
Yalomiro hatte die Fensterläden im Turmgemach geöffnet und schaute sich um. In alle Himmelsrichtungen gab es einen herrlichen Ausblick über das herbstliche Land. Die Erbauer der Burg von Wijdlant hatten großen Wert darauf gelegt, rechtzeitig zu bemerken, was sich in der Ebene näherte; eine Ebene, die längst nicht mehr reines plattes Land war. Von hier oben erkannte er im sinkenden Licht Wäldchen und kleine Dörfchen, in deren Schutz sich zumindest kleinere Trupps unbemerkt und einem gewissen Geschick würden anschleichen können.
Mochten die Mächte das verhüten.
Der Schattensänger seufzte. Seit er vor vielen Sommern erfahren hatte, wie beunruhigt die Bewohner des teirandon Spagor angesichts ihrer Nachbarn waren, hatte er befürchtet, dass das Weltenspiel immer noch nicht nicht frei von Gier und Gewalt geworden war. Dass sich die Lage in den vergangenen Sommern zugespitzt hatte, so sehr, dass jener entfernte Nachkomme der Herren von Emberbey die Mächtigen beunruhigte, hatte er befürchtet.
Er schaute müde nach Norden. Irgendwo dort in der Ferne war das große grüne Meer und dahinter das Chaos. Wie es wohl Kelwa und Egnar erging, den Fischersleuten, die ihm damals bei seiner gefährlichen Suche geholfen hatten? Isan hatte damals im Boscargén kichernd erzählt, dass der junge Majék um sie warb, wohl auch zu ihr passen würde. Aber damals hatte sie sie entschieden, zunächst ihre Fertigkeiten als doayra zu verbessern. Sie versprach sich damit mehr Sicherheit, wenn die Mächte sie einst tatsächlich zusammenführen würden. Tatsächlich waren der Verdienst einer doayra und ihr Ansehen weit größer und ihr Leben sicherer als das eines Fischers, der jeden Tag ins Ungewisse fuhr. Yalomiro hatte über ihre Umsicht gestaunt und sich entschieden, mit etwas Wissen und ein paar Handvoll Kräutersamen auszuhelfen.
Er stützte die Hände auf die Fensterbank. Ob ihr der heilende Garten wohl gelungen war, den er ihr vorgeschlagen hatte? Sich Notizen gemacht hatte sie damals reichlich.
Der Magier hätte zu gern einmal nachgeschaut, wie es am Meer stand und was die Unkundigen dort taten. Bald, so nahm er es sich vor, würde er es tun. Zu gern hätte er auch Dýamirée mitgenommen. So beeindruckt war das Kind von dem gewesen, was er über das Meer zu berichten hatte, wie sehr dies ihre Phantasie angespornt und die kleinen Bötchen, die sie dem See anvertraute, zu ihrem liebsten Spielzeug gemacht hatte.
Das grundlegende Problem daran war, dass er das unkundige Kind nicht mit durch die Schatten nehmen konnte. Die Dunkelheit war Dýamirée verschlossen, und den Weg durch die Wirklichkeit zu wählen würde auf eine weite und anstrengende Reise hinauslaufen, die er ihr noch nicht zumuten wollte. Sie würden den Boscargén längere Zeit verlassen müssen. Und das war zu gefährlich. Gerade jetzt.
Er wandte sich dem Südfenster zu. Dort glomm in der Weite die Nacht über dem Kamm des Montazíel, der in der Entfernung aufragte. Ob Salghiára den Schutz über dem Etaímalon hatte wirken können?
Er spürte vorsichtig in die Ferne, fand ihre Träume jedoch nicht. Natürlich nicht. Zu dieser Stunde würde sie nicht schlafen. Sie würde aufgeregt im Heiligtum sitzen und den Zauber gewissenhaft nach seiner Anleitung weben. Der Gedanke belustigte ihn. Er hatte Salghiáras Schutzgewebe gesehen, bei weitem nicht schlecht im Ansatz, aber so unbeholfen, so zaghaft, als getraue sie sich nicht, es richtig zu machen. Sobald er wieder im Boscargén war, würden sie üben müssen, ausdauernd üben. Nicht zu zaubern, sondern sich selbst zu vertrauen.
Den Mächten sei Dank wusste Salghiára nicht, was alles sie mit diesem Zauber in ihren Schutz einschloss.
Yalomiro Lagoscyre schaute sich im Turmzimmer um. Damals, als das Widerwesen für den Moment besiegt worden war, als der Rotgewandete sich selbst geopfert hatte, um ihm, dem Schwarzgewandeten den Kampf zu ermöglichen, hatte er anschließend nur zusammengerafft, was offensichtliches Werkzeug des goala’ay gewesen war. All das ruhte unter den roten Blumen in der Ebene und wartete auf seinen Erben. An dem, was an kostbaren Samen und Kräutern vorhanden gewesen war, hatte Yalomiro sich selbst bedient. Samen verloren über die Zeit ihre Fruchtbarkeit, also hatte es keinen Sinn, sie aufzubewahren. Stattdessen hatte der Schattensänger an geheimen Stellen im Boscargén daraus neue Pflanzen gezogen, die frisches Saatgut hervorbrachten. Das, so hatte er sich gedacht, war er dem Gegner schuldig gewesen. Es waren seltene, kostbare Pflanzen dabei. Rotgewandete verstanden sich ebenso gut auf die Macht der Pflanzen wie Schwarzgewandete, wenn auch aus anderen Gründen. Yalomiro lächelte müde. Sicher hätte er darüber durchaus interessante Gespräche mit seinem Widersacher führen können.
Was hier in Truhen und Regalen verblieben war, war lauter unmagisches Alltagsgerät. Aber auch das sollte eines Tages einem anderen gehören. Kein unkundiger Mensch sollte es in die Hände bekommen. Daher hatte der Schattensänger einst das Turmzimmer verschlossen.
Yalomiro ließ sich in dem Sessel hinter dem Tisch nieder, wo er die Tasche mit seinem eigenen Reisegepäck den Tag über sicher abgelegt hatte. Von dort aus hatte er den direkten Blick auf die Tür des Turmgemachs, die nun erstmals seit jenem entscheidenden Tag wieder geöffnet stand. In all der Zeit war Gor Lucegaths Turmzimmer magisch versiegelt gewesen, sodass nicht nur Menschen, sondern auch Spinnen oder Fledermäuse nicht hinein gelangt waren. Der Schattensänger beschwor ein silbernes Licht und ließ es zu dem verwitterten Deckengemälde aufsteigen. Das Fresko zeigte eine goala’ayra, eine rotgewandete Meisterin, die Trost spendete und hinter die Träume geleitete. Unkundige hatten dieses Bild einst geschaffen, in Zeiten, in denen sie die Rotgewandeten noch geehrt hatten.
Yalomiro fragte sich, ob es irgendwo im Weltenspiel ähnliche Abbildungen von Schattensängern gab. Bilder, die nicht jenen einen zeigten, der es ihnen allen verdorben hatte. Was mochte dessen Schicksal gewesen sein?
Er fing sein Licht wieder ein, schaute geistesabwesend auf die Tischplatte, wo sich Schattensängerblut über Hunderte von Wintern eingeätzt hatte und schauderte. Ursprünglich hatte er überlegt, das grässliche Werkzeug zu zerschmettern und die Trümmer verschwinden zu lassen. Aber er hatte es nicht getan. Es erschien ihm frevelhaft gegenüber denen, die ihr Blut hier verloren und auch jenen, die es aus ihren eigenen verzweifelten Beweggründen hier vergossen hatten. Dieser Opfertisch, von dem nie jemand erfahren würde, von wo und unter welchen Umständen Gor Lucegath ihn hergebracht hatte, war ein Andenken und eine Warnung. Es war nicht an ihm, dem Schattensänger, allein darüber zu bestimmen.
Und dennoch … es war ihm nicht wohl dabei, das einzige verbliebene Werkzeug des Rotgewandeten so nahe an den Menschen zu lassen. Die Magie, die es beherbergte, war so stark und … absurd.
***
Merrit Althopian schaute betrübt auf seinen Vater hinab. Der Junge hatte vorgehabt, in aller Stille zu ihm zu gehen und dort um Verzeihung für all den Unfug zu bitten, den er seit der Nacht angerichtet hatte. Aber das Gastgemach war verwaist gewesen. Da zwischenzeitlich aus Richtung der Küche deutliche Essengerüche hervorkamen und in der Halle Möbel gerückt und mit Geschirr geklappert wurde, nahm Merrit Althopian an, dass die Herren sich bereits für das Abendessen vorbereiteten.
Wo war nur die Zeit geblieben? Wie lange hatte er eigentlich mit Osse Emberbey in der Rosenlaube gesessen und sich gefühlt, als habe er einen verschollenen Bruder gefunden? Sicher, der Sommer neigte sich dem Ende zu, und die Tage wurden kürzer, aber so schnell?
Der Junge hatte die Gelegenheit dazu genutzt, sich zu waschen und ein frisches Hemd anzulegen. Als er anschließend aus dem Fenster auf den Hof hinaus blickte, entdeckte er seinen Vater und den yarl Grootplen gegenüber bei den Stallungen, dort, wo die wertvollen Rösser der Burg untergebracht waren. Der mynstir der teiranda begutachtete mit kundigem Blick das kleine Schimmelstütchen, das sie aus Althopian als Gastgeschenk für die teirandanja mitgebracht hatten. Auch die Tiere wurden offenbar gerade von ihrer Weide für die Nacht in den Stall geholt,
Ob die teirandanja sich das nette Tier auch schon angeschaut hatte? Der Vater hatte ihn, den Sohn, der ihm so viel unnötigen Kummer bereitete, selbst zwischen mehreren infrage kommenden Damenpferden auswählen lassen. Merrit hatte befunden, der Schimmel sei genau angemessen für seine künftige teiranda, die er nie zuvor gesehen hatte. Er war hübsch, sein Fell so sauber und makellos wie eine Apfelblüte und sein Gang so weich, dass es sich darauf saß wie auf einem Sessel. Er hatte es selbst ausprobiert.
Das kastanienfarbene Stütchen mit der wallenden braunen Mähne wäre noch etwas besser gewesen, meinte der Vater, der sich jedoch grundsätzlich dem Urteil des Sohnes anschloss. Merrit hatte ein hervorragendes Gespür für die Pferde. Aber die braune Stute sollte Manjév nicht haben. Die Mutter hatte einen prächtigen Zelter in ganz ähnlicher Farbe besessen, mit ebenso wallender Mähne, in die die Stallknechte glitzernde Glasperlen eingeflochten hatten.
Die beiden Männer waren so in ihr Gespräch vertieft, dass der Junge am Fenster ihnen nicht auffiel. Merrit schaute hinunter und schauderte beim Blick in die Tiefe. Tatsächlich, bei seiner unsinnigen Kletterpartie in der Nacht hätte er sich leicht den Hals brechen können. Leichtsinn war keine Tugend für einen Ritter. Sein neuer Freund hätte sicher versucht, ihn davon abzuhalten.
Merrit legte sich auf das Bett in der Gaststube und schaute nachdenklich zur Zimmerdecke, geschmackvoll und nett geschmückt mit bunten Ornamenten. Alles hier in Wijdlant war eine Spur vornehmer, teuer und geschmackvoller als auf der Burg seines Vaters. Nicht so sehr, als dass es ihn verlegen gestimmt hätte, aber doch so, dass es ihn daran gemahnte, noch mehr auf seine Manieren zu achten.
Sein Magen knurrte. Ein unpassendes Geräusch, das in Gegenwart der teirandanja sicher zu missbilligenden Blicken geführt hätte. Merrit machte sich bewusst, dass er seit jenem verhängnisvollen Bissen Brot am Vorabend nichts mehr gegessen hatte. Nun, er konnte es nicht verantworten, sich noch weiter zu verstecken. Offenbar waren den ganzen Tag hindurch Menschen in Sorge um ihn gewesen, und sicherlich würde der Vater es diesmal nicht bei einer Ermahnung belassen können. Merrits Gewissen war schwer. Aber es sollte wohl nicht so sein, dass er seinen Vater unter vier Augen hätte antreffen sollen.
Vielleicht gelang es ihm wenigstens, ihn kurz abzufangen, notfalls vor den Augen eines der anderen yarlay, bevor sie gemeinsam am Tisch der teiranday saßen, vorwurfsvolles Schweigen zwischen sich, bis er die Gelegenheit zur Reue bekam. Wenn wenigstens der freundliche Magier noch in der Nähe wäre! Merrit Althopian hatte sich schon lange nicht mehr so verstanden und geborgen gefühlt wie in Gegenwart dieses sonderbaren Mannes.
Der Junge erhob sich seufzend, zupfte sein Hemd zurecht, warf einen kritischen Blick in den kleinen Spiegel am Waschtisch und fuhr sich mit den Fingern durch sein etwas zu struwweliges blondes Haar. Zu zerzaust konnte er der teirandanja nicht unter die Augen kommen.
Er trat hinaus auf den Gang und an halb geöffneten und einigen geschlossenen Türen vorbei. Die unauffällige Tür, die sich durch nichts von den anderen unterschied und doch zum Gemach der teirandanja gehören musste, war geschlossen, aber dahinter wurde laut geredet. Merrit zögerte einen kleinen Augenblick und legte dann für einen kurzen Moment das Ohr an das Holz. Im Zimmer hielt eine Dame mit erhobener Stimme wohl einen Vortrag oder las etwas vor.
Der Junge wandte sich ab und nahm aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Auf dem Flur, der am Ende des Korridors in Richtung des Amtszimmers des teirand abknickte, näherte sich jemand.
Auch in der Gegenrichtung kam jemand vom Stiegenhaus auf den Gang.
Merrit zuckte zurück und trat rasch ein paar Schritte beiseite. Vielleicht hatten die beiden nicht gesehen, dass er gelauscht hatte.
„Sieh an”, sagte Láas Grootplen. Hatte der Sohn des hiesigen mynstir hinter dem Abzweig auf ihn gelauert? Wahrscheinlich, denn dort gab es keine Räume, in denen er einen Grund zum Aufenthalt gehabt hätte. „Da ist er ja, der Unsichtbare.”
„Wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht”, fügte Jándris Altabete zurück und schlenderte aus der anderen Richtung heran. „Den ganzen Tag haben wir jeden Stein umgedreht.”
„Ich war die ganze Zeit hier”, sagte Merrit Althopian. Etwas Heißes wallte in seinen Adern hinauf und versetzte seinen ganzen Körper in Spannung, wie eine Bogensehne. Er hatte keine Waffe bei sich und es war nichts in Griffweite, was sich verwenden ließ. Er solle sich von den Jungen fernhalten, hatte der Magier gesagt. Sicher nicht ohne Grund.
Aber anscheinend wollten sie ihn gar nicht angreifen. Sie trugen beide ihre Trainingsschwerter stolz bei sich, aber sie legten keine Hand daran.
„Wirklich bedauerlich”, sagte Láas und baute sich einige Schritte entfernt von Merrit auf. Der Weg zurück ins Gastgemach war damit versperrt. „Wir hätten uns auf viel freundlichere Weise miteinander bekannt machen können.”
„Ja”, sagte Merrit und wandte sich Jándris zu, der sich ebenfalls näherte. „Das ging gestern Abend alles etwas schnell.”
„Du bist ganz schön flink für dein Alter. Kämpft man auf Althopian immer mit Besen?”
„Nur, wenn gerade die Klingen aus sind”, gab Merrit zurück.
„He, wir wollen dich nicht ärgern!” Láas grinste. „Das war echt beeindruckend.”
Merrit runzelte die Stirn. Dem Kompliment traute er nicht.
„Ich bin Jándris Altabete”, stellte der jüngere der beiden sich vor und stützte sich lässig mit einem Arm an der Wand ab, womit er den Weg zumindest ein Stück weit blockierte. Die rechte Hand ballte er zur Faust und richtete sie zu Boden. Láas Grootplen tat dasselbe. Merrit zögerte einen Moment. Indem die beiden so andeuteten, dass sie nicht zum Schwert greifen wollten, zeigten sie einerseits, wie gut sie bereits die kleinen ritterlichen Gesten beherrschten, und dass sie nicht auf eine weitere Prügelei aus waren.
Ob sich der Konflikt lösen ließ wie unter ehrenhaften yarlay? Wie unter Erwachsenen? Merrit verschränkte die Hände über seinem Herzen, das für seinen Geschmack viel zu schnell und aufgeregt klopfte.
„Ich suche keinen Streit mit Euch”, sagte er und senkte kurz höflich den Blick. „Und es war nicht meine Absicht, Euch vor den Erwachsenen vorzuführen.”
„Hast du nicht. Das war natürlich alles so beabsichtigt. Wir mussten doch mal sehen, was du so alles kannst.”
„So?”, fragte Merrit, unsicher, ob Láas nun log oder prahlte.
„Aber was wolltest du bei der teirandanja am Fenster?”
„Gar nichts. Ich habe nicht gewusst, dass das ihr Gemach ist. Ich wollte …” Er zögerte. Vielleicht sollte er nicht gerade jetzt Osse Emberbey in die Sache hineinziehen.
„Ja?”
„Ich wollte einfach raus aus unserem Gastgemach, ohne dass es jemand bemerkt.”
„Andere Leute”, sagte Jándris, „benutzen dazu Türen.”
Merrit lächelte herausfordernd. „Klar. Aber das macht lange nicht so viel Spaß.”
Die älteren Jungen wechselten einen Blick miteinander, den er nicht zu deuten wusste.
„Wie dem auch sei”, fuhr Láas fort. „Unsere teirandanja hast du schwer beeindruckt, wenn auch nicht zum Besten. Sie ist ziemlich verärgert deinetwegen.”
Merrit nickte betreten. „Das kann ich ihr nicht verdenken. Ich hoffe, dass sie mir die Gnade gewährt, mich vor ihr zu erklären und um Vergebung zu bitten.”
„Nun, ich fürchte, darauf kannst du lange warten. Ich würde mich nicht wundern, wenn die teiranday ernsthaft darüber nachdenken würden, dich aus ihrer Gunst auszuschließen.
Nun sank Merrits Herz ihm tief in die Brust. Der Junge schaute den älteren Standesgenossen betroffen an. „Das glaube ich nicht!”
„Ich wäre da nicht ganz so sicher. Die teirandanja kann sehr launisch sein, das können wir dir sagen.”
„Oh ja”, stimmte Láas bedeutungsschwanger zu. „Es ist gar nicht so schwer, bei ihr in Ungnade zu fallen. Man muss sich mächtig anstrengen, sie wieder milde zu stimmen.”
Merrit ließ die Schultern hängen. Wenn das stimmte, dann hatte er nicht nur sich selbst unmöglich gemacht und seinen Vater enttäuscht, sondern möglicherweise bereits den Leumund des Hauses Althopian beschädigt. Er schaute die beiden älteren Jungen fragend an. Láas und Jándris dienten bereits seit mehreren Sommern auf Wijdlant, wahrscheinlich waren sie in der Obhut ihrer Väter bereits als Edelpagen und nun als die Knappen des jeweils anderen tätig gewesen. Sie kannten die teirandanja seit langer Zeit und sich mit den Gegebenheiten vor Ort und Befindlichkeiten der Majestäten aus. Und mit den Launen von Mädchen.
Und dann war da noch etwas, etwas, das ihn beirrte, beschämte und verletzte. Merrit Althopian wusste, dass er es niemals ertragen würde, wenn die teirandanja ihn verachtete.
„Wie konnte ich Ihr meine Demut bewiesen?”, fragte er. „Wie könnte ich meine Schuld vor Ihr abgelten, um die vergangene Nacht ungeschehen zu machen?”
„Nun ja.” Jándris gab seine lässige Haltung auf und schlenderte mit prüfendem Blick um Merrit herum. „Du kannst von Glück sagen, dass du so ein beherzter Kämpfer bist. Eiferst du deinem Vater auch in Kühnheit und Mut nach, oder nur in seiner vielgerühmten Kampfkraft und Manieren?”
„Wie meint ihr das'”
Láas setzt sich ebenfalls in Bewegung. Ehe er es sich versah, spürte Merrit die schwere Hand des älteren Knaben auf seiner Schulter.
„Weißt du, Merrit Althopian, es gibt da tatsächlich etwas, was du unternehmen könntest, um ihre Gnade zu erringen. Man braucht wohl ein wenig Beherztheit und Geschick, aber einer wie du, der nachts an Fassaden klettert und unsereinen mit ‘nem alten Besen vermöbelt, ist das ein Kinderspiel.”
„Na ja”, gab Jándris zu bedenken, „er ist ja auch ein Kind.”
„Lasst hören”, forderte Merrit ungeduldig. „Was soll ich tun?”
„Habt Ihr Türme in Althopian?”
„Ja, natürlich. Einen hohen Wohnturm mit Blick auf die Weiden.”
„Bist du oft da oben?”
Merrit zuckte die Achseln. „Gelegentlich.” Wenn er näher darüber nachdachte, war er in den vergangenen Monden sehr oft dort oben gewesen. Es ging tief hinunter von Zinnen.
„Nun”, antworte Láas und lächelte undurchschaubar, „Dann wird das für dich wohl keine Herausforderung.”
***
Manjév war fast eingedöst, seit die opayra begonnen hatte, wieder selbst aus dem langweiligen Benimmbuch vorzulesen. Sie selbst hatte eine längere zusammenhängende Passage darüber entziffert als je zuvor am Stück. Das war dem Kind nicht einfach gefallen. Zum einen war die altmodische Schrift schwer zu entziffern, die Sprache unnötig verschnörkelt und der Inhalt zu großen Teilen völlig irrelevant. Manjév hatte zwei Seiten über die statthaften Längen, Weiten und Farben eines vornehmen Gewandungsstücks mit einem Namen gelesen, von dem sie nie zuvor gehört hatte, Als sie schließlich nachgefragt hätte, was für ein komisches Ding das eigentlich darstellen sollte, hatte die opayra zugegeben, dass fragliche Mode schon seit hundertfünfzig Sommern nicht mehr getragen wurde. Manjév vermutete den Grund dafür in dem Umstand, dass niemand mehr bei der Statthaftigkeit des Gewandes durchgeblickt hatte. Als die teirandanja dann zu Recht fragte, was sie mit diesem Wissen denn dann jetzt noch beginnen sollte, hatte die opayra es vorgezogen, den Vortrag der Lektüre zu übernehmen.
Aber durch die monotone, aber gehobene Wortwand, die die opayra errichtete, drangen andere Stimmen hindurch, draußen vor der Tür. Sie waren nicht laut, ein ganz gewöhnlicher Gesprächston. Aber sie befanden sich unmittelbar vor ihrer Kammer auf dem Flur. Manjév hätte die Stimmen an jedem Ort erkannt. Láas und Jándris! Genau diejenigen, die sie so dringend sprechen wollte.
„Entschuldigt”, sagte Manjév und hob zaghaft die Hand. „Darf ich mal ganz kurz an die Tür?”
„Nein”, sagte die opayra.
„Ich will nicht raus. Ich laufe auch ganz bestimmt nicht weg …”
„Ihr bleibt brav sitzen. Bis ich dieses Kapitel beendet habe.”
„Wie lange dauert das noch?”
Die opayra ließ eine inakzeptable Anzahl von Seiten durch die Finger gleiten. Manjév sah das mit Entsetzen.
„Ich kann nicht warten!”, rief sie aus und erhob sich energisch.
„Majestät!”
Manjév schlüpfte an ihr vorbei. Die opayra reagierte mit einer verblüffenden Behändigkeit. Da sie die teirandanja nicht mit Gewalt packen durfte, schnellte sie aus ihrem Stuhl und stellte sich dem Kind in den Weg.
„Ich befehle Euch, mich durchzulassen!”
„Ich habe meine Order! Ihr benehmt Euch ungebührlich, Majestät!”
„Láas!”, rief Manjév verzweifelt. „Jándris! Kommt rein!”
„Majestät!”
„Bitte! Es ist wichtig!”
Aber niemand trat ein. Auch waren die Stimmen auf dem Flur verstummt.
„Bitte”, sagte Manjév kleinlaut.
Die opayra seufzte. „Ihr lauft nicht weg?”
Die teirandanja schüttelte den Kopf. „Mein Fuß kommt nicht über die Schwelle!”
Seufzend öffnete die Edeldame die Tür einen Spalt weit.
Aber der Flur lag verlassen. Niemand war zu sehen, weder links in Richtung Amtsszimmer, noch rechts, wo das Stiegenhaus zur Halle war.
Manjév seufzte und kehrte niedergeschlagen an ihren Platz zurück. Wahrscheinlich hatte sie sich einfach nur getäuscht.
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