
Der Honigkuchen und die Kekse waren nicht verdorben gewesen, ganz bestimmt nicht. Die Bäckerin, die das Naschwerk Tag um Tag vor den Toren von Aurópéa feilbot, achtete auf ausgezeichnete Qualität. Der Honig stammte von Bienenvölkern aus einem Landstrich nordöstlich von Aurópéa, wo ungeachtet des trockenen Bodens weite Teppiche von robusten Stauden wuchsen, die fast das ganze Jahr hindurch verschwenderisch blühten. Die Familie der Bäckerin kaufte seit Generationen bei Imkern, die ihrerseits seit Generationen dort ihre Bienen hüteten. Der Honigkuchen aus Aurópéa war ein Traditionsprodukt.
Úldaises Knechte waren dennoch davon überzeugt, jeden Moment hinter die Träume zu gehen. Der sinor bezahlte sie nicht schlecht, sodass die beiden beileibe nicht hungern mussten, aber sie hatten nur selten Geld für Naschwerk übrig. Somit waren die beiden es nicht gewohnt, in kurzer Zeit so eine große Menge Süßigkeiten zu verzehren. Die unbändige Gier, mit der sie sich über den Korb hergemacht hatten, verursachte nun Aufruhr in ihren Gedärmen und ließ sie zwischen quälenden Krämpfen, kaum auszuhaltender Nervosität und übermächtiger Müdigkeit hin und her taumeln.
Galéon hatte ein Ziel vor Augen. Auch bei Nacht war der Cielástel im Westen deutlich vor der Dunkelheit zu erkennen. Er fluoreszierte unwirklich wie ein Leuchtpilz in den Wäldern von Forétern, nur vielfarbig. Wenn es ihm nur gelang, den Hügel unbemerkt zu verlassen, konnte er es bis zum Sonnenaufgang dorthin schaffen. Nun, er benötigte noch die Worte, um seinen zerlumpten Anblick plausibel zu erklären, aber wozu war er ein báchorkor? Die Worte würden ihm zufliegen, sobald er endlich Zeit hatte, sich darauf zu konzentrieren.
Mit dem Baumstämmchen als Wanderstab kam er überraschend schnell voran. Es war eine gute Idee gewesen, es mitzunehmen, denn in der Dunkelheit wurden Steine und Unebenheiten im Boden zu Stolperfallen. Leider ließ sich der Abstieg nicht ganz lautlos bewerkstelligen, aber solange es ihm gelang, es bei leisen Geräuschen zu belassen, hielten die beiden ihn vielleicht für ein kleines Wildtier … wenn sie ihn überhaupt bemerkten, unter ihrem Stöhnen und Jammern. Für den Lärm sorgten sie schon selbst.
Galéon schlich in gebührendem Abstand an ihnen vorbei. Waren die Männer am Nachmittag noch bedacht gewesen, den Auftrag ihres Herrn gewissenhaft zu handeln, waren sie nun so auf sich selbst fixiert, dass sie vielleicht nicht einmal reagiert hätten, wäre er zwischen ihnen hindurch spaziert und hätte sie dabei gegrüßt. Und obwohl er natürlich Abstand hielt, rührte ihr Klagen ihn an. Ein ganz klein wenig.
„Da ist was”, sagte der eine plötzlich ganz plötzlich.
Galéon erstarrte.
„Ist mir egal”, klang es jämmerlich aus dem Gebüsch, wo es auch gar nicht gut roch.
„Ich guck nach”, ließ der eine seinen Kameraden wissen. „Da ist was, ganz bestimmt!”
„Wird ‘n Viech sein.”
„Hast Recht.” Der erste setzte sich geräuschvoll wieder hin, offenbar froh darum, eine Ausrede zu haben. „Ich bin so schlapp. Kann mich gar nicht aufraffen.”
Der im Busch gab ein paar geradezu unmenschliche ächzende Laute und Flatulenzen von sich. „Was, wenn der Alte plötzlich auftaucht?”
„Bei den Mächten, der bringt uns um.”
„Das wäre auch nicht mehr schlimmer als das hier!”
Der andere sprang urplötzlich wieder auf und begann, einige Schritte hin und her zu eilen. „Dieses verfluchte Kribbeln und Jucken ….”
„Vielleicht sind’s Ameisen.”
„Ich könnte mir die Haut abreißen, nur damit das aufhört!”
Zur Antwort bekam er nur ein schmerzhaftes Stöhnen. Den im Busch hatte es tatsächlich schwer erwischt.
„Ich geh mal ein paar Schritte. Solltest du vielleicht auch machen, dann löst sich was.”
„Eher sterb ich! Ich pass hier auf!”
Der báchorkor setzte sich langsam wieder in Bewegung. Der, der seine Gedärme verfluchte, der war ungefährlich. Der hatte genug damit zu tun, seine quälenden Beschwerden durchzustehen. Aber vor dem anderen, den, den der Honig aufgeputscht und unruhig gemacht hatte, vor dem musste Galéon sich in acht nehmen. Der war aufgeschreckt wie ein orientierungsloser Vogel bei Nacht und konnte im nächsten Augenblick unvermittelt in seinen Weg laufen.
Galéon horchte und fragte sich, wie unsichtbar er im Schatten der dürren Bäume und unter Noktámas schützenden dunklen Mantel tatsächlich war. Das Feuerchen, das die beiden bei Einbruch der Dunkelheit angefacht hatten, knisterte und zeigte ihm genau an, wo er tunlichst nicht zu nahe heran durfte. Úldaise würde bestimmt nicht erfreut darüber sein, daas die zwei so deutliche Signale setzten.
Er setzte sich wieder in Bewegung und schlich weiter. Sobald er das Lagenfeuer hinter sich hatte, konnte er schneller gehen. Noch war er zu nahe zumindest an dem Nervösen. Schritt für Schritt tastete der junge Mann sich voran, wie ein Blinder mit dem Stab den Grund vor sich erkundend. Die Füße hob er kaum an, ließ Halme und bodennahe Ästchen an seinen Beinen vorbeifließen, ohne dass etwas raschelte. Durch das zerschlissene dünne Leder seiner Schuhe versuchte er, totes Holz rechtzeitig zu ertasten, bevor es unter seinem Fuß zerbrechen konnte.
Schritt für Schritt kam es so voran, ging ruhig und mit verhaltenem Atem an Úldaises Handlangern vorbei.
Wenn er ausreichend Abstand hatte, dann konnte er sich im normalen Tempo bewegen. Sobald sie seine Schritte nicht mehr hörten, konnte er rennen. Abstand zwischen sich und die beiden bringen, und dann scharf nach Westen abbiegen. Sobald er die befestigte Straße erreichte, die am Rand der Wüste durch die Hügel mit ihren Gärten und Obsthainen führte, war er in Sicherheit. Auf der Straße würde er Verfolger bemerken. Ringsum gab es Möglichkeiten, sich zu verstecken. Den Cielástel konnte er in der Dunkelheit sehen, auf dem Weg ungehindert ausschreiten. Pataghíus Heiligtum würde ihn leiten wie ein Leuchtturm.
Galéon tastete mit dem Stab voran, strich lautlos Zweige aus seinem Weg, versuchte, eines mit dem Schatten zu werden. Hinter ihm machte der eine Knecht ziemlich viel Lärm, als er um das Feuer herum lief und jede einzelne Honigbiene für das süße Gift verfluchte, das ihn so sehr leiden ließ. Der andere stöhnte nur noch und gab ekelige Geräusche anderer Art von sich.
Der báchorkor lächelte grimmig. Galéon war immer ein mitfühlender Mann gewesen, aber dass die zwei, die ihm so übel mitgespielt hatten – wenn auch nur auf Befehl ihres Herrn – auf diese Weise ausgeschaltet waren, erfüllte ihn mit einer gewissen Genugtuung. Einmal war nun nicht er derjenige, der litt.
Kaum hatte er das gedacht, traf er mit seinem Stab auf etwas großes, weiches im hohen struppigen Gras vor sich, das seinerseits zusammengekauert versucht hatte, sich unsichtbar zu machen.
Mit einem ohrenbetäubenden Trompeten schoss der Prachtvogel aus seinem Versteck.
***
Die Sonne sank im Norden hinter den Horizont. Pataghíus Glanz, der feurige Ball, den er vor sich her trug, war für den Tag verschwunden, und nur ein Rest von nun schweren, dunklen Farben deutete noch an, wo er zuvor noch gewesen war. Im Süden prangte nun Noktámas Juwel am Himmel und erhellte die Schwärze zu einem tiefen Blau.
Die teiranday waren angekommen. Scheu durchschritt Kíaná von Wijdlant die Tür des Turmzimmers. Ihr hýardor folgte ich und schaute sich neugierig um. Er hatte dieses Zimmer nie zuvor betreten. Sie hingegen hatte hier schicksalhafte Stunden erlebt.
„Er ist nicht hier, Majestät”, sagte Yalomiro und erhellte den Raum mit sanftem silbernen Licht. Es schwebte über dem Tisch und ließ die Möbel und Regale, aber auch sein eigenes Gesicht, im Schatten. Der Magier erhob sich und rückte ihr den Sessel zurecht. „Bitte, setzt euch.”
Sie kam seiner Aufforderung nach, wenn auch zögernd. Der alte, geschnitzte Sessel war niemals etwas anderes gewesen als ein altes Möbelstück, das wahrscheinlich immer in Wijdlant gestanden hatte. Asgaý von Spagor bediente sich selbst und ließ sich auf dem einfachen Stuhl auf der anderen Seite nieder. Yalomiro trat in den Schatten.
„Was ist mit diesem Tisch passiert?”, fragte der teirand neugierig und tippte mit der Fingerspitze auf die silbernen Spuren im durchlochten Holz.
„Er ist etwas … ramponiert”, antwortete Yalomiro.
„Wie konnte er durch diese kleine Tür …”
„Liebster”, mahnte die teiranda, „wir sind nicht hier, um über Möbel zu reden. Nicht wahr, Meister Yalomiro?”
„Zu einem anderen Zeitpunkt würde ich tatsächlich gern mit Euch über das reden, was sich in diesem Zimmer noch an Inventar befindet. Sobald Ihr diese Kammer wieder verlasst und die Tür hinter Euch schließt, wird sie wieder versiegelt sein. Aber für den Moment wollte ich Euch hier sehen, um Euch etwas zu erklären. Ihr werdet gleich verstehen, worauf ich hinaus will. Doch zuvor: Hattet Ihr Gelegenheit, mit den beiden Jungen zu reden?”
„Nein. Nur mit dem jungen Emberbey.”
„Und?”
„Wenn die Mächte es wünschen”, sagte Kíaná von Wijdlant, „wird er ein guter maedlor werden.”
„Mynstir, wolltet Ihr sagen, nicht wahr?”
„Darüber”, sagte der teirand, „wird zu reden sein.”
„Sein Vater, Asgaý von Spagor, ist Euer mynstir.”
„Ja, aber …”
„Majestät, edle teiranda … Eure Tochter wird weit mehr brauchen als einen Gefolgsmann, der ihr die Last langweiliger Dokumente abnimmt. Das bringt mich zum Nächsten. Das Widerwesen ist dabei, das Weltenspiel erneut zu stören. Ich sehe keinen Zufall. Aber es ist für mich unbegreiflich, weshalb es sich unkundige Menschen mit solcher Voraussicht erwählt.”
„Bitte, Meister Yalomiro … was ist mit Manjév? Was können wir tun?”
„Nichts.”
„Wie – nichts?”, fragte Asgaý von Spagor verblüfft.
„Es gibt nichts, was Unkundige gegen das Widerwesen tun können, es sei denn, ihm zu widerstehen.”
„Dann tut Ihr etwas dagegen.”
„Das kann ich nicht.”
Asgaý von Spagor sprang auf. Unverhohlener Ärger stand in seinem Gesicht und passte nicht dorthin. „Ihr könnt nicht? Was seid Ihr denn für ein Zauberer?”
„Asgaý!”, mahnte die teiranda erschrocken.
„Ich werde versuchen, es Euch mit Geduld zu erklären, Majestät. Aber zunächst setzt Euch bitte wieder. Und hört mir gut zu. Ich werde Euch darlegen, was meiner Meinung nach hier zu geschehen beginnt. Aber ich will nicht, dass das, was zwischen uns geredet wird, Euch in Eurem Handeln dirigiert, ganz besonders, was Eure Tochter betrifft. Sobald Ihr dieses Gemach wieder verlasst, werdet Ihr Euch nicht an meine Worte erinnern, wohl aber an mein Versprechen.”
„Was machen wir dann hier?”, schnaubte Asgaý von Spagor.
„Zuhören, Majestät. Und nun bezwingt Eure Wut. Ich verstehe, welche Sorge Euch antreibt, und wüsste ich meine Tochter auch nur im Ansatz in ähnlicher Gefahr, ich wäre außer mir und vermutlich um einiges unvernünftiger. Was ich will, ist, dass Ihr die Ruhe bewahrt, bis ich klarer sehe.”
Der teirand setzte sich wieder. Wirklich besänftigt war er nicht, das konnte Yalomiro sehr deutlich spüren. Aber das war nun nicht zu ändern. Außerdem … es konnte nicht schaden, wenn der teirand etwas engagierter wäre in dem, was er tat und angesichts dessen, was kommen würde.
„Teiranda, Ihr habt mich hergerufen, weil Ihr Euch aus altem Wissen und Eurem Instinkt gesorgt habt, nachdem die yarlaraé aus dem Weltenspiel gerissen wurden. Ihr habt es richtig erkannt. Aber es gibt eine Schwierigkeit bei der Sache. Die Zeit.”
„Zeit?”
„Das Leben eines unkundigen Menschen, Majestät, ist … kurz. Viel zu kurz, als dass das Widerwesen gezielt und planvoll etwas tun könnte, um etwas damit anzufangen.” Er wandte sich dem teirand zu. „Stellt Euch vor, ihr stündet auf der Spitze des Montazíel, einen Bogen in der Hand, wie ein Jäger ihn verwendet. Der ganze Himmel über Euch, von Soldesér bis zu den Gestaden des Meeres, ist Eure Zielscheibe. Aber das Ziel, das Ihr treffen wollt, ist nicht größer als ein Fingerring, und der schießt schnell und kreuz und quer wie eine Fledermaus über Euch hinweg. Inmitten eines gewaltigen Schwarmes, und nur für einen halben Atemzug, bevor er verschwindet.”
„Was?”, fragte der teirand, der nie versucht hatte, auf irgendetwas zu schießen, verwirrt über diese ausschweifende Rede.
„Der Meister sagt, es sei dem Widerwesen unmöglich, einen einzelnen Menschen zu ergreifen.”
Yalomiro nickte. „Sehr gut, Majestät. Ihr müsst also keine Furcht haben, dass Eure Tochter sich unmittelbar in den Fängen des Widerwesens befindet.”
„Und was ist stattdessen geschehen?”
„Majestät … stellt Ihr Euch vor, ihr habt ein feines Gestrick vor Euch und es bleibt an etwas scharfem hängen, das den Faden zertrennt.”
„Es löst sich auf”, sagte Kíaná von Wijdlant.
„So kann es sich hier zugetragen haben. Und es muss nicht einmal die teirandanja zum Ziel haben. Es mag etwas vorhaben, das sich außerhalb unserer …” Er zögerte. Wenn sich Gor Lucegaths verlorener Schüler nicht offenbarte, stand die Wahrscheinlichkeit nicht schlecht, dass sie und er zu jenen gehören würde, die tatsächlich miterleben würden, was geschah. „Nun, etwas, das erst in einigen Generationen geschehen wird. Es hat einen Faden zertrennt und löst nun die Maschen auf, sodass das Gestrick, das die Mächte weben, seine Form verliert.”
„Können wir die Maschen irgendwie reparieren?”, fragte die teirandanja.
„Ihr habt gerade gefragt, was ich denn für ein Zauberer sei, Asgaý von Spagor.”
„Ich war unbeherrscht”, sagte der teirand zerknirscht.
„Ich habe mir ein Bild von dem gemacht, was hier geschehen ist und zu geschehen droht. Mehr dazu werde ich Euch nicht sagen. Aber ich werde mich bemühen, herauszufinden, was geschehen wird. Dazu habe ich Mittel, die ich nutzen werde. Aber nicht hier. Und dazu brauche ich Zeit.”
„Wie viel?”
„Vielleicht mehr, als wir haben.”
Kíaná von Wijdlant senkte den Blick. Der teirand seufzte und ballte nervös die Fäuste.
„Es ist eine sehr irreführende und naive Vorstellung, anzunehmen dass ein Magier Probleme einfach wegzaubern könnte”, fügte Yalomiro sanft hinzu. „Wir sind hier schließlich nicht in einem Märchen!”
„Und was sollen wir tun?”
„Sorgt Ihr dafür, dass Manjév von Wijdlant und Spagor eine gute teiranda wird. Ich denke, dass ich gerade noch ein paar Maschen sichern konnte, zumindest für den Moment. Aber es ist nicht abzusehen, in welcher Richtung sich das Gewebe trennt. Ein achtsamer Blick in Richtung Rodekliv ist vielleicht nicht von Übel. Irgendwie wurde schließlich Herrn Alsgörs verlorene Familie in die Sache hineingezogen, und das sicher nicht so zufällig, wie es scheinen mag.”
„Ich werde mir diesen sonderbaren Jungen aufmerksam anschauen”, sagte Asgaý von Spagor.
„Das wird nicht schaden. Aber, Majestät, bedenkt: Auch dieser Junge gehört zu dem großen Geflecht. Begegnet ihm nicht mit Vorbehalten, ohne dass er sich vor Euch beweisen konnte.”
„Natürlich nicht”, sagte der teirand. „Ich habe keine Vorurteile.”
„Das würde mich überraschen.” Yalomiro war belustigt. „Menschen haben immer Vorurteile, ob sie wollen oder nicht..”
„Meister”, fragte Kíaná von Wijdlant, „ist Manjév in Gefahr?”
„Nein. Ich denke, ich habe die Angelschnur, von der ich heute Mittag sprach, gelöst. Eine Angelschnur übrigens, die das Widerwesen möglicherweise ebenso ziellos in den Himmel geworfen hat wie einen einsamen Pfeil, abgefeuert vom Montazíel.” Von dem Angelhaken, nämlich Manjévs Unbehagen gegenüber Merrit Althopian, schwieg Yalomiro. Das mussten die Majestäten nicht wissen, bevor er mehr darüber in Erfahrung gebracht hatte. Nicht auszudenken, wenn sie in elterlicher Besorgnis und Unverständnis die Weltenspielzüge des Jungen blockierten. Merrit Althopian und Osse Emberbey, Herz und Verstand, ihnen durfte sich nichts in den Weg stellen. Das hatten die Mächte in dem Moment bekräftigt, als das Brot ins Spiel kam. Ein Zeichen oder ein Zufall, das war völlig egal. Er hatte das Signal verstanden. Den Haken, den würde er ganz vorsichtig aus dem Herz der teirandanja lösen. Er wusste nur noch nicht, wie.
„Meister”, sagte Kíaná von Wijdlant, „warum hier. Warum an diesem verschlossenen Ort?”
„Weil ich das, was an alter Magie in diesen Wänden verschlossen ist, nutzen kann, um diese Worte geheim zu halten. Hier sind keine Kinder, die lauschen und davon verängstigt werden.”
Sie nickte bedrückt. Asgaý von Spagor schaute sie fragend an.
„Liebste”, fragte er dann leise, „was hat es damit auf sich?”
„Lass es mich dir später erklären”, sagte sie. „Es ist kompliziert.”
Yalomiro hatte nichts dagegen einzuwenden. Sobald sie den Turm verlassen hatten, würden sie beide sich ohnehin nicht mehr daran erinnern, was sie hier getan hatten.
„Majestät”, sagte er, „Ich möchte- “
Ein hoher, vibrierender Klang, laut und zugleich sonderbar muffig, gedämpft, unterbrach ihn.
Asgaý von Spagor schaute sich irritiert um. „Was war das?”
Ein weiterer Ton, eine andere Tonlage, noch lauter und immer noch so seltsam dumpf.
„Wo kommt das her?”, fragte die teiranda.
Plötzlich, eine ganze Serie von Tönen, krumm und schief und dissonant. Yalomiro raffte seine Tasche an sich und zog hastig die Schnalle auf, die die Deckklappe hielt. Kaum hatte er sie geöffnet, wurden die Töne lauter, deutlicher und immer noch wirr, so als hacke ein Huhn auf die Saiten einer Laute ein.
Die Geige glühte in kaltem Silberschimmer. Licht zuckte wild über den Saiten hin und her. Jemand spielte darauf! Jemand benutzte seine Geige!
Der Schattensänger starrte sein Werkzeug verwirrt an. Es klang nicht einmal wie eine Geige. Aber das war nicht das, was ihn erschreckte. Wer spielte darauf? Wer hatte Kontrolle über das Instrument übernommen?
„Salghiára?”, flüsterte er.
„Meister?” Asgaý von Spagor starrte mit großen Augen die selbstspielende Violine an. Solche Misstöne hatte nicht einmal er selbst je einem Instrument entlockt. Die Klänge wurden immer schriller, härter, immer mehr von zaghaften einzelnen Noten zu eindringlichem Lärm. „Meister, was passiert da?”
Sie rief nach ihm. Sie hatte es irgendwie fertig gebracht, über die Entfernung, über den Montazíel und durch die Nacht hinweg, eine Verbindung mit der Geige aufzubauen. Sie tat es unbeholfen, ohne Struktur oder Kunstfertigkeit, aber aus jedem misstönenden Zupfen, das sie irgendwie bewerkstelligte, klang schiere Verzweiflung.
Sie zauberte. Sie benutzte ihre Intuition, ihre Emotion, ihr Vertrauen. Sie rief um Hilfe. Es war, so befremdlich es wirkte, einer der stärksten und reinsten Zauber, die er jemals von camat’ay gewirkt gesehen hatte.
Wäre die Panik in ihrem Tun nicht gewesen, er wäre entzückt gewesen über diesen gewaltigen Schritt, den sie vollbracht hatte. Aber das hier war kein Lehrstück. Sie flehte darum, dass er sie hören konnte.
„Bei den Mächten, bei Noktáma! Ich … entschuldigt bitte”, sagte er. „Das hier kann nicht warten.”
Er griff in die Tasche, ohne hinzusehen und zog den Bogen hervor. Als er ihn auf die Saiten setzte, sprühten Funken davon weg wie Mondlicht, das einen Diamanten zum Funkeln brachte. Die Töne prallten zusammen und schrillten gegeneinander an. Kíaná von Wijdlant hielt sich mit einem Wehlaut die Ohren zu. Asgaý von Spagor wich mit weit aufgerissenen Augen zurück. Er hatte nicht geahnt, wie schrecklich eine Geige klingen konnte.
Yalomiro spürte ihre Magie von den Saiten über den Bogen auf seine Hand übergehen. Sie zitterte. Sie war in Not. Er horchte, aber er konnte sie nicht verstehen. Da war keine Botschaft, keine Information. Nur Dringlichkeit. Und ein Gedanke. Dýamirée.
Ihm wurde kalt.
Er ging am teirand vorbei, zog mit dem Fuß dessen Stuhl näher an den Tisch. Ohne den Bogen von den Saiten zu nehmen, stieg er auf den Tisch. Wenn es einen mächtigen Platz gab, der seine Magie nun verstärken konnte, dann war es dieser Tisch. Hier hatten sie miteinander gestanden, als sie gemeinsam das Widerwesen zurück ins Chaos gedrängt haben.
Er begann, zu spielen. Unbeirrt über die Töne hinweg, die derweil von dem Instrument ausgingen, begann er seinerseits ein neues Lied.
Ich bin da! Ich bin da!
Die Saiten widersetzten sich für einen Lidschlag der Unmöglichkeit, zwei unterschiedliche Töne zugleich zu erzeugen. Die kollidierende Magie war so mächtig, dass die Unkundigen sie sehen konnten. Kíaná von Wijdlant griff hilfesuchend nach Asgaý von Spagors Hand. Der teirand stellte sich hinter sie und umarmte sie, ohne den Blick von dem Magier zu wenden.
Ich bin da! Ich höre dich. Hab keine Angst! Ich bin bei dir!
Er schloss die Augen und spielte weiter. Es kostete enorme Kraft, die Kontrolle über die Saiten zurückzuerlangen.
Il ay’ra! Hab keine Angst. Ich höre dich. Ich spüre dich. Was ist geschehen?
Er spielte. Seine Melodie, sanft, mächtig, tröstend, legte sich mit jedem Ton mehr und mehr wie eine Umarmung um jene, die Salghiára spielte, auf der anderen Seite des Montazíel.
Die Unkundigen schwiegen. Die Musik machte sie ehrfürchtig, still und andächtig. Sie begriffen ebenso wenig wie er, was passierte, aber er rührte sie an.
Ich bin da! Ich bin bei dir! Was ist passiert?
Er barg ihren dissonanten Aufschrei, zog ihn an sich, spielte und begann, sie mit seinen Bogenstreichen zu liebkosen. Eine Weile stritt sein Spiel gegen ihren Jammer an. Dann veränderte es sich. Wie auch immer sie die Töne erzeugte, sie begann, seiner Melodie zu folgen. Sein Spiel wurde zu einem merkwürdigen Duett aus fließendem Streichen und tickenden Anschlägen. Sie beruhigte sich.
Was ist passiert?
Er konnte sie nicht verstehen. Es war, als versuche er, mit ihr zu reden, während Sie hilflos verwirrt war.
Dýamirée …
Er spielte und versuchte, ihre Emotionen zu spüren. War Dýamirée etwas zugestoßen? Hatte es ein Unglück gegeben?
Dýamirée …
Mehr bekam er nicht heraus. Er spielte und atmete leise.
Nein. Es war nicht das Schlimmste passiert. In Salghiáras Magie war Angst und Dringlichkeit, sogar wirres Schuldbewusstsein, aber keine Trauer. Das war beruhigend. Dýamirée war nichts zugestoßen, was sie hinter die Träume gezogen hätte.
Ich komme, spielte er. Ich bin unterwegs. Ich komme!
Er spielte so lange weiter, seine liebkosende, beschwichtigende Melodie, bis sie sich gänzlich mit den fremden Tönen synchronisiert hatte und diese schließlich verklangen. Er spielte noch einen Moment allein weiter und kam dann sanft zum Ende.
Einen Moment lang verharrte er schweigend auf dem Tisch. Dann ließ er Geige und Bogen sinken und stieg den Tisch hinab.
„Meister”, flüsterte Kíaná von Wijdlant, „was war das?”
„Entschuldigt mich. Ich muss weg.” Er legte das Instrument zurück in seine Tasche und nahm sie auf die Schulter.
„Was heißt das – weg? Ihr könnt doch nicht einfach …”
„Natürlich kann ich das. Meine hýardora ruft nach mir.”
„Aber …”
Yalomiro warf ihm einen ungeduldigen Blick zu. Asgaý von Spagor wich zurück. Möglicherweise schüchterte ihn der Widerschein der maghiscal in den Augen des Schattensängers ein.
„Meister”, sagte Kíaná von Wijdlant flehend.
Er seufzte. „Ich komme wieder”, versprach er. „Aber nun lasst mich unbehelligt. Ich bin in übergroßer Eile.”
Er verneigte sich. Dann stieß er die Tür des Turmgemachs auf und verschwand.
„Moment mal!”, rief der teirand fassungslos aus und eilte ihm nach. Aber kaum stand Asgaý von Spagor auf der Treppe, hatte er vergessen, was er dort wollte. Kíaná von Wijdlant folgte ihm nach. Kaum hatte sie die Schwelle übertreten, verlosch auch ihre Erinnerung an die letzten Momente.
Die Treppe war leer. Außer ihnen beiden war niemand mehr im Turm. Ratlos standen beide einen Moment beieinander.
„Komm”, sagte die teiranda endlich. „In der Halle warten sie sicher auf uns.”
„Warum sind wir hier oben?”
Sie wandte sich um. Das geöffnete Turmzimmer lag nun im Dunklen hinter ihnen. Kíaná von Wijdlant schauderte. „Ich denke, hier ist Magie im Spiel. Lass uns später darüber nachdenken.”
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