Als die Sonne über die Wipfel der Bäume am See gestiegen war, hatte ich mich so weit gefasst, dass ich wieder etwas klarer denken konnte.

Yarl Moréaval blieb bewusstlos, was mich beinahe ein wenig erleichterte. Ich hätte nicht gewusst, was ich für ihn hätte tun können, wenn er nun zu sich gekommen wäre. Die Nachtblumen schienen dafür zu sorgen, dass er kein Blut mehr verlor, sein Atem war regelmäßig und er schien keine Schmerzen zu leiden. Wäre diese grässliche Wunde nicht gewesen, hätte man meinen können, er schliefe tief und entspannt.

Ich hatte mich dazu überwinden können, wenigstens seinen Gürtel zu öffnen, damit er möglichst bequem lag. Wegnehmen konnte ich den Riemen nicht, denn die leere Schwertscheide hing daran und war von den Blumenranken überwuchert. Aber mir fiel ein seltsames Anhängsel in die Finger, das nahe der Schnalle befestigt war; zwei runde Lederscheiben, etwa halb so groß wie meine Handfläche. Als ich die Plaketten umdrehte, erkannte ich, dass mit sehr viel Kunstfertigkeit jemand mit einem extrem feinen Werkzeug ein Bild darauf punziert hatte. Das eine war das erstaunlich detaillierte Porträt einer älteren Dame mit altmodischem Kopfputz. Das andere zeigte eine junge Frau mit hoher Stirn und langem, glatten Haar und ein lockenköpfiges Kleinkind.

Das brachte mir schmerzlich in Erinnerung, dass Moréaval kein einsamer Kämpfer war. Aber ich durfte mich jetzt nicht ablenken lassen. Vorsichtig legte ich ihm die Bilder seiner Mutter, seiner hýardora und seiner kleinen Tochter in die Hand und schloss seine gepanzerten Finger darum. Dann musste ich mich losreißen. Ich verlor Zeit.

So schlecht und unnütz ich mir dabei vorkam, ließ ich ihn fürs erste einfach liegen. Hier konnte ihm nichts geschehen, und am Himmel waren nur harmlose Schönwetterwolken zu sehen. Falls es anfinge, zu regnen, würde ich ihn mit irgendetwas bedecken müssen, aber darüber konnte ich später nachdenken.

Immerhin gelang es mir, sein Pferd einzufangen, das schließlich wieder am Etaímalon auftauchte. Wahrscheinlich wurde es von den Kräuter- und Gemüsebeeten angelockt , die Yalomiro dort für mich angelegt hatte. Einen Moment lang überlegte ich ernsthaft, ob ich mir das Pferd wohl ausleihen konnte, um nach Wijdlant zu gelangen. Das allerdringlichste war, Yalomiro zu beichten, was geschehen war. Aber das war ein dummer Gedanke; schließlich konnte ich weder reiten noch würde ich auf eigene Faust den richtigen Weg über den Montazíel finden. Ich würde entweder noch im Boscargén vom Pferd fallen und verunglücken oder mich so hoffnungslos verirren , dass Yalomiro schon längst wieder am Etaímalon anlangte, während ich mich in den Schluchten und auf den Pässen verlief. Dann stünde er hier, ohne zu erfahren, was passiert war.

Es blieb mir wohl tatsächlich nichts weiter übrig als zu warten, dass er von seiner Reise zurückkehrte. Aber wie lange würde das dauern? Was geschah derweil mit Dýamirée? Ob es ihr gut ging? Ob dieser sonderbare arcaval’ay sie wenigstens gut behandelte?

Und über alldem schwebte die Frage: Was hatte der Regenbogenritter mit unserem Kind vor? Was würde er von uns verlangen, um Dýamirée auszulösen?

Moréavals Pferd tat sich an meinen Beeten gütlich und ließ sich nicht von mir stören. Um etwas Sinnvolles zu tun, versuchte ich, das Tier abzusatteln und vom Gepäck seines Herrn zu befreien. Damit war ich eine Weile beschäftigt, da ich keine Ahnung hatte, welche der vielen Schnallen tatsächlich zu öffnen waren. So demontierte ich das Sattelzeug nach und nach Riemen um Riemen und war froh darüber, dass mir niemand zuschaute. Dabei klagte ich dem Pferd mein Leid. Der große braune Hengst war ein geduldiger Zuhörer, aber als ich endlich auch sein Zaumzeug in Händen hielt, trottete er einfach davon. Ich ließ ihn laufen. Hier im Wald konnte ihm nichts geschehen, und sicherlich würde das Ross sich nicht allzu weit von meinem Gärtchen entfernen.

Ich schleppte die Habe des Ritters in den Etaímalon und legte das Zeug in Dýamirées Zimmer ab, wo es kein Unbefugter finden würde. Das war lächerlich, denn es war nicht zu erwarten, dass noch jemand ausgerechnet jetzt auftauchen würde, um zu stehlen. Anderseits hatte ich den Schutzzauber um den Wald aufgegeben und jeder, dem es einfiel oder den es zufällig her verschlug, konnte ungehindert in das Gebäude eindringen.

Jahrhundertelang hatten die camata’ay das Heiligtum behütet. Niemand konnte ohne Wissen und Billigung des Großmeisters in den Wald hinein. Wahrscheinlich war – abgesehen von jener Zeit zwischen dem Tod von Askyn Lagoscyre – Yalomiros altem Meister – und seiner Rückkehr hierher von zehn Jahren – der Etaímalon niemals ganz ohne Hüter gewesen. Irgendjemand war immer im Boscargén gewesen.

Und ausgerechnet jetzt tauchte ein Regenbogenritter auf, einer jener Magier, die sich all die Zeit nicht um die Schattensänger gekümmert hatten. Wie hatte er von dem so außergewöhnlich günstigen Moment wissen können?

Ich setzte mich auf Dýamirées Bettkante und ließ meinen Blick über die wenigen Dinge gleiten, die sich abgesehen von ihrer Schlafstelle im Raum befanden. Ein Außenstehender hätte sicherlich nicht vermutet, dass dies hier ein Kinderzimmer war. Dýamirée besaß nicht viel, abgesehen von etwas Kleidung und einigen primitiven Spielsachen, die ich und Yalomiro unbeholfen selbst für sie aus Material gebastelt hatten, das wir teils aus der Natur gesammelt, teils von den Bewohnern des Dorfs bei der Erzmine besorgt hatten. Auf ihrem Kopfkissen saß ein unförmiges, mit Wolle ausgestopftes Kuscheltier aus Filzresten, das ich vor vielen Jahren mehr schlecht als recht zusammengenäht hatte. Es sah aus wie eine Kreuzung aus einem Bären und einem Schaf und war Dýamirées ständiger Begleiter gewesen, als sie noch ein kleines Kind gewesen war. Yalomiro hatte die wackligen Nähte so oft mit Magie repariert und geflickt, dass das Schmusetier nun praktisch unzerstörbar war. Ich nahm es in die Hand und ließ meine Gedanken treiben. Nicht einmal das hier hatte sie bei sich, war ganz allein und dem Wohlwollen des arcaval’ay ausgeliefert.

Mir musste dringend etwas einfallen. Aber was konnte ich ganz allein hier tun?

Was hatte der Regenbogenritter wirklich hier zu suchen gehabt? Gab es im Etaímalon irgendetwas, das die Hellen Magier interessieren könnte? Irgendein geheimes Artefakt, von dem ich nichts ahnte, vielleicht sogar etwas, wovon Yalomiro nichts wusste? Etwas aus dem Nachlass der alten Großmeister?

Ich nahm das Stofftier mit mir und ging hinüber in Yalomiros ehemaliges Zimmer, den Raum, den ich damals, als ich vor zehn Jahren hierher geraten war, mit dem Weltenschlüssel betreten hatte. Hier hatte er als Schüler des Großmeisters gewohnt und nutzte ihn jetzt, um Utensilien und Schriften aufzubewahren, die er aus dem privaten Gemach von Meister Askýn hierher geräumt hatte. Dieses, das größte als Unterkunft im Etaímalon bestimmte Zimmer, bewohnten wir nun miteinander. Yalomiro wollte keine Spuren des alten Meisters um sich haben, wenn wir beieinander waren. Ich konnte das nachvollziehen. So sehr ich meine Großmutter geliebt hatte, in meinem alten, zurückgelassenen Leben hätte ich auch nicht unbedingt ihre alten Möbel in meinem Schlafzimmer aufgestellt.

Ich schaute mich in dem Raum um, der nun zum Stauraum für jegliches magische Inventar im Etaímalon geworden war. Die Sachen in den Regalen und auf dem Tisch lagen ohne erkennbares System umher. Yalomiro hatte wenig Sinn für Ordnung, aber er beherrschte sein kreatives Chaos mit schlafwandlerischer Präzision.

Ich setzte das Stofftier auf den Tisch und nahm nacheinander einige der Bücher, Gefäße und Utensilien zur Hand. Dabei fiel mir etwas in die Hände, wovon ich nicht sofort erkannte, was darstellen sein sollte. Zwischen einem Stapel ledergebundener magischer Schriften und einem offenen Holzkästchen mit verschiedenen Steinen lag eine hölzerne Spule, auf die etwas aufgewickelt war. Es sah aus, wie eine transparente Schnur. Nein, mehrere Schnüre, akkurat nebeneinander aufgewickelt.

Ich nahm die Spule in die Hand und runzelte die Stirn. Was mochte das sein? Es war kein Garn, keine Kordel, kein Faden. Aber ich war mir sicher, so etwas schon einmal gesehen und berührt zu haben.

Ich strich vorsichtig über die aufgewickelten Stränge und zog den Finger rasch zurück. Ich hatte etwas gespürt, wie einen winzigen Stromschlag, nicht heftiger, als hätte ich einen aufgeladenen Wollpullover berührt.

Ich stutzte und versuchte es vorsichtig noch einmal. Wieder gab es eine kleine Entladung, aber es geschah noch etwas anderes. Der Faden schimmerte unter meiner Fingerspitze silbrig auf, ein Funke schien ein kleines Stück weit in die Schnur hinein zu fahren und wieder zu verglimmen.

Und dabei hatte ich ein Geräusch gehört. Oder nein … nicht gehört, nicht als Klang hier im Zimmer. In meiner Erinnerung, ganz, ganz leise, wie in großer Entfernung. Ein Bruchstück von dem Klang, den ich so sehr liebte und der mich und Yalomiro so fest verband.

Saiten, begriff ich. Das waren Saiten! Ersatzsaiten für Yalomiros magische Geige.

Ich versuchte es noch einmal, aber diesmal geschah nichts mehr, keine Entladung, kein Gedankenklang. Womit auch immer ich den Funken, diesen lautlosen Ton ausgelöst hatte, ich hatte es wieder verbraucht. Aber zweifellos hatte Yalomiros Artefakt auf mich reagiert. Nein, nicht auf mich – auf meine maghiscal. Unkundige waren nicht dazu in der Lage, Schattensängerartefakte zu benutzen, das war unmöglich. Ohne Magie hätte

ich die Saiten berührt, ohne etwas zu spüren oder zu hören. Bedeutete das, dass sich meine Kräfte regenerierten? Konnten mir magische Geigensaiten dabei helfen, meine Magie wieder zu aktivieren, wenn ich nur ein wenig damit wartete?

Ich umschloss die Spule fest mit meiner Hand und wagte nicht zu hoffen. Dann rannte ich hinüber in Noktámas Saal.

***

„Was war denn heute Nacht los?”, fragte Tíjnje aufgeregt.

„Was soll los gewesen sein?”, fragte Manjév gelassen.

„Na ja. Mama hat mir gesagt, dass Láas wohl heute nicht mit in die Lehrstunde kommt. Opa hat ihn und Jándris mit aufs Feld genommen.” Das kleine Mädchen kicherte. „Ich hab Láas vorhin gesehen. Er sah aus, als würde er noch schlafen, so müde war er. Aber er wollte mir nicht sagen, warum er die halbe Nacht wach war.” Sie schaute sich um und fügte empört hinzu: „Er sagt, das geht mich gar nichts an.”

Manjév lächelte finster, nahm das Körbchen mit Wecken entgegen, das einen Küchenmagd ihr anreichte und gab es an Tíjnje weiter, um die Hände für den kleinen Milchkrug und die Tonbecher frei zu haben. Etwas Zerbrechliches mochte die teirandanja ihrer kleinen Gefährtin noch nicht anvertrauen. Ohnehin war es nicht statthaft, dass die Mädchen sich ihr Frühstück selbst in der Küche holten. Die Küchenmägde jedoch kamen gehorsam der Bitte der kindlichen Herrin nach und händigten ihr gehorsam das Gewünschte aus.

„Der Sohn von Herrn Waýreth wollte in mein Zimmer einbrechen. Fast wäre er drin gewesen. Mein Papa hat ihn gerade noch wegschubsen können.”

„Einbrechen?”

„Durchs Fenster.”

Tíjnje war sprachlos. Manjév trug die Morgenmilch voran, durch eine Nebentür hinauf aus dem Hof. Das kleinere Mädchen eilte hinterher.

„Wie ist er denn ans Fenster …”

„Keine Ahnung.”

„Und was wollte er?”

„Ich weiß nicht. Vielleicht wollte er meine Krone stehlen.”

Diese Idee schien Tíjnje nicht zu überzeugen. „Was soll denn ein Junge mit einer Mädchenkrone?”

„Vielleicht wollte er ja auch was anderes. Láas und Jándris haben jedenfalls mit ihm gekämpft. Mein Papa wird die beiden dafür reich belohnen. Vielleicht bekommt Láas endlich den Helm, den er sich so lange wünscht.”

„Und der Sohn von yarl Althopian?”

„Den lässt meine Mama ganz bestimmt im finsteren Verlies in Eisen legen, bis die Ratten ihn auffressen! “

Tíjnje runzelte skeptisch die Stirn. Sicher konnte die Kleine sich weder vorstellen, dass die gütige teiranda so etwas veranlassen würde, noch dass es in Wijdlant ein rattenbevölkertes Verlies gab. Andererseits hatte Láas erst kürzlich eine gruselige Geschichte erzählt, in der einem tapferen teirandanjor genau dieses Schicksal widerfahren war.

Grübelnd folgte sie ihrer Herrin und knabberte dabei an ihrem Brot. Dass es nicht normal war, durch das Fenster ungebeten in das Zimmer einer teirandanja einzudringen, war nicht artig. Da war es auch unerheblich, wie der fremde Junge es überhaupt geschafft hatte, dorthin zu gelangen.

„Wenn mein Papa hier gewesen wäre”, sagte sie dann, nachdem sie einen Bissen heruntergeschluckt hatte, „dann wäre das nicht passiert. Der hätte gut auf dich aufgepasst.”

„Das weiß ich doch, Tíjnje. Ich bin auch froh, wenn er wieder hier ist.”

„Gut, dass dein Papa da war. Hat er den Jungen wirklich aus dem Fenster geschubst?”

„Ja, hat er.”

„Aber hat der sich dabei nicht ganz schlimm weh getan?”

Manjév überlegte kurz und lief dann hinüber zu dem Beerenbusch unterhalb ihres Fensters. Der Strauch stand kräftig und es schien ihm weder ein Ästlein geknickt, noch hatte er Blätter verloren. Manjév versuchte, sich ihre Verwirrung nicht ansehen zu lassen. „Ich glaube nicht.”

„Na, dann ist es ja gut. Gehen wir jetzt hinauf und spielen, bis die opayra und der mestar kommen?”

„Nein. Wir gehen nachschauen, wo Láas und Jándris sind.”

„Aber das dürfen wir nicht. Die sind außerhalb der Mauern.”

„Na und?”

„Da dürfen wir ohne einen Erwachsenen nicht hin.”

Das war ein berechtigter Einwand. Manjév warf einen Blick hinüber zum Torwächter, der die Leute kontrollierte, die die Zugbrücke benutzten. An dem war kein Vorbeikommen. Zwar gab es noch weitere Außentüren, die führten allerdings auf den inneren Wall zwischen Mauern und Burggraben, brachten sie also nicht weiter.

„Wir könnten nach oben gehen und aus dem Fenster gucken”, schlug Tíjnje vor. „Sie sind bestimmt auf dem Westfeld. Da haben sie genug Platz.”

„Dann komm!” Manjév eilte zum Hauseingang hinüber.

„He! Wollen wir nicht wenigstens unsere Milch trinken? Oder trägst du den Krug den ganzen Tag mit dir herum?”

Die teirandanja seufzte, gab dem kleinen Mädchen den Becher in die Hand und schenkte ihr ein. Tíjnje trank bedächtig und für Manjévs Geschmack viel zu langsam. Sie wollte nicht zu lange für alle Augen sichtbar auf dem Hof stehen. Schließlich konnte jeden Moment die opayra oder der mestar auf der Suche nach den Mädchen auftauchen.

Manjév nahm sich selbst von der Milch. Becher und den leeren Krug konnten sie einfach hier auf dem Mäuerchen stehen lassen; jemand würde das Geschirr schon in die Küche zurückbringen. Auf den Wecken hatte sie keine Lust, nicht jetzt. Doch Essbares fortzuwerfen sahen die Eltern nicht gern, und es war gerade kein Pferd oder Hund in der Nähe, dem sie es verbotenerweise hätte zustecken können. Also verstaute sie das Milchbrötchen achtlos in dem Samtbeutelchen, den sie am Gürtel trug und der ansonsten nur ein paar Haarspangen, ein paar Murmeln aus Achat und ein Halbdutzend Kupfermünzen enthielt.

„Bist du endlich fertig?”

„Die laufen uns schon nicht weg”, seufzte Tíjnje und stellte ihren Becher neben den Krug. „Gehen wir rauf zu deinem Gemach?”

„Ins Geschoss darüber. Da sucht uns niemand.”

„Aber da wohnen doch die opayra und der mestar, gleich neben dem Lernzimmer, und …”

„Ja. Eben darum. Da suchen sie uns zu allerletzt.”

Eigentlich hätte es kein Problem darstellen sollen, das Stiegenhaus zwischen der Halle und dem Wohnhaus zu benutzen. Aber als die Mädchen im zweiten Geschoss anlangten, fanden sie den Zugang zum Korridor mit den Gastgemächern ungewöhnlich bevölkert vor. Fast ein Dutzend Personen, Damen, Gesinde und sogar einige Männer, die Althopian und Emberbey begleitet hatten, hatten sich zusammengeschart. Auch Tíjnjes Mutter, die yarlara von Moréaval stand dabei, woraufhin die Kinder sich beeilten, vorbeizuhuschen. Sie wurden nicht bemerkt, denn alle Erwachsenen waren mäuschenstill und blickten gebannt und verwundert ans Ende des Korridors, von wo aufgebrachtes Stimmengewirr ertönte. Gedämpft zwar von einer dicken Holztür, aber dennoch so laut, dass ohne Zweifel stand, dass sich dort hinten, im Amtszimmer des teirand, Männer aus Leibeskräften anschrien. Manjév erkannte die Stimme des Vaters und wunderte sich. Sie kannte den stets so entspannten, gutmütigen teirand nur freundlich und umgänglich. Was immer die Herren da zu bereden hatten, es war keine höfisch-diplomatische Plauderei. Auf gar keinen Fall.

Manjév zog Tíjnje energisch weiter die Treppe hinauf und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Hoffentlich war das ein Donnerwetter, unter dem der helläugige Knabe aus Althopian sich gehörig zusammenkauern musste.

***

Merrit Althopian entspannte sich ein wenig. Auch Osse Emberbey nutzte die Gelegenheit, sich etwas auszustrecken. Seit der teirand und die beiden Ritter von ihren Plätzen aufgesprungen waren und nun aufgebracht im Raum umherliefen, hatten sie etwas mehr Platz unter dem Tisch. Lediglich der Mann mit den schwarzen Beinkleidern und Schuhen saß weiterhin am Tisch und wirkte, soweit man es an der Haltung seiner Füße beurteilen konnte, überraschend gelassen. Er war auch der einzige, der nicht herumbrüllte. Er wolle sich nicht einmischen, hatte er gesagt. Er beobachte lediglich.

Bei den Mächten, wer war dieser Mensch?

Aber auch wenn die Kinder für den Moment ein wenig Beweglichkeit gewonnen hatten, hatte sich ihre Situation nicht wesentlich gebessert.

„Das ist ungeheuerlich, Emberbey!”, rief der teirand aus. „Wie könnt Ihr es wagen, auch nur daran zu denken, dass …”

„Ich habe keine Wahl, Majestät! Und ganz sicher habe ich es nicht leichtfertig getan!”

„Ausgerechnet aus Rodekliv! Das ist völlig ausgeschlossen!”

„Was soll ich tun? Ist es meine Schuld, dass meine Schwester ausgerechnet mit einem sittenlosen Haderlump von dort davongelaufen ist?”

„Das Schicksal Eurer Schwester, Emberbey, so tragisch es sein mag, es tut hier nichts zur Sache! Ich will keinen künftigen Kämpfer aus Rodekliv! So tief wird Spagor nicht sinken.”

„Herr”, lenkte Waýreth Althopian ein, „wir reden hier immer noch von einem Kind. Nicht von einem …”

„Althopian! Musste ich mir nicht all die Winter gerade von Euch anhören, welche Bedrohung hinter den Grenzen lauert? Wie ernst es zu nehmen sei, wenn die yarlay von Rodekliv und Ferocrivé die Gelegenheit ergreifen, um zuzupacken?”

„Die Gefahr will ich mitnichten herunterspielen. Ich gebe nur zu bedenken, dass …”

„Es ist das nächstbeste, was ich meinem teirand an männlichem Blutsverwandten bieten kann, Majestät”, fiel der alte Ritter Althopian ins Wort. „Es war offenbar nicht Wille der Mächte, dass meine Schwester nach Valvivant, Forétern oder meinetwegen Ivaál zu gehen beliebte!”

„Nun zieht nicht Iváal in die Sache hinein”, zischte Althopian.

Merrit Althopian unter dem Tisch verzog jammervoll das Gesicht. Dass jemand das yarlmalon Iváal erwähnte, schien ihm ebenso einen Stich zu versetzen wie seinem Vater.

Asgaý von Spagor ließ sich schwer in seinen Sessel fallen. Sein ausgestrecktes Bein fuhr zwischen die beiden Jungen wie ein Zaun.

„Es fällt Euch reichlich spät ein, diesen letzten Ableger derer von Emberbey aus einer derart ungesunden Umgebung herauszuholen.”

„Herr, ich …”

„Welche Rolle spielt Eure Enkelin in dieser Geschichte, Emberbey? Gibt es noch weitere Kinder?”

„Nein. Nicht, dass ich es wüsste.”

„Wer ist sie? Was macht sie in Rodekliv? Und wer ist der Vater des Jungen?”

„Herr, das möchte ich lieber nicht vor den Ohren von …”

„Das genügt mir als Antwort! Setzt Euch. Alle beide.”

Osse und Merrit wechselten ratlose Blicke miteinander. Die Ritter ließen sich nieder, was dazu führte, dass Merrit in einer sehr unkomfortablen Pose erstarrte. Osse rückte so weit von seinem Vater weg, wie es nur möglich war.

„Althopian”, bat Asgaý von Spagor, „bitte sagt wenigstens Ihr mir etwas Beruhigendes. Wie sehr müssen wir Ferocrivé und Rodekliv fürchten?”

„Landseitig nicht, solange ich da bin, Herr. Und hernach wird mein Sohn … nun, ich … ich weiß es nicht. Alles, was ich sagen kann, dass meine Leute alle paar Monde vereinzelte arme Seelen in meinen Wäldern und Weiden aufgreifen, die es irgendwie geschafft haben, dorthin zu gelangen. Ihre Geschichten sind glaubwürdig und nicht erfreulich.”

„Und seeseitig? Emberbey?”

„Übers Meer hat es in den letzten zwei Sommern niemand mehr geschafft, Herr.”

Nun meldete sich der Schwarzgewandete zu Wort. Seine Stimme war ruhig, ohne Strenge und Vorwurf.

„Was sind das für Geschichten, Herr Waýreth? Ich gewinne den Eindruck, dass ich dort, wo ich wirke, ein wenig die Geschäfte der Unkundigen im Norden aus den Augen verliere. Leiden die Leute jenseits Eurer yarlmálon Elend und Not?”

„Nein, Meister. Es sind sogar sehr wohlhabende yarlmálon. Den Menschen fehlt es nicht am Nötigsten, so wie zu Zeiten der Magischen Kriege. Aber die yarlay regieren mit eisernen Fäusten und ohne Weisheit und Milde.”

„Welchem teirand dienen sie?”

„Gar keinem. Sie haben vor langer Zeit gemeinschaftlich ihre teiranda gestürzt und das teirandon unter sich geteilt.”

„Es sind nun freie yarlmálon, ähnlich wie Ivaál”, erklärte Alsgör Emberbey. „Aber sie haben ein Bündnis miteinander und viele Männer in Waffen. Das mag der Grund sein, weshalb noch niemand auf den Gedanken kam, sie anzugreifen.”

„Wer sollte sie angreifen?”, fragte Asgaý von Spagor. „Ich habe kein Interesse daran, das teirandon zu vergrößern.”

„Ihre eigenen Leute”, sagte Waýreth Althopian. „Die Willkür und Brutalität der yarlay erduldet nicht jeder so gefügig, wie sie es gern hätten.”

„Was trieb Eure Schwester einst dorthin, wenn es dort kein glückliches Leben gibt?”, fragte der Schwarzgewandete.

Alsgör Emberbey seufzte. „Sie hielt es für Liebe”, sagte er dann. „Das einfältige Mädchen. Sie wurde getäuscht und verschloss ihr Herz vor allen Warnungen.”

„Und Eure Enkelin? Was hält sie dort?”

Alsgör Emberbey lachte bitter auf. „Ihr hýardor? So wie sie es mir schreibt, geht es ihr nicht schlecht dort. Und mehr in die Einzelheiten mag ich wirklich nicht gehen, bei allem Respekt.”

Einen Augenblick lang war es still. Dann hakte der Schwarzgewandete nach: „Aber das Kind würde die Mutter gern in Eurer Obhut sehen?”

„Meister”, sagte der alte Ritter müde, „Ich wüsste nicht, dass es Euch etwas angeht. Aber mein Vater hat meine Schwester nicht verstoßen. Jederzeit hätte er sie mit offenen Armen wieder aufgenommen, ohne sich an dem Ungeborenen zu stören. Sie wusste das, aber sie hat sich verblenden und aufhetzen lassen. Nun ist es an mir, willkommen zu heißen, was zurückkehren will.”

„Auf Kosten Eures eigenen Sohnes? Nun, da Euch keine andere Wahl bleibt?”

Wieder Schweigen. Osse wartete gespannt. Er hatte von diesem fremden Jungen, der der Logik nach sein Vetter sein sollte, nie zuvor gehört. Von seiner Tante, die einst dem Haus Emberbey den Rücken gekehrt hatte, wusste er. Aber dass der Vater sich heimlich die Mühe gemacht hatte, der Abtrünnigen nachzuforschen, nur um jemanden zu finden, der wenigstens noch ein paar Tropfen von seinem Blut in sich trug – das verletzte ihn tief.

Merrit Althopian, der immer noch in seiner unbequemen Haltung ihm gegenüber hockte, hatte ebenfalls gespannt zugehört. Sein eisfarbener Blick musterte sein Gegenüber in einer seltsamen Mischung aus Mitgefühl und Verwirrung. Osse zwang sich zu einem Lächeln und zuckte die Achseln.

„Um alte Fehler zu bereuen”, sagte Alsgör Emberbey schließlich. „In der Frist, die mir die Mächte noch lassen.”

„Herr Alsgör”, sagte Waýreth Althopian, „möglicherweise macht Ihr in der Frist, die Euch im Weltenspiel noch bleibt, einen nur noch schlimmeren Fehler.”

„Wie kommt Ihr dazu?”

„Ich lege keinen Wert darauf, dass jemand mein Nachbar wird, der vom Geist von Rodekliv und seinen Despoten vergiftet ist!”

„Warum? Wir reden von einem Kind, das habt Ihr gerade selbst gesagt! Ein Kind, das immerhin in der Lage wäre, das ihm Anvertraute zu verteidigen!”

„Bei den Mächten, Emberbey!” Althopian hielt es wieder nicht auf seinem Sessel. Merrit atmete auf und setzte sacht sein Knie wieder auf den Boden. „Wenn Ihr Euren Sohn für einen solchen Schwächling haltet, dann lasst mich und den meinen Euer Haus verteidigen, bis Eure Töchter hýardoray finden. Der Junge hat genug Kühnheit im Leib, um eine Armee zurückzuschlagen!”

„Und ehrenhafte Gegner mit einem Stallbesen zu prügeln wie ein besoffener Lumpenkerl! Das habe ich gesehen! Althopian, bringt Euren Abkömmling erst einmal selbst unter Kontrolle! Ich brauche weder Hilfe noch Mitleid!”

„Das ist kein Mitleid, Emberbey!”

„Dann mischt Euch nicht ein!” Nun war auch der alte Mann wieder auf den Füßen.

„Beruhigt Euch!”, fuhr der teirand dazwischen. „Das führt doch zu nichts!”

Aber die Ritter hörten nicht auf ihn.

„Ich könnte es verstehen, hätten Euch die Mächte gar keinen Nachwuchs vergönnt, wäre Euer Haus vor dem Verlöschen!”

„Was soll ich Eurer Meinung nach tun, Althopian? Die Mächte werden mich kaum alt genug werden lassen, dass ich noch erlebe, wie meine Töchter sich einen anständigen und den Mächten gefälligen hýardor erwählen!”

„Oder Euer Sohn eine hýardora“, kam es von dem Schwarzgewandeten. Ein fast belustigter Ton schwang in seiner ruhigen Stimme mit. Er schlug entspannt seine Beine übereinander.

„Oder mein … Meister, es wäre wohl angemessen, wenn Ihr Euch heraus hieltet!”

„Emberbey! Mäßigt Euch!”

Herr Alsgör atmete schwer ein. „Verzeihung, Majestät”, sagte er dann. „Aber es kommt mir vor wie Spott, dass ich hier wohl auf Schwiegersöhne warten soll, die möglicherweise noch in der Wiege liegen! Was soll in der Zwischenzeit geschehen?”

„Alsgör”, sagte Waýreth Althopian. „Ihr seid mein Freund. Ihr ertragt ein ganz ähnliches Los wie ich. Sollten wir uns hier zerstreiten, bis unsere Schwerter für uns sprechen?”

„Ist das eine Drohung, Althopian?”

„Lasst mich diesen Zwist schlichten.” Asgaý Spagor stand auf und schlug energisch mit den flachen Händen auf die Tischplatte. „Ich bin Euer teirand! Und ich verbiete Euch, Emberbey, voreilig irgendetwas mit Eurer Enkelin aus Rodekliv zu vereinbaren!

„Majestät – Eure Herrschaft erstreckt sich nicht auf private Entscheidungen bezüglich meiner Familie.”

„Emberbey! Habt Ihr etwa bereits etwas veranlasst?”

„Natürlich nicht! Genau aus diesem Grund hatte ich auf eine ernsthafte Audienz mit Euch und der teiranda gehofft!”

„Wieso seid Ihr nicht schon vor Wintern zu uns gekommen mit Eurer Sorge?”

„Warum? Weil es noch Hoffnung gab! Wie sollte ich wissen, dass meine hýardora, möge sie hinter den Träumen ohne Schmerz sein, mir noch eine Tochter gebiert?”

„Und nun erwartet Ihr, dass ich Euren unverhofft aufgetauchten Enkel in den Stand eines yarlandor zurückführe? Emberbey … so einfach ist das nicht!”

„Ich sehe ein, dass wir uns hier gerade festreden. Ich werde meinen Sohn nehmen und umgehend in mein Haus zurückkehren. Bedenkt meine Sache, Majestät, und lasst mich wissen, wann wir in Ruhe über die Angelegenheit reden können.”

„Wollt Ihr Euch feige davonstehlen?”, fragte Waýreth Althopian vorwurfsvoll. „Jetzt, nachdem Ihr Leute in Rodekliv auf eine vielversprechende Idee gebracht habt?”

„Schätzt Euch glücklich, dass Ihr mein Freund seid und ich Eure Trauer und Eure Schande respektiere, Althopian.”

Die Kinder hörten, wie die Tür geöffnet wurde. Der teirand stand auf. „Emberbey! Emberbey! Im Augenblick kommt Ihr zurück!”

„Lass mich das machen, Majestät.” Althopian eilte dem alten Mann hinterher, sie redeten hastig aufeinander ein. Die Stimmen waren zornig und entfernten sich, nicht weit, denn kaum aus der Tür, schienen sie sich festzuzanken.

„Wollt Ihr Euren Dienstmännern nicht nachgehen, bevor es zu noch mehr Unruhe kommt, Majestät?”, fragte der Schwarzgewandete und erhob sich. „Die beiden sind aufgewühlt und haben beide ihre Schwerter bei sich.”

Der teirand schob seinen Sessel weg und hastete seinen Männern nach, die auf sein Rufen nicht reagierten. Einen Moment später fiel auch die Tür wieder ins Schloss.

Merrit Althopian und Osse Emberbey atmeten auf. Einen Moment hockten sie einander gegenüber. Ihre wild klopfenden Herzen beruhigten sich ein wenig. Endlich waren sie allein. Dumpfe Stille erfüllte den Raum, nur von ferne hörten sie noch das Streitgespräch der Männer und die Alltagsgeräusche, die in der Burg klangen.

Osse fasste sich ein Herz. Der andere wartete darauf, das spürte er. Mutig wollte er das erste Wort tun.

Da wurde die Tischdecke schwungvoll weggezogen.