Osse Emberbey beobachtete die Erwachsenen seit einer Weile aus dem Schutz eines kleinen Durchlasses zwischen dem Unterstand, wo der Burgschmied seine Arbeitsstätte hatte und einem Torbogen. Der Junge zögerte. Der Magier hatte ihn mit einer Botschaft an die teiranday ausgesandt, und da waren sie beide, Asgaý von Spagor und seine hýardora, die teiranda von Wijdlant. Seite an Seite standen die beiden nahe der Tür zur Halle auf dem Hof. Ein liebendes Paar, das nicht annähernd dem ähnelte, was Osse in dem Roman von dem Smaragdritter und seinen Abenteuern gelesen hatte. Darin waren teiranday große, imposante Recken mit blitzenden Kronen in prächtigen Gewändern und die Damen so schön, das jede Blume sich ihnen gegenüber garstig vorkommen mochte.

Kíaná von Wijdlant, angetan mit einem vornehmen Gewand und einer reich geschmückten Haube unter ihrer schmalen Goldkrone war so zart und schmal. Schon am gestrigen Tag hatte Osse bemerkt, dass sie seltsam blass und beinahe etwas gebrechlich wirkte, so als sei sie nicht recht gesund, aber nicht krank genug, um siech zu sein. Aber das schien niemanden ihres Hofstaats zu besorgen, war wohl nie anderes gewesen. Der teirand an ihrer Seite überragte sie um einen halben Kopf und wirkte schlaksig und ungelenk. In seiner edlen und trotzdem etwas nachlässigen Kleidung hatte er so gar nichts Stolzes, Wehrhaftes an sich. Sein schulterlanges Haar hatte Asgaý von Spagor zu einem strähnigen Zopf zusammengerafft wie ein verwahrloster Hausknecht. Jeder einzelne der vier Ritter, die um das Herrscherpaar herumstanden, wirkte eindrucksvoller, obwohl keiner der Herren auch nur Alltagsrüstzeug trug. Waýreth Althopian und sein eigener Vater hatten das ihre am Morgen gar nicht erst angelegt gehabt, und die yarlay Altabete und Grootplen sich wohl dem angeschlossen. Das gefiel dem Jungen, er hielt es für diplomatisch und höflich. Keiner wollte sich unter Standesgleichen übereinander erheben.

Doch die Ritter waren das Problem. Der Schattensänger hatte nicht gesagt, ob die Nachricht ausschließlich für das Paar bestimmt war oder ob die anderen mithören durften. So war er unentschlossen, ob er es einfach wagen sollte, sich zu zeigen. Wie groß war die Gefahr, dass sein Vater ihn einfach aufhalten würde?

Andererseits senkte sich bereits leichtes Abendlicht über den Burghof, und die Geräuschkulisse in der Halle deutete darauf hin, dass man dort die Tafeln vorbereitete.

Der Junge überlegte noch einen Moment. Dann nahm er seinen Mut zusammen und kam aus seinem Versteck hervor. So gelassen und selbstverständlich, wie er es vermochte, ging er zu der Gruppe hinüber.

Tatsächlich war es sein Vater, der ihn zuerst bemerkte. Er war gerade mitten in der Rede mit der teiranda gewesen und unterbrach sich mitten im Wort.

Alle Augen wandten sich ihm zu, aber niemand sagte etwas. Osse schluckte und blieb in angemessenem Abstand stehen. Wie es die Regeln geboten, kniete er vor den teiranday nieder.

„Wo bist du gewesen?”, brach sein Vater die Stille, mit unüberhörbarem Tadel und Verlegenheit vor den anderen yarlay und Majestäten in seiner Stimme.

„Herrin”, sagte Osse schüchtern, „Herr … Meister Yalomiro schickt mich mit einer Botschaft.” Dann wandte er sich Alsgör Emberbey zu. „Ich habe mich herumgetrieben, Vater.”

„Weißt du, wo mein Sohn ist?”, rief Waýreth Althopian aus, mit einer leisen Bangnis in seinen Worten. Der Ritter war besorgt. Ob sich der Vater auch gesorgt hatte? Wahrscheinlich nicht. Er würde nur ärgerlich sein. Osse nickte Althopian zu.

„Er ist wohlauf. Ich glaube, der Magier ist noch bei ihm.”

Waýreth Althopian atmete auf. Man sah dem stolzen Recken an, wie ihm eine gewaltige Last vom Herzen fiel. „Den Mächten sei es gedankt”, murmelte er. „Vielleicht rückt der ihm das Herz zurecht.”

Alsgör Emberbey musterte seinen Sohn. Was er sich dabei denken mochte, war ihm nicht anzusehen. Das fand Osse beunruhigender als offene Missbilligung.

„Was für eine Botschaft, Kind?”, fragte Kíaná von Wijdlant freundlich.

„Ich weiß nicht, ob ich es offen sagen darf”, gestand Osse und errötete. Dass die teiranda ihn direkt ansprach, empfand er als große Ehre. „Wenn es denkbar ist, würde ich es gern nur vor Euren Ohren aussprechen.”

„Dann komm hinein”, sagte der teirand. „Komm, Osse Emberbey. Wir haben ohnehin mit dir zu reden.”

Alsgör Emberbey zuckte zusammen und Osse erschrak. Konnten die Majestäten ihm etwas vorwerfen? Hatte er eine Regel gebrochen, abgesehen davon, dass er seinem Vater nicht gehorcht und die Stube verlassen hatte?

„Komm nur, Osse Emberbey”, sagte nun auch die teiranda. Ihr Stimme war warm, ohne Zorn, Das beruhigte ihn. „Wir möchten dringend hören, was der Meister uns zu verkünden hat, wenn er selbst es für wichtiger hält, mit einem Kind zu reden.”

Osse erhob sich zaghaft. Asgaý von Spagor grinste ihn aufmunternd an, aber in den Augen des teirand war kein Lächeln. Er war besorgt und wollte es verbergen.

„Herrin”, warf yarl Grootplen ein, „sollen wir unter diesen Umständen weiter nach dem Jungen suchen?”

„Nein, Herr Daap. Wenn der Meister bei ihm ist, hat das seine Ordnung. Wahrscheinlich taucht er bald wieder auf.”

„Wenn wir die Gewissheit haben, dass der Knabe nicht verlorengegangen ist”, sagte yarl Altabete in Althopians Richtung, „kannst du nun aufhören, zu grübeln.”

„Den Mächten sei Dank. Denk endlich an etwas anderes, Waýreth. Komm, schau dir mal mein neues Ross an.”

Osse war unentschlossen. Da tat der teirand einfach einen Blick auf ihn zu und fasste ihn an der Schulter. „Komm”, forderte er und dirigierten den Jungen zur Tür hinüber. Die teiranda schloss sich an und ließ die Herren stehen.

In der Halle war tatsächlich Gesinde damit beschäftigt, die Tische für das abendliche Mahl aufzustellen und einzudecken. Der Tisch am Kopfende, der für das Herrscherpaar, die yarlay und deren Familien stand bereits. Osse tappte unter der lenkenden Hand des teirand dorthin.

„Setz dich”, bat die teiranda und ließ sich ebenfalls nieder, nicht auf ihrem aufwändig geschmückten Sessel, sondern ganz bescheiden auf einen der einfachen Stühle.

Osse gehorchte wie im Traum und schaute sich verwirrt um. Von der Seite näherte sich ein älterer Junge in einer tannengrünen Haustunika. Er trug eine Schale Obst und ein paar Holzteller und wollte gerade beginnen, den Tisch einzudecken. Es war Jándris Altabete.

Der yarlandor bemerkte, wer da am Ende des Tisches saß, warf Osse einen verblüfften Blick und nickte dann zum Gruß. Dann fuhr er ungerührt fort, Platten und Schüssel zu verteilen.

Kíaná von Wijdlant störte sich gar nicht daran, dass der Edelknabe Dienstarbeit verrichtete. Offenbar war das also nichts ungewöhnliches.

„Was gibt es also?”, fragte der teirand. „Warum so geheimnisvoll?”

„Es ist nicht viel”, antwortete Osse. „Er bittet Euch, ihn bei Sonnenuntergang zu treffen.”

„Nun macht er es aber wirklich spannend”; murmelte der teirand. Es klang ein wenig sarkastisch.

„Und wo?”, fragte Kíaná von Wijdlant sanft.

„Im obersten Zimmer des Turmes. Darum bittet er.”

Kíaná von Widlants Augen weiteten sich ein wenig. Osse wunderte sich, wie deutlich er das mit der geschärften Brille sehen konnte. Sie war erschrocken.

„Oben im Turm? Warum?”, fragte Asgaý von Spagor, nun auch verblüfft.

„Herr, das weiß ich wirklich nicht. Mehr hat er mir nicht gesagt.”

Das Paar wechselte kurz stumme Blicke. Osse überlegte, ob er es wagen konnte. „Ist etwas ungewöhnlich daran? Ist es möglich, dass ich ihn falsch verstanden habe?”

„Nein”, erklärte die teiranda. „Das ist es nicht. Ich denke, er hat diesen Ort mit Bedacht gewählt.”

„Es ist nur eben so, dass seit mindestens zehn Sommern niemand mehr da oben war”, plauderte Asgaý von Spagor.

Osse gelang es nicht, seine Neugier zu verbergen, so unbewegt er auch zu schauen versuchte.

„Na ja … die Tür zum obersten Zimmer ist geschlossen”, erklärte der teirand. „Niemand bekommt sie geöffnet.”

„Ist der Schlüssel verloren gegangen?”, fragte Osse so uninteressiert wie möglich.

„Das auch.” Der teirand lachte hilflos. „Aber die Tür lässt sich nicht einmal aufbrechen. Herr Andriér hat eine Streitaxt daran zerbrochen! Und Herr Daap …”

„Liebster,” unterbrach Kíaná von Wijdlant. „Ich glaube nicht, dass das den Jungen interessiert.”

„Jedenfalls”, schloss Asgaý von Spagor, „was immer dort oben ist, wahrscheinlich lässt es sich zumindest mit Zauberei öffnen.”

Jándris Altabete stellte einen Korb mit dunklen Wecken neben Osse ab. Der jüngere Knabe schaute auf, fing einen Blick voller offenkundigem Spott ein und fragte sich, ob er jemals im Leben wieder ein Stück Brot würde anschauen können, ohne an die große Schande erinnert zu werden, die er sich zugezogen hatte. Ob er die Gelegenheit nutzen sollte?

„Er erwartet uns also noch vor dem Abendessen”, schloss die teirandanja. „Nun, dann haben wir noch ein wenig Zeit.”

„Majestät … ich möchte für das um Vergebung bitten, was ich gestern getan habe.”

„Erkläre dich, Kind.”

Er schaute betreten auf den Brotkorb. „Nun … ich habe die teirandanja in eine unmögliche Situation gebracht. Es ist nicht zu entschuldigen, dass ich so … forsch war.”

Asgaý von Spagor seufzte. „Junge, du klingst verkrampft wie dein eigener Vater. Nimm dir das doch nicht zu Herzen! Wir fanden es …”

Nein, dachte Osse. Bitte sag es nicht.

„… amü-“

Kíaná von Wijdlant warf einen mahnenden Blick über den Tisch.

„… artig.”

„Osse Emberbey … wir wissen von dem Vorhaben deines Vaters. Von deinem …” Sie zögerte, als Jándris mit einem weiteren Stapel Teller auftauchte. „Cousin.”

„Ich weiß”, sagte Osse kleinlaut.

„Woher?”, fragte der teirand verdutzt.

Osse errötete. Dass er unterm Tisch gesessen hatte, musste der teirand nicht wissen. „Ich konnte mir nicht denken, dass mein Vater Euch nicht ins Vertrauen gezogen hat,” sagte er unverbindlich.

„Wenn du das Brot von unserer Tochter angenommen hast, Junge … was willst du ihr bieten? Wir müssen nicht darüber reden, dass es nicht deine Kraft und dein Geschick sein wird. Aber was willst du tun, als yarl von Emberbey in ihren Diensten?”

Er entsann sich dessen, was der Magier zu ihm gesagt hatte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die teiranday ihn so direkt danach fragen würden. Aber nun machte es Sinn.

Er wagte es.

„Majestät, Herrin, Herr … ich will gelehrig sein und so viel Wissen und Gedanken zusammentragen, wie nur in meinen Kopf hinein passt. Ich will besser sein als ein Dutzend maedloray.”

***

Úldaise fächerte sich mit dem Brief der fajía kühle Luft zu. Hier, in Aurópéa staute sich die heiße Luft des Tages, hing zwischen den Mauern fest und würde sich erst bei Einbruch der Dunkelheit verziehen. Es passte dem sinor gar nicht, dass er noch einmal in die Stadt zurückkehren musste. Viel lieber hätte er sich direkt auf den Weg in die südlichen Hügel gemacht, bevor seine idiotischen Handlanger dort womöglich etwas anstellten, was ihm die Sache verdarb.

Andererseits konnte er die Einladung von sinor Saháalír nicht ignorieren. Er war wichtig, den alten Mann arglos und bei guter Laune zu halten. Mit etwas Glück hätte sich diese anstrengende Höflichtuerei bald erledigt.

Der alte Mann überquerte den nördlichen Marktplatz. Die Passanten dort, zum Teil noch redliches Tagvolk, das seinen Geschäften nachging, hier und dort aber schon die eine oder andere lose Gestalt, die schon die nächsten Taten planen mochte, wichen ihm mit der gebotenen Unterwürfigkeit aus. Der greise Reiter auf seinem grauen Pferd war ein gewohnter Anblick, den niemand näher und länger als nötig wahrnehmen mochte.

Er nutzte die Gelegenheit, nachzuschauen ob bereits neue Kandidaten für Wüste in den Zellen saßen. Offenbar war der Tag in der Stadt ruhig gewesen, denn hier im Westen war der vergitterte Verschlag zwischen den Mauern leer. Die Zellen füllten sich nicht so rasch nach wie sonst.

Egal. Für den Moment mochten die Übeltäter vorsichtiger sein, vielleicht waren auch die Stadtwachen nachlässiger in ihrer Aufmerksamkeit. Er würde das beobachten und bei Gelegenheit entsprechende Maßnahmen ergreifen. Vorerst Interessierten ihn die Mörder, Räuber, Diebe und Betrüger nicht. Im Augenblick war allein wichtig, diesen báchorkor wieder in die Finger zu bekommen. und ihn endgültig aus dem Weg zu räumen. Verlassen konnte der so junge Mann den Brunnen nur in Richtung Wüste. Hätte er versucht, den Brunnen gegen die Fließrichtung des Baches zu verlassen, wäre er bald an einen völlig gefluteten Gang gekommen, den er allenfalls in Gestalt eines Fisches hätte durchtauchen können.

Rotgewandete konnten viel. In eine Tiergestalt zu schlüpfen gehörte nicht dazu.

Úldaise schlug nachdenklich den Weg in die Oberstadt ein. Von einem zum nächsten Gongschlag wollte er seinen Pflichtbesuch bei Saháalír absolvieren, länger nicht. Mit etwas Glück verpatzten die beiden Dummköpfe es bis dahin nicht.

Die Regenbogenritter begannen, sich zu sehr für die Wüste zu interessieren. Zugleich tauchte aus dem Nichts dieser sonderbare Vagabund auf, der von seiner eigenen Bestimmung nichts zu wissen schien, aber ganz offensichtlich zumindest in Ansätzen seine Kräfte nutzte. Úldaise glaubte nicht an einen Zufall. Zu lange war es gut gegangen. Früher oder später musste irgendetwas entgegen seinem Willen geschehen.

Er warf einen Blick auf den Brief in seiner Hand, während sein Pferd ihn gehorsam ins Villenviertel der Oberstadt trug. Das Siegel der Regenbogenritter schimmerte bunt wie das Gefieder eines Prachtvogels. Wahrscheinlich war es das erste offizielle Gesuch, das die fajía seit mehreren Menschengenerationen formuliert hatte. Wahrlich, ein wertvoller Brief, eine große Ehre. Úldaise schnaubte höhnisch und knüllte das feine weiße Papier so zusammen, dass es in seine Tasche passte. Dann hatte er Saháalírs Villa erreicht. Ein Knecht sprang ihm dienstbeflissen entgegen, um ihn mit dem Pferd und beim Absteigen zu helfen. Eine junge Frau eilte mit einem Becher Aranzienwasser als Erfrischung heran. Der Alte nahm ihn an, trank einen Schluck und gab ihn ohne eine Geste der Zuwendung zurück. Ohne die Unkundigen eines Wortes zu würdigen, machte er sich auf den Weg zur Dachterrasse.

Der ehrwürdige Ratsherr saß dort an einem Tisch unter einem Sonnenschutz, der zu dieser Stunde kaum noch seinen Zweck erfüllte. Er war nicht allein. Eine der sinoraé, die mit der Perücke, leistete ihm Gesellschaft. Sie hatten ein Spielbrett zwischen sich aufgestellt, nicht das edle Weltenspiel, sondern ein ganz einfaches mit flachen Steinen und anderen Regeln. Es ging im Wesentlichen darum, eine gewisse Anzahl eigener Steine über das Spielfeld zu bewegen und die des Gegenspielers, der dasselbe versuchte, zu entfernen. Das Spielfeld war dreieckig und in lauter kleinere Dreiecke aufgeteilt. Es war ein einfaches Spiel, das schon Kinder beherrschten. Und das für den senilen Verstand der alten Leute gerade noch zu bewältigen war.

„Úldaise”, grüßte die Dame. „Wie schön, dass Ihr uns Gesellschaft leistet.”

„Zu dritt macht es viel mehr Vergnügen”, bestätigte der Alte und strich schon seine eigenen Steine wieder vom Brett. „Kommt, wir beginnen von neuem!”

„Ich habe keine Zeit für Zeitvertreib”, sagte Úldaise, setzte sich aber dennoch zu ihnen an den Tisch. „Mich rufen wichtige Geschäfte.”

„Ach, Úldaise”, sagte die sinora. „Habt Ihr denn gar nichts anderes im Sinn als die Mühen Eures Amtes?”

„Nun, solange es dem Wohl der Stadt dient, und solange der schmähliche Dieb noch nicht gefasst ist, der den frechen Raub begangen hat, werde ich nicht ruhen.”

„Wie sehr wir alle uns in dem jungen Mann getäuscht haben”, sagte sie und begann geistesabwesend, ihre eigenen Spielsteine wieder an die Startposition zu stellen. Nachdem Saháalír die Partie unterbrochen hatte, mussten sie von vorn beginnen.

„Es ist den Menschen nicht möglich, einander ins Herz zu schauen”, sagte Úldaise unverbindlich. „Aber er wird seine Strafe wohl noch erhalten.”

„Erinnert Euch daran, dass ich unbedingt noch einmal mit ihm zu reden wünsche”, mahnte Saháalír und sortierte seine Steinchen.

„Ich werde es nicht vergessen. Aber nun lasst mich wissen, was Euer Anliegen ist, das nicht bis morgen im konsej Zeit gehabt hätte. Euer Bote hat mich im Unklaren gelassen, als er mich unterwegs abfing.”

„Ich habe die Sache nicht zu spektakulär machen wollen, Úldaise. Mich trieb die Neugier. Wieso habt Ihr uns den diplomatischen Besuch aus Forétern verschwiegen?”

Úldaise runzelte verwirrt die Stirn. „Welchen diplomatischen Besuch?”

„Ihr seid ein Schelm, Úldaise.” Die Dame kicherte. „Bis in die Oberstadt hat es sich in kurzer Zeit herumgesprochen.”

„Eine meiner Dienerinnen ist dem Jungen aus dem Gefolge Eures edlen Gastes begegnet.”

„Ach …” Der Greis musterte Saháalír verwirrt. Dann entsann er sich, dass seine beiden schwachsinnigen Knechte den Jungen aus dem Cielástel für ein reiches Balg aus Forétern gehalten hatten.

Bei den Mächten, was hatte dieser Bengel nun schon wieder in die Welt gesetzt?

„Es wird durch die ganze Stadt getragen, die reizende Geschichte von dem Knaben, der in seiner Großzügigkeit so vielen Leuten Leckereien spendiert hat.

„Das… das ist kein offizieller diplomatischer Besuch”, behauptete Úldaise, denn irgendetwas Plausibles musste er wohl oder übel antworten. „Das ist … Familie.”

„Ihr habt Familie?”

„Weit entfernte Familie. Ein … Urgroßneffe.”

„Wie nett!”, rief die Dame aus. „Wollt Ihr sie uns nicht vorstellen?”

„Das geht n- … bedauerlicherweise nicht. Sie sind nicht meinetwegen in Aurópéa und ganz gewiss spätestens morgen abgereist. Ich habe meinen … Großneffen … selbst nur ganz kurz gesehen.”

„Ohne zu sehr neugierig in Euch dringen zu wollen, Úldaise: Forétern ist ziemlich weit entfernt. Was treibt Eure Leute so weit an den Rand der Welt?”

„Geschäfte. Sein Vater ist … viel unterwegs, in unterschiedlichsten Dingen.”

„Und da nimmt er ein so junges Kind mit sich?”

„Warum nicht? Es kann nicht schaden, wenn die Kinder so früh wie möglich große Erfahrungen machen.”

„Sicher nicht. Und es bildet den Charakter, Bei den Mächten wie herzig.” Die Dame kicherte. „Als ich hörte, dass er all diese Süßigkeiten verteilen ließ, da dachte ich, wie großzügig und kindlich zugleich.”

„Nun, der Kleine ist nicht allzu gescheit”, behauptete Úldaise aus tiefer Überzeugung. „Aber wenn es dem einfachen Volk gefällt …”

„Zu schade, dass wir diese bemerkenswerten Reisenden aus dem schönen Forétern nicht auch kennenlernen durften. Habe ich schon einmal erzählt, dass ich vorzeiten auch eine Weile in Forétern gelebt habe.”

„Ja, das habt Ihr. Mehrfach.”

„Eine schöne Gegend. Aber das Klima habe ich auf Dauer nicht vertragen. Zu feucht, zu schwül. Die trockene Hitze hier und die Sonne sind eine Wohltat dagegen.”

Úldaise seufzte lautlos. Saháalír hatte doch hoffentlich nicht vor, ihm hier mit Altmännererinnerungen die Zeit zu stehlen? „Ich möchte Euch eine viel wichtigere Sache nicht vorenthalten”, sagte er. „Ich habe eine Einladung erhalten.”

„Eine Einladung? Wie nett. Wer feiert denn?”, erkundigte die sinora sich mit höflichem Interesse. Sollte er ihre Klatschsucht befriedigen? Vielleicht war es besser. Wenn irgendein dummer Umstand es offenbarte, konnte man ihm anschließend keinen Verrat vorwerfen.

„Die fajía selbst wünscht, mit mir zu reden. Ich werde im Cielástel erwartet.”

Saháalír, der seinerseits seine Spielsteine geordnet hatte, erstarrte und legte dann die restlichen neben dem Brett ab. Auch die alterstrüben Augen der Dame weiteten sich.

„Im Cielástel?”

„Ja.”

Bei den Mächten”, wisperte sie. Das ist … seit ich denken kann, haben die Regenbogenleute es nicht gewagt …”

„Es muss etwas sehr wichtiges sein, wenn sie das Gespräch mit uns suchen.”

„Es wird doch wohl kein Unheil drohen?” Sie griff nach dem Trinkbecher, der neben ihr stand und nippte nervös daran.

„Wie seid Ihr zu dieser Einladung gekommen? Wieso gerade Ihr?”

Úldaise holte Elosáls Schreiben hervor und bedauerte es nun, dass er nicht pfleglicher damit umgegangen war. Er präsentierte den beiden Brief und Siegel, hütete sich aber, das Dokument aus der Hand zu geben. „Ich nehme an, ohne Euch zu nahe treten zu wollen, sie haben in Erfahrung gebracht, dass ich derjenige im konsej bin, der den Ritt hinüber in die Burg noch aus eigener Kraft bewältigen kann.”

„Schreibt die fajía, worum es geht?”

„Nein”, log Úldaise. „Aber das ist verständlich. Kann man Boten trauen? Weiß man, ob nicht die Neugier ein Siegel gefährdet?”

Saháalír nickte. Der Greis war alarmiert, das war ihm anzusehen. Andererseits wollte er die Dame wohl nicht allzu sehr beunruhigen. „Gut. Úldaise, ich erwarte, dass Ihr bei Eurer Rückkehr von den … Regenbogenleuten unverzüglich in den Palast zurückkehrt und den konsej in Kenntnis setzt. Wann werdet Ihr hingehen?”

Woher soll ich das jetzt schon wissen?, dachte Úldaise. Das kommt darauf an, wie schnell ich das andere Problem löse. „Morgen am Nachmittag, denke ich. Vorher lassen es meine Termine nicht zu.”

„Wir berufen eine außerordentliche Zusammenkunft des konsej für den Abend ein. Ich werde das veranlassen. Entschuldigt mich einen Moment.” Saháalír griff nach einer Handglocke, die neben der Spielschatulle gestanden hatte und bimmelte damit in einem gewissen Rhythmus. Kurz darauf erschien eine fánjula auf der Terrasse, von der Úldaise wusste, dass es eine maedlora war. Sie näherte sich ihrem Herrn und er wechselte flüsternd einige Worte mit ihr. Offenbar beauftragte er ein entsprechendes Schreiben.

Das lenkte ihn so sehr ab, dass Úldaise erst dann merkte, wie die sinora ihn nachdenklich anschaute.

„Es wird nichts Ernstes sein”, versicherte er ihr. „Irgendwelche Narreteien, die sie sich ausdenken, um uns in Unruhe zu versetzen. Sie haben es noch nie vertragen, dass wir ohne ihr zauberisches Blendwerk auskommen und stark und wehrhaft dabei sind. Ich werde unsere Interessen wohl unmissverständlich vertreten.”

Sie nickte. Überzeugt sah sie nicht aus. Dann griff sie nach der Schatulle, in der eine Handvoll grüner Spielsteine lag. Sie selbst spielte mit gelben Steinen, Saháalír mit himmelblauen. Sie reichte ihm die Schachtel an. „Tut uns die Freude, Úldaise. Ich habe so lange nicht mehr zu dritt gespielt, seit meine liebe Freundin … seit sie beständig vergisst, wo und wer sie ist.”

Er rief sich zur Ordnung. Dann nahm er die Spielsteine an. „Nun gut, edle sinora. Aber nur eine Partie. So viel Zeit habe ich noch.”