafteres Gespräch geführt hätte, sobald Cýelú wieder hier ist.”

„Und wenn ich keinen Wert darauf lege, Úldaise zu begegnen?”

„Du musst ihm nicht begegnen. Soweit ich mich erinnere, hat jeder Bewohner von Aurópéa das Recht, schriftliche Eingaben an den konsej und seine Vertreter einzureichen. Da wirst du doch wohl am Ratspalast einen Brief für mich abgeben können.”

Siledaús Antwort war nicht zu verstehen, aber Advon ging davon aus, dass die Alte widerwillig zustimmte. Das machte ihn neugierig. Was mochte Elosál gegen sie in der Hand haben?

„Ich denke, der ehrwürdige sinor wird meiner bescheidenen Anfrage zweifellos Beachtung schenken. Es wäre bedauerlich, wenn die arcaval’ay die Wüste durchsiebten, um den Verbleib all dieser unglücklichen unkundigen Missetäter zu prüfen. Kann ich dir noch eine Erfrischung anbieten, Siledaú, während ich den Brief schreibe?”

„Ich werde lieber in meinem ehemaligen Studierzimmer warten. Dort habe ich zumindest vernünftige Möbel. Du kannst hernach ja deinen Sohn damit zu mir schicken. Der hat jüngere Beine als ich.”

Advon setzte sich auf und begann hastig, seine Murmeln in dem Becher zusammenzuraffen. Wenn es Siledaú einfiel, den Weg durch Teneástres Gemach abzukürzen, musste er schnell ausweichen. So leise, wie er gekommen war, stahl er sich fort und wählte dann den Weg über die Außentreppe, um so nahe an Elosáls Zimmer zu sein, dass er ihr unauffällig über den Weg laufen konnte, wenn sie ihn mit dem Brief suchte. Aus der Entfernung sah er die Alte die Treppe zum Schulzimmer hochschlurfen, energisch und mit einem so furchterregend wütenden Gesicht, dass er froh war, weit weg zu sein.

Während er wartete, schaute er nachdenklich aus dem Fenster, hinüber zur Wüste.

Keine Verbannung. Keine eigene kleine Stadt. Keine weitere Goldmine. Nur Tod.

Er versuchte sich einen Moment mit dem Gedanken zu beschwichtigen, dass all diese offenbar nicht nur toten, sondern gänzlich verschwundenen Leute nicht schuldlos ermordet wurden. Dass es eine Art Absprache unter den Unkundigen gab, deren Regeln allen bekannt waren und damit die Konsequenzen der Verstöße dagegen. Wenn dem so war, dann würden seine Eltern nichts dagegen unternehmen können. Aber eine Erklärung, danach verlangten sie wohl doch. Was geschah dort in der Ferne, was so wichtig war, dass die Mutter mit dem unheimlichen alten Mann reden musste?

Advon schaute auf die Wüste, wo langsam die Nacht aufzog, und fröstelte. Noktáma warf ihren dunklen Schatten voraus. Bald wäre es dunkel.

***

Manjév hatte vorgehabt, unverzüglich auf die Suche nach Láas und Jándris zu gehen, die beiden aufzuhalten und zu erklären, dass das, was sie den beiden in ihrem Brief als wichtigen Auftrag gegeben hatte, nur ein dummer Scherz gewesen sei. Sie hätten doch etwa nicht ernsthaft geglaubt, dass sie das ernst gemeint hatte, hatte sie die beiden fragen wollen.

Sie wusste sogar, wo die Jungen waren, denn sie sah sie unten in der Halle, als sie die Galerie betrat. Aber sie war nicht schnell genug. Die opayra hatte sie ebenfalls entdeckt und stand ihr urplötzlich im Wege wie eine Erscheinung.

„Lasst mich durch”, forderte Manjév. „Ich muss runter!”

„Wohin? Zu einem weiteren wichtigen Gespräch?”

„Ja. Ganz genau!”

„Ich kann mir gerade nicht so recht vorstellen, mit wem Ihr das Gespräch suchen könntet, Majestät. Sogar Eure Eltern beteiligen sich an der Suche nach dem yarlandor Althopian. Es ist, als seien alle außer sich!”

„Gut! Dann helfe ich auch mit. Nun lasst mich vorbei.”

„Nein, Majestät. Ich habe die ausdrückliche Anweisung des teirand und der teiranda, Euch in Euer Gemach zu bringen und dafür Sorge zu tragen, dass Ihr dort bis auf Weiteres bleibt.”

Manjév starrte die opayra fassungslos an. „Was? Aber …”

„Die Majestäten sind durchaus derselben Meinung mit mir, dass es nicht zu Eurem Schaden ist, ein wenig zur Ruhe zu kommen, nachdem den ganzen Tag schon so viel Unruhe herrscht.”

„Aber … ich muss mit Láas und Jándris reden! Dringend!”

„Ich bin sicher, dass das durchaus Zeit bis zum Nachtessen hat. So die Mächte es wollen, hat sich der Aufruhr bis dahin ein wenig gelegt.”

„Ich befehle …”

Die opayra lächelte triumphierend. „Ich habe die ausdrückliche Weisungsbefugnis, Majestät. Eure Order heben die der teiranda nicht auf. Und nun begleitet mich bitte.”

Manjev schaute sich hilfesuchend um. Wie sollte sie der opayra erklären, dass, wenn sie jetzt nicht augenblicklich mit den Jungen redete, womöglich noch mehr Chaos ausbrechen würde? Aber statt einer hilfreichen Person entdeckte Manjév nur den mestar, der mit ein paar Pergamenten unter dem Arm von der anderen Seite nahte. Der Gelehrte fing den Blick der opayra auf. Manjév seufzte. Sie konnte schlecht an den beiden vorbeilaufen. Dafür war die Galerie auch viel zu schmal. Es würde Aufsehen erregen, wenn sie zu entwischen versuchte, und weit kommen würde sie auch nicht. Unten in der Halle waren Bedienstete bereits damit beschäftigt, die Tische für das Nachtessen aufzustellen. Láas und Jándris indessen waren schon wieder nach draußen verschwunden. Offenbar hatten sie Tafeldienst und halfen beim Decken.

„Zum Nachtessen darf ich aber ganz bestimmt mit ihnen reden?”, fragte Manjév. „Ich kann ganz normal später wieder heraus?”

„Natürlich, Majestät. Es sei denn, ihr hättet ein Ding zu verbergen, über das Eure Eltern zu entscheiden haben. Und nun kommt.”

Einen ganz kurzen Moment zögerte Manjév noch. Der Schattensänger hatte gesagt, Merrit Althopian sei momentan in Sicherheit, also bestand nicht allzu große Eile. Wenn sie nun zur Unzeit einen Ungehorsam zeigte, würde sie das vielleicht viel weiter zurückwerfen als ein klein wenig Geduld. Die teirandanja senkte den Blick und hoffte von ganzem Herzen, dass der abscheuliche Junge, dessen Gegenwart ihr so unerträglich war, sich nur ein klein wenig länger zu verstecken verstand.

„Ihr werdet Euch nicht langweilen, Majestät”, sagte die opayra mit ungewohnt guter Laune. „Ich begleite Euch in Euer Gemach und lese Euch Erbauliches aus den Schriften der yarlara von Ijsseng vor.”

„Eine gute Wahl”, mischte sich der mestar ein. „Ein absolut zeitloses Werk zur Tugendfindung vornehmer Damen.”

Manjév schüttelte sich. Das gefürchtete Benimmbuch der Edeldame aus dem äußersten Osten war vor dreihundert Sommern geschrieben worden und von ausgesuchter Langweiligkeit. Doch wenn die Mächte ihr dies als Sühne für all die Dummheiten auferlegten, die sie früher am Tag begangen hatte, dann sollte es wohl so sein.

„Keinen Augenblick länger als bis zum Nachtessen”, entschied sie. „Und nur, weil meine Eltern es so wollen.”

Die opayra nahm sie bei der Hand. Der mestar folgte ihnen, wohl um der Dame Verstärkung zu bieten. Manjév nahm schon lange an, dass die beiden sich über ihre gemeinsame Begeisterung für unverständliche Langweiltexte näher gekommen waren, als sie es öffentlich zeigten.

„Wie schön wäre es”, sagte die Edeldame, „wenn Ihr die richtigen Entscheidungen aus eigenem Verstand träfet.”

„Ich gebe mir Mühe,” antwortete das Mädchen ergeben. „Ich will eine gute teiranda sein.”

***

„Kätzchen!”, jubelte Tíjnje und rannte den Weg entlang. Seit Jándris und Láas sich mit ihren Vätern der Suche nach Merrit Althopian angeschlossen hatten, spielte sie allein im Garten. Ab und zu warf der Gärtner oder eines der Mädchen einen Blick darauf, dass die kleine yarlaranda noch anwesend war, aber Zeit, sich um sie zu kümmern hatten sie nicht. Tíjnje langweilte sich. Die Beikrautpflanzen aus den Wegritzen, die der Gärtner ihr ausdrücklich zu pflücken erlaubt hatte, hatte sie zu einem Blumenkranz für sich und einem für Manjév verarbeitet. Doch die teirandanaja war nicht mehr aufgetaucht, und nun begannen die Kränze bereits zu welken. Tíjnje bedauerte, dass gepflückte Blümlein nie lange ihre Kraft behielten.

Der schwarze Kater, den sie zwischen den Beeten entdeckt hatte, hielt inne. Er war dabei gewesen, zielstrebig von dem Kräuter- in den Gemüsegarten zu wechseln, wandte sich aber aufmerksam geworden dem Kind zu. Tíjnje verlangsamte ihren Lauf. Aus der Nähe betrachtet, was das Tier doch recht groß. Sie erinnerte sich nicht, zuvor einmal eine völlig schwarze Katze in der Burg erblickt zu haben. Aber der Kater war freundlich. Es kam näher und strich ihr maunzend an den Beinen entlang. Dann sprang er auf die Umfriedung eines Hochbeets und musterte das Kind mit seinen seltsamen Augen.

Tíjnje lachte entzückt und tätschelte ungelenk das seidige Fell.

„Bleib bei mir, Kätzchen”, bat sie. „Mir ist so langweilig. Alle haben sie mich allein gelassen.”

Tatsächlich setzte der Kater sich hin und legte seinen Schwanz elegant um sich herum.

„Láas und Jándris haben was vor”, berichtete das kleine Mädchen eifrig. Irgendjemandem musste sie erzählen, was sie beschäftigte. „Sie wollen mir nicht sagen, was es ist. Das ist ungerecht. Immer sagen sie, ich bin noch zu klein.”

Der Kater blinzelte freundlich. Das kleine Mädchen hing ihm den Blumenkranz um, wie ein Halsband. Das schien das Tier zu irritieren.

„Ich will nicht immer die Kleinste sein”, fuhr Tíjnje fort. „Mein Papa sagt, vielleicht kommt bald ein anderes Mädchen, das noch etwas jünger ist als ich. Dann wären wir zu zweit, und dann hätten wir Geheimnisse vor den Jungs. Ich vermisse meinen Papa. Mama sagt, er ist bald wieder hier, aber sie ist auch ganz traurig, weil er nicht bei uns ist. Was glaubst du, Kätzchen, ist er bald wieder zurück? Vielleicht morgen früh?”

Der Kater rieb seinen Kopf an ihrer Hand. Dann tatzelte er mit der Pfote den Kranz wieder von sich.

„Wenn ich groß bin”, erzählte Tíjnje und hängte ihm die Blumen energisch wieder um, „werde ich die Hofdame von Manjév, und sie wird teiranda. Schade, dass sie den Sohn von yarl Althopian nicht leiden kann. Ich glaube nämlich, der ist ganz nett.”

Der Kater schüttelte erneut die Blumen ab.

„Und weißt du was? Ich glaube, er mag sie sehr gern. Er hat sie gestern Abend immerfort angeschaut, und dann hat er sogar versucht, in ihr Zimmer zu klettern. Manjév meint, er wollte vielleicht ihre Krone stehlen, aber das sagt sie, glaube ich, nur so. Und sie will, dass die Ratten ihn fressen. Ich verstehe das nicht.”

Der Kater erhob sich. Tíjnje streichelte seinen Rücken und überlegte einen Moment lang, ob sie es wohl wagen sollte, ihn aufzuheben. Aber noch bevor sie dazu kam, sprang das Tier fort und verschwand eilig zwischen den Rankspalieren mit Bohnen und Erbsen.

„Tíjnje?”, rief eine Damenstimme vom Gartentor. Die Mutter suchte nach ihr.

Das kleine Mädchen schaute dem Kater bedauernd nach und griff dann verwirrt nach den Blumenkränzen. Alle Blümchen waren frisch und strahlend, als seien sie ungepflückt.