Yalomiro stahl sich so weit in den Gemüsegarten herein, bis die Rosenlaube in Sichtweite war und er sich sicher sein konnte, dass keine weiteren Menschen in Sichtweite waren. Nicht auszudenken, wenn er einer der Gehilfinnen des Gärtners begegnet wäre. Der Fluch, oder Schutz, wie immer man es interpretieren wollte, den Noktáma auf ihre Diener legte, war nach wie vor intakt. Warum auch immer sie es ihm gestattet hatte, sich mit Salghíara zu vereinen und auch wenn seither einige Winter ins Land gegangen waren, sein purer Anblick würde immer noch ausreichen, in weiblichen Unkundigen ein unheilvolles Missverhältnis von Verstand und Begierde zu wecken, das fatale Auswirkungen haben konnte.

Der Schattensänger seufzte. Er sehnte sich zurück in den Boscargén, zurück zu hýardora und Tochter, an seinen sicheren Ort, wo er sich frei bewegen konnte. Hier in Wijdlant war seine Aufgabe vorerst getan. Es war ihm gelungen, Alsgör Emberbeys Verzweiflung über seine Erbfolge in vernünftige Bahnen zu lenken. Natürlich würde er sich diesen mysteriösen Knaben aus Rodekliv bald einmal ansehen müssen, auch wenn er der teiranda dieses Versprechen nicht gegeben hatte. Auch um die Seelenqualen von Waýreth Althopian konnte er sich nun gerade nicht kümmern, etwas, was er zutiefst bedauerte. Er beschloss, dem yarl baldmöglichst einen Besuch auf dessen eigener Burg abzustatten. Hier, in all der Unruhe, war nicht die Gelegenheit, dem Ritter in seinem tiefen Schmerz beizustehen. Aber vielleicht gelang es, ihm schon einmal seinen Sohn zurückzubringen.

Der Schattensänger schritt hinüber zu der Rosenlaube, wo die beiden Jungen sicher versteckt waren. Mit Merrit Althopian musste er allein reden. Er glitt zurück in seine menschliche Gestalt und gebot den Rosen, ihn einzulassen.

Die Jungen blickten ihm erschrocken entgegen. Sie saßen beieinander auf derselben Bank. In der Zeit, in der die beiden miteinander allein gewesen waren, hatten sie festgestellt, wie nahe sie einander durch ihr Schicksal standen. Sehr gut war das.

Aber vorerst brauchte er nur den einen, jenen, der der armen kleinen teirandanja so zuwider war, dass es sie zu Bosheit verführte.

„Habt Ihr beide Euch von Eurem Abenteuer erholt und wieder beruhigt?”, erkundigte der Magier sich und setzte sich auf die freie Bank. Das war so wesentlich komfortabler, als unter dem Konferenztisch zu hocken.

„Ja”, sagte Merrit Althopian. „Ich glaube schon.”

„Es war sehr angenehm, unter uns zu sein”, setzte Osse Emberbey in seiner eine Spur zu erwachsenen Sprechweise hinzu. Der Schattensänger lächelte.

„Es gefällt mir, Euch so miteinander zu sehen. Es würde mir auch gefallen, wenn ihr fortan auch vor den Erwachsenen voreinander einstündet. Aber nun habe ich einen Auftrag für dich, Osse Emberbey.”

„Einen Auftrag?”

„Die teiranday und yarlay und wahrscheinlich gut die Hälfte aller übrigen Burgbewohner sind auf der Suche nach Euch beiden. Es wäre gut, wenn zumindest einer von euch schon einmal wieder auftaucht. Ich möchte, dass du nach Asgaý von Spagor und Kíaná von Wijdlant suchst und ihnen ausrichtest, dass ich sie im obersten Zimmer des Hauptturmes zu sprechen wünsche, sobald die Sonne untergegangen ist. Sollte jemand versuchen, dich daran zu hindern, sagst du, ich habe dich geschickt und du dürftest mit niemandem gehen, bevor du nicht mit den teiranday geredet hast.”

„Ja, Meister. Was geschieht, wenn mein Vater es mir verbietet?”

„Gerade der wird dich nicht zurückhalten. Du musst keine Angst haben. Ich habe bereits mit ihm geredet. Die Dinge werden sich so regeln, dass sie dir nicht schaden.”

Osse Emberbey nickte. „Danke, Meister.”

„Sag, Osse Emberbey … die großen Gelehrten, wo finden sie ihr Wissen?”

„Ich denke, die maedloray, die als Kastellane dienen, die kommen oft aus Vírhavet, oder südlich des Montazíel aus den Schulen in Forétern.”

Maedloray“, sagte Yalomiro nachdenklich. „Träumt denn ein Junge in deinem Alter wirklich von Zahlen und Verträgen?”

„Träumen?”, fragte Osse, als verstünde er nicht, was das sei.

„In Iváal”, lenkte Merrit Althopian ein, „ist eine große Schule und große Paläste, bis unters Dach voller Bücher über alles, was man sich nur vorstellen kann.”

„Das klingt doch auch ganz nett”, sagte Yalomiro beiläufig.

„Meine Mama …”, begann Merrit Althopian und unterbrach sich wieder.

„Osse Emberbey?” Der Schattensänger nickte dem Jungen auffordernd zu. Der erhob und verneigte sich. „Bis später”, sagte er zu seinem neuen Freund und verließ die Laube.

Merrit Althopian schien unschlüssig, ob er ebenfalls gehen sollte. Yalomiro schloss die Rosenhecke und neigte sich zu ihm hinüber. „Dir möchte ich eine Frage stellen. Es ist eine sehr persönliche Frage, und ich werde dich nicht bedrängen, wenn du mir nicht antworten magst. Ich werde dir aber auch nicht verraten, weshalb ich diese Dinge von dir wissen will.”

Der Junge runzelte misstrauisch die Stirn. „Was wollt Ihr denn wissen?”

„Die teirandanja. Das Mädchen, jünger als du selbst, dem du deinen Treueschwur geleistet hast.”

„Das war eine Dummheit, nicht wahr?”

„Danach habe ich nicht gefragt.”

„Ihr habt bisher gar nichts gefragt.”

Der Junge war verwirrt, hatte aber bei weitem nicht so heftig auf die Erwähnung der teirandanja reagiert wie der Magier erwartet hatte.

„Glaubst du, sie wird dir einmal eine gute Herrin sein?”

„Ich habe ja noch gar nicht mit ihr reden können. Und diese Sache mit dem Fenster … ich glaube, das hat sie verärgert. Dabei wollte ich doch gar nicht …”

„Würdest du gerne? Mit ihr reden, meine ich. So, wie du mit Osse Emberbey redest?”

Merrit zögerte. Dann nickte er zaghaft, und ein ganz zarter Rosenhauch legte sich auf seine Wangen.

„Gefällt sie dir?”

„Sie ist meine teirandanja!”

„Vergiss, dass sie deine teirandanja ist. Stell dir vor, sie wäre dir irgendwo auf der Straße oder im Wald begegnet und du hättest keine Ahnung, wer sie ist. Wie würdest du das Gefühl beschreiben, das sie in dir erweckt?”

In Merrits eisblaue Augen trat ein Ausdruck großer Verwirrung. Yalomiro ließ sich darauf ein und versuchte, die Emotionen des Jungen zu erspüren. Was sie ihm offenbarten, entsprach dem, was er vermutet hatte. Merrit Althopian war noch viel zu jung, um Begierde empfinden zu können. Aber die Gefühle, die dem nahekamen, waren vorhanden, wie er es vermutet hatte. Doch sie waren noch so so zart und unschuldig, dass sie nicht rechtfertigten, dass die Prinzessin ihn den Ratten vorwerfen wollte.

„Ein ganz klein wenig wie meine Mama”, erklärte Merrit unbeholfen. „Und zugleich ganz anders. Wie … „ Er deutete auf die Rosen. „Gelb und weiß, und doch beides dieselbe Blume.”

Yalomiro nickte. „Gut, Merrit Althopian. Bewahre dir diese winzigkleine Idee einer Rose gut auf, aber lass sie nicht vor der Zeit sehen. Niemand soll sie knicken, bevor sie starke Dornen hat. Geh du nun auch. Such deinen Vater.” Er öffnete dem Kind die Tür im Grün. Merrit Althopian erhob sich ebenfalls und verneigte sich zu Abschied.

„Merrit”, sagte der Magier, als das Kind an ihm vorbei ging, „wenn möglich, geh Láas Grootplen und Jándris Altabete eine Weile aus dem Weg.”

„Macht Euch keine Sorgen, Meister. Ich fange keinen Streit mehr an.”

„Ich weiß. Aber sei trotzdem vorsichtig, Ich kann nicht ständig ein Auge auf dich haben.”

Der Junge errötete. Dann schlüpfte er durch die stacheligen Zweige ins Freie.

Der Schattensänger schaute ihm nach. Eine zarte Zuneigung, eine spontane Sympathie, vielleicht der Same von etwas, das mit der Zeit in Merrit Althopian zu einer sehr schönen Seelenblume gedeihen würde. Sein kindliches Herz war noch ohne Fehl und Tadel.

Was war mit dem der teirandanja geschehen?

***

Galéon schnaubte ärgerlich und versetzte dem Laub unterhalb des Höhlenausgangs einen ärgerlichen Fußtritt. Diesmal hatte er es fast so weit nach oben geschafft, dass er beinahe mit den Fingerspitzen die Felsöffnung hätte antippen können. Dann war er wieder abgerutscht und zurück auf den Boden gestürzt.

Immerhin … er kam voran. Die ganze Höhlenwand war übersät von goldschimmernden Handabdrücken, überall dort, wo eine Unregelmäßigkeit im Fels breit und griffig genug gewesen war, um sich daran festzuhalten. Dazwischen prangte eine fast ebenso große Anzahl von blutigen Flecken, denn das Klettern ohne Hilfsmittel hatte ihm zwischenzeitlich auch die Handflächen zerschlissen.

Beides war zunehmend schwieriger zu erkennen, denn das Tageslicht schwand immer schneller. Galéon grauste es vor dem Gedanken, die Nacht in der finsteren Höhle verbringen zu müssen. Es würde sich zweifellos erkälten, wenn er hier in dieser klammen, feuchten Umgebung nicht weiter kam.

Das spornte ihn an. Der báchorkor versuchte sich in seiner Phantasie vorzustellen, er sei eine Spinne und setzte Fuß und Hände auf die Unebenheiten, die er bei Dutzenden von Versuchen zu vor als brauchbar markiert hatte.

Weiter und weiter, mit äußerster Vorsicht stemmte und zog er sich nach oben. Anfangs hatte er noch darüber nachgedacht, welche Art von Naturgewalt eine solche schachtartige Höhle hätte formen können. Dann hatte er sich an Geschichten von alten báchorkoray erinnert, die behauptet hatten, dass die Welt in jenen Zeiten als die Mächte noch ihr Spielbrett formten, ein Schmelztiegel aus flüssigem Gestein und Metall gewesen sei. Der hatte natürlich auskühlen müssen, bevor Lebendiges entstehen konnte. Galéon stellte sich vor, dass diese Höhle, im Gegensatz zur Brunnenkaverne, vielleicht einmal voll mit flüssigem Gold gewesen war, das der Berg dann mit Macht weit in die Wüste gesprüht hatte, wo es über die Zeit erstarrte und im Boden versank, damit heute Unkundige danach graben konnten. Vielleicht war das nicht so gewesen, aber als Geschichte war das gut. Vielleicht probierte er sie einmal aus, vor Publikum, das mit schlüpfrigen Inhalten zu begeistern war.

Über diesen nebensächlichen Gedanken näherte er sich dem Ausgang immer weiter und bereitete sich im Herzen schon auf sein nächstes Scheitern vor. Doch zu seiner größten Überraschung hatte er endlich Erfolg. Seine tastenden Finger umschlossen plötzlich etwas, das sich anders anfühlte als der raue Fels, warm und gewachsen.

Wurzeln.

Galéon war so überrascht, dass seine Füße abglitten, aber die knorrigen Wurzeln, die ihm unter die Hände geraten waren, gaben ihm weit besseren Halt als die Felsvorsprünge. Bevor er abstürzen konnte, grabschte er auch mit der anderen Hand zu und hing nun mit baumelnden Füßen, aber sicherem Griff an Holz fest. Der junge Mann atmete auf, gönnte sich ein paar Lidschläge lang Ruhe und zog sich dann vorsichtig, Handbreit um Handbreit hinauf zwischen die Büsche, die die Höhleneingang säumten. Ächzend ließ er sich dann auf den Rücken fallen und pries im Gedanken die Mächte.

Die Wurzeln hatten zu einem windschiefen Ölbaum gehört, der zum Teil knorrig mit Rissen im Höhleneingang verwachsen war wie ein Korken in einem Flaschenhals. Jene, die in Richtung Wüste weicheren Untergrund gefunden hatten, sogen vielleicht aus der Tiefe vom Wasser des Bächleins. Der báchorkor blinzelte zum Himmel auf und erkannte, dass sich oberhalb des Höhleneingangs eine Hügelkuppe erhob, Erdreich, das sich vermutlich über Tausende von Sommern dort durch den Wind angesammelt und festgebacken hatte, so stabil, dass dort jetzt niedrige Bäume Halt fanden. Bei näherem Hinsehen entpuppte sich das Wäldchen über Galéons Kopf als die Überreste eines alten Obsthaines, dessen Bäume schon zu alt waren, um noch sinnvollen Ertrag zu bringen.

Er kniff die Augen zusammen. Nun, vielleicht keinen Ertrag mehr, der in Aurópéa noch irgendwem ein paar Münzen wert war. Aber vielleicht die eine oder andere vergessene Aranzie oder Dattelrispe für einen ausgehungerten báchorkor, der aus den Tiefen der Erde entkommen war.

Einen Augenblick blieb er noch liegen und genoss die Wärme, die den Tag über den Felshang aufgeheizt hatte. Selbst dieser Rest von Pataghíus Hitze war köstlich und linderte die Kälte, die er aus der Dunkelheit mitgebracht hatte. Dann erhob er sich ächzend und schickte sich an, das letzte Stück steilen Weg hinauf zu den Bäumen zu erklimmen.

Viel Glück hatte er dort nicht. Wie sich zeigte, hatten die Obstwirte, denen dieser Garten gehörte, wohl schon vor geraumer Zeit die Bewässerung vernachlässigt. Statt eines rinnenden Wasserspiels zwischen den Baumreihen gab es nur noch einen träge dahinsuppenden verschlammten Graben, in dem sich Regenwasser sammeln mochte. Galéon fand einen kümmerlichen Weinstock, an dem ein paar Rosinen hingen. Er stillte damit die erste Gier, erreichte damit aber nur, dass sein Magen nun erst recht nach mehr verlangte.

Während er suchend umherging, orientierte er sich. Der Höhlenausgang war südwestlich ausgerichtet gewesen und blickte in Richtung des Cielástel. Auf dessen Nordseite trafen gerade die letzten Sonnenstrahlen, die noch über den Montazíel in der Ferne drangen. Es war ein ausnehmend schönes Spektakel von sattbunten Reflexionen, das die kristallenen Türme schufen. Im Norden lag entsprechend goldener Glanz auf den Dächern von Aurópéa. Galéon staunte, wie weit entfernt die Stadt war. Offenbar hatte er auf dem Weg aus dem Brunnen heraus doch eine viel längere Strecke zurückgelegt als gedacht.

Auf der nordöstlichen Seite der Hügelkuppe hörte er Stimmen und verharrte mitten im Schritt.

„Bin’s langsam leid, für den Tattergreis zu schuften”, beschwerte sich ein Mann. „Wieder die Nacht um die Ohren für nichts!”

„Ist ‘ne leichte Sache”, antwortete ein anderer. „Besser als Steine schlagen und schleppen.”

„Mag den Alten nicht. Ist ein falscher Kerl.”

„Immerhin zahlt er gut. Und wir kommen in die feinen Villen.”

„Wüsste ja gern, wieso er keine eigene hat.” Der erste Mann stockte kurz und fuhr dann etwas undeutlicher fort, so als habe er etwas im Mund. „Findste nicht seltsam, die Sache mit dem ganzen Krempel von heute früh?”

„Hauptsache, das Zeug ist weg.”

Galéon bog sehr vorsichtig getrocknete Zweige beiseite und starrte ungläubig hinunter. Hangabwärts lagerten Úldaises Knechte. Sie schauten zur Stadt hinüber und hatten einen Korb bei sich, von dem ein betörender Duft nach Honig bis zu den Bäumen hinauf reichte. Gerade holte einer der beiden ein Stück Gebäck hervor und begann, zu schmausen.

Der barchórkor runzelte die Stirn. Was hatten die beiden hier zu suchen? Es war zwar durchaus nicht unwahrscheinlich, dass man zwischenzeitlich seine Flucht aus dem Brunnen bemerkt hatte. Aber dass sie ausgerechnet hier postiert waren (wenn auch auf der falschen Seite des Hügels) musste bedeuten, dass Úldaise nicht nur wusste, dass es einen Tunnel gab, sondern auch, wo dieser hinführte. Von dem verschütteten Gang, der kaum groß genug war, dass ein Mensch hindurch passte, konnte der Alte eigentlich nichts ahnen. Wäre es nicht sinnvoller gewesen, stromaufwärts zu suchen?

Oder waren die beiden aufgrund irgendeines bizarren Zufalls hier und ihre Mission hatte gar nichts mit ihm zu tun? An so viel Glück wagte Galéon nicht, zu glauben.

„So viele Kisten und Körbe”, mampfte der erste. „Hab nicht mehr so viel geschleppt, seit ich in der Mine geschuftet hab.”

„Ich sehe uns das Zeug schon zurückschleppen. Wollen das bestimmt nicht lange Im Brunnen stehen lassen, die Alten.”

„Glaubste, er musste den Kram verstecken?”

„Sicher. Vor den Mäusen.”

Die beiden lachten und schmatzten dann eine Weile wortlos weiter.

Galéon war aus dem gespräch nicht schlau geworden. Nur so viel stand fest: Úldaise missbrauchte den Brunnen wohl nicht nur, um unliebsame Menschen verschwinden zu lassen.

Er zog sich vorsichtig wieder zurück und versuchte, die allzu auffällige Versuchung zu ignorieren, die die Mächte in Form des Honigkorbes vor seiner Nase platzierten. In einer der unterhaltsamen Geschichten, die er vor heiteren Gesellschaften mit gemischtem Publikum vorgetragen hätte, wäre der gewitzte Held nun geradezu verpflichtet gewesen, die tumben Widersacher mit einer List abzulenken und dann diesen Schatz zu stehlen.

Nun, er war kein Held und es gab keinen Anlass, für einen eitlen Schabernack den Erfolg seiner Flucht aufs Spiel zu setzen. Es gab hier schließlich nicht einmal Publikum, das er damit beeindruckt hätte. Also tat Galéon das Vernünftige und kroch, so leise es in dem dürren Gestrüpp ging, wieder in Deckung, gerade noch, dass er hörte, wie einer der beiden mit vollem Mund gebot: „Komm, wir machen wieder ‘ne Runde. Nicht, dass der Alte sich ranschleicht.”

„Dann jammert er wieder, wie faul wir seien. Ich mag’s nicht, wenn er schimpft!”

Sie erhoben sich unter lautem Schnaufen und Ächzen und entfernten sich, zu Galéons Überraschung und Entsetzen in entgegengesetzte Richtung voneinander. So viel Umsicht hatte er den beiden nicht zugetraut. Allerdings brachte ihn das nun in eine unangenehme Lage. Wenn er versuchte, den Hügel hinunter zu flüchten, würden sie ihn zwangsläufig bemerken. Eine Flucht auf freiem Gelände konnte er nicht bestehen, das versuchte er gar nicht erst, sich einzureden. Er war nach all dem Kriechen und Klettern am Rande dessen, was sein Körper noch bewältigen konnte. Spielend würden sie ihn einholen.

Ja, er musste hier weg. Er musste hügelabwärts und so schnell es irgendwie ging zum Cielástel. Aber nicht jetzt. Noch nicht. Wenn er sich nicht regte und still war, würden sie ihn nicht bemerken. Wenn sie überhaupt hinter ihm her waren, dann noch nicht, um ihn zu jagen, sondern um auf ihn zu warten.

Sie wussten nicht, dass er längst da war. Unter ihren Augen würde er sich verbergen und ruhen.

***

„Kann ich dir helfen?”, fragte Dýamirée. „Was machst du da?”

Cýelú hatte sich für einen Landeplatz unweit eines Tümpels im Steppenland von Píanárdent entschieden, in einer menschenleeren Gegend weitab des besiedelten Teils des yarlmalón, in der es nur ein paar Herden Sichelziegen und kleine grasfressende Nagetiere gab. Hier hatten sie Wasser und Perlenglanz konnte grasen. Morgen um diese Zeit würde er sich an Hafer und duftendem Heu in seinem Verschlag im Cielástel gütlich tun und die nächsten Tage in Ruhe auf der Weide verbringen. Das hatte der Hengst sich verdient. Der Stalldiener hatte sicher auch Ersatzfedern in der passenden Farbe in seinem Inventar.

„Ich mache Feuer, Kind. Ich schichte einen Ring aus Steinen auf und dann sammle ich trockenes Holz.”

„Soll ich das machen? Holz fürs Feuer sammeln kann ich. Da hinten unter den schiefen Bäumen liegt bestimmt was.”

Er musterte sie misstrauisch.

„Ich lauf nicht weg”, versprach sie.

Er schaute ihr nach, wie sie sich auf die Suche machte und tatsächlich nach einer Weile mit einem Armvoll Reisig zurückkehrte. Das wiederholte sie noch zweimal, dabei brachte sie ein Stück Rinde mit und ein paar große Blätter, die sie von einem Baum gepflückt hatte.

„Kannst du mir hier vorsichtig ein Löchlein hineinmachen?”, bat sie und hielt ihm das Rindenstück hin.

„Wozu?”

„Ich will mir ein Bötchen bauen.”

Er legte die Steine beiseite, nahm sein Messer zur Hand und bohrte dann vorsichtig eine kleine Öffnung ins Holz. Sie dankte und setzte sich dann hin, um aus einem Stöckchen und einem der Blätter ein Segel zu machen.

Cýelú beobachtete sie eine Weile und kramte in seinem Weggepäck, bis er eine Wachskerze gefunden hatte. Er schnitt ein kleines Stück davon ab und gab es ihr. „Hier. Du musst das Loch noch abdichten. Sonst kommt das Wasser durch und drückt den Mast weg.”

Sie schaute überrascht auf. „Danke.”

„Du magst Boote, nicht wahr?”, fragte er.

„Mein Papa hat einmal ein großes Abenteuer auf dem weiten Meer erlebt”, sagte sie. „Das will ich so gern auch einmal sehen.”

„Ich nicht”, sagte er und baute weiter seine Feuerstelle auf.

„Warum nicht?”

„Ich habe es lieber trocken”, scherzte er. „Und heiß.”

Er zauberte mit einer kleinen Geste das Reisig in Flammen. Schnell loderte ein kleines Feuer hoch.

Dýamirée beschaute sich das mit mildem Interesse. „Da kann mein Papa auch”, ließ sie ihn wissen. „Aber er meint, man kann ebenso gut Feuerstein und Zunder nehmen.”

„Dann zeige ich dir jetzt etwas, was dein Papa bestimmt nicht kann. Schau her!”

Er zog sich den rechten Handschuh aus und griff mit bloßer Hand mitten in das Feuer hinein. Die Flammen erloschen augenblicklich, bis auf ein winziges Flämmchen, das er auf seiner Handfläche hielt, ohne dass es ihn versengte.

Dýamirée staunte. „Was ist das?”

„Das, Kleines, ist die Herzflamme. Jedes Feuer hat eine. Wenn man sie erkennt und fortnimmt, lässt sich jedes Feuer bezwingen.” Er goss das Flämmchen wieder zurück, und das Lagerfeuer brannte weiter.

„Das ist aber praktisch”, sagte sie anerkennend. Damit kannst du ganz schnell löschen, wenn einmal ein Haus oder der Wald brennt?”

„Ja. Das ist ein Zauber, den nur wir beherrschen.”

„Wir haben auch Zauber, die nur wir … die nur camat’ay beherrschen.”

„Tatsächlich?”

„Mein Papa kann sich in Tiere verwandeln. Er war sogar einmal ein Drache.”

„Interessant.” Cýelú war belustigt. Der Drache war kindliche Prahlerei, aber dass die Schwarzgewandeten Tiergestalten für ihre schlimmen Taten nutzten war nicht neu. Es zeigte, wie gewitzt sie zu Betrug fähig waren.

„Ich will nach Hause”, sagte sie unvermittelt. „Meine Mama macht sich Sorgen. Und wenn Papa wieder zurückkommt und erfährt, dass du mich gestohlen hat, wird es sehr wütend auf dich sein.”

„Darauf bin ich vorbereitet.”

„Er wird dich mit einem ganz, ganz mächtigen Zauber besiegen.”

„Das kann ich mir denken, Kleines. Und wenn er so töricht ist, es zu versuchen, werden wir mit einem noch viel größeren Zauber antworten. Womit bekämpft man Dunkelheit?”

„Mit Feuer?”, fragte Dýamirée zornig.

„Wo Feuer ist, Sonnenlicht und Farben, da ist kein Platz für die Nacht.”

Sie schwieg. Dann erhob sie sich wortlos, ging hinüber ans Wasser und ließ das Bötchen schwimmen. Er seufzte, schaute dem Flammenspiel zu und bedauerte, dass er sich hatte hinreißen lassen.