Es war schneller gegangen, als Galéon gedacht hatte. Während er auf der Seite in dem gerade handbreit hoch rinnenden Bach gelegen und Stein für Stein mit Händen, Knien und schließlich Füßen an sich vorbei geräumt hatte, waren dem báchorkor allerlei Gedanken gekommen, was es mit diesem Geröll auf sich haben konnte. Für unwahrscheinlich hielt er nach wie vor, dass die losen Steine aus der großen Kaverne mit der Zeit hierher gespült worden sein könnten. Auf diese Weise wäre die Gesteinsröhre, in der er sich gerade befand, schon längst komplett mit Sedimenten verfüllt worden, wie eine Fuge zwischen Mauersteinen. Das Wasser hätte sich einen anderen Weg gesucht, oder in der Brunnenhöhle hätte sich ein höherer Wasserstand aufgestaut.

Die Steine hier, von denen zwischenzeitlich eine ganze Menge hinter seinen Füßen lag und das Fließen das Bächleins mehr und mehr hinderte, waren sicherlich von einem anderen Ort gekommen und bei näherer Untersuchung auch so geschichtet gewesen, dass das Wasser in ihrem unteren Bereich ungehindert durchfließen konnte. Vielleicht gerade, damit der Pegel im Brunnen nicht wieder stieg.

Galéon sah sich darin bestätigt, dass jemand von der anderen Seite den Zugang zum Brunnen, so lächerlich eng und unpassierbar er für einen Menschen bei klarem Verstand war, wohl nicht verschließen, aber doch verbergen wollte. Das beflügelte seine Neugier. Was mochte da auf der anderen Seite sein?

Der junge Mann hatte das Zeitgefühl verloren, keine Vorstellung davon, wie lange er hier beengt in der nassen Finsternis lag und Stein für Stein in die Hand nahm, vor seiner Brust hinunter zum Knie führte und von dort in Richtung seiner Füße und hinter sich schob. Immerhin er kam voran, ohne sich selbst dabei zu begraben. Und ein Ende war in Sicht: Wenn er sich ausstreckte und voran tastete, war die freigeräumte Öffnung nun fast groß genug, um hindurch zu schlüpfen.

Er arbeitete sich entschlossen weiter voran. Je mehr er sich mühte, desto mehr fühlte er seine Verbundenheit mit den Kreaturen des Erdbodens wachsen, mit Maulwürfen zum Beispiel, und mit Regenwürmern. Wie mühselig musste deren Leben sein, und wie zeitraubend. Wie spät mochte es sein? Hatte Úldaise seine Flucht bereits bemerkt?

Galéon hatte beschlossen, Zuflucht bei den arcaval’ay zu suchen, sobald er ins Freie gelangte. Ob er den Regenbogenritttern von den Vorkommnissen in der Stadt und den Geschehnissen in der Wüste erzählen würde, hatte er noch nicht entschieden. Das würde er davon abhängig machen, wie die Dinge sich entwickelten, insbesondere davon, ob man ihm im Cielástel zu sagen wusste, wer dieser Yalomiro Lagoscyre war, den das Traumphantom ihm zu finden aufgetragen hatte. Vielleicht war dieser Name ein Signal, eine Art Erkennungszeichen, das ihn auf den richtigen Weg führen konnte.

Vorerst, so malte er sich aus, würde er das tun, was er immer tat: Als harmloser báchorkor vorsprechen und sich erkundigen, ob die Magier möglicherweise Geschichten aus dem Weltenspiel zu hören wünschten. Zwar war es nicht üblich, dass Unkundige mit solchen profanen Dingen zu den geheimnisvollen Magiern gingen. Immerhin wussten die arcaval’ay über die Vergangenheit und die Dinge des Weltenspiels mehr, als ein sterblicher Mensch in seiner lächerlich kurzen Lebensspanne jemals sammeln konnte. Aber unter báchorkoray kursierten einige Berichte, nach denen Erzähler freundlich von den arcaval’ay und der fajía willkommen geheißen worden waren. Die arcaval’ay galten als äußerst kultiviert und nahezu besessen von allem Schönen und Kunstvollen. Vielleicht wäre das sogar die passende Möglichkeit, zur Abwechslung einmal etwas Poesie vorzutragen, etwas, das in Aurópéa nicht besonders gefragt war.

Nun, vorerst waren all das nur theoretische Gedanken, aber immerhin solche, die ihn aufmerksam und wach hielten, während er sich hier Elle um Elle durch die Finsternis schlängelte. Wer wusste schon, wie breit der Pfropfen aus groben Steinen war, der hier seinen Weg versperrte.

Kaum hatte er das gedacht und dabei einen Stein freigerüttelt, der so fest saß, dass er in mit beiden Händen packen musste, geriet der Schutt in Bewegung, rutschte ab und fiel zusammen. Galéons Herz setzte einen Schlag aus. Ihn durchzuckte der Gedanke, dass womöglich nicht nur die Barriere, sondern der ganze Tunnel zusammenstürzen und ihn zerquetschen würde. Aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen hatte sich nun im oberen Bereich kleinere Brocken gelöst und war hinab gepoltert, und zwar offenbar größtenteils zur jenseitigen Seite des Steinhaufens. Scheinbar hatte er einen Stein gelöst, der wesentlich zur Stabilität beigetragen hatte.

Im selben Moment blendete Licht den báchorkor. Entsetzt schloss Galéon die Augen und stöhnte auf, so schmerzhaft durchdrang das Leuchten plötzlich die Finsternis. Es dauerte einen Moment, bis er es wagte, die Lider wieder zu öffnen, zunächst nur einen Spalt weit. Graues, diffuses Licht drang durch den schmalen Spalt, der sich über dem erheblich abgesunkenen Schotterstapel gebildet hatte.

Galéon krabbelte einen halben Schritt voran und versuchte, hindurch zu blicken. Viel zu sehen war nicht, aber jenseits der Steine war es jedenfalls nicht ganz finster. Der junge Mann zögerte. Dann streckte er die Hand aus und begann, zu schieben. Weitere Steine gerieten ins Rutschen und polterten auf der anderen Seite nieder, dort, wo das Licht war. Das erweckte neue Kräfte in ihm, und kurz darauf hatte er das Loch so weit vergrößert, dass er sich hindurchzwängen konnte, wenn er den Bauch einzog und die Luft anhielt.

Als er sich auf die andere Seite durchgearbeitet hatte, löste sich sein Körper aus dem Loch wie ein Korken aus einer Flasche. Der báchorkor erkannte zu spät, dass es nun steil bergab ging und rutschte mit einem überraschten Ausruf und einer kleinen Lawine aus Schotter und Stein hinunter. Zugleich brach das Wasser, das sich hinter ihm und den verlagerten Steinen gestaut hatte, los. Aus dem kleinen Wasserfall, der unter der ursprünglichen Barriere her geronnen war hier den Felsen glatt geschliffen hatte, wurde für einen Moment ein brausender Schwall, der den báchorkor und kleinere Trümmer ein Stück voran spülte und zugleich dafür sorgte, dass nicht allzu viel feiner Staub aufstob. Dann beruhigte sich das Wasser wieder. Als sei es niemals von etwas aufgehalten worden, rann es weiter nach Süden und folgte nun einem flachen, spiegelglatten Kanal im ausgewaschenem grauen Felsboden einer neuen Höhle.

Galéon setzte sich auf. Das erste, was er bemerkte, noch bevor er sich umschauen konnte, war die gute, frische Luft hier. Sogleich fand er auch eine Erklärung für das diffuse Licht, denn als er den Kopf hob, entdeckte er weit oben in der Felswand eine Öffnung, groß genug, dass ein Mann gebückt darin stehen konnte. Allerdings befand das Loch sich mehrere Mannshöhen über ihm. Das Licht bewegte sich, flimmerte. Wahrscheinlich drang es durch Büsche oder Bäume, die vor dem Loch im Fels gewachsen waren.

Galéon erhob sich und schaute hinauf. Da oben war Tageslicht, ungehindertes Tageslicht, von dem zwar nur wenig bis hier hinab reichte, aber doch genug Beleuchtung bot, dass er zum ersten Mal seit langer Zeit wieder seine Augen benutzen konnte.

Ein Ausgang! Nun gut, ein vorerst unerreichbarer Ausgang. Aber wenn die Mächte ihn bis hierher geführt hatten, dann sicher nicht, um ihn damit zu verspotten, dass er von hier aus nicht irgendwie weiter käme.

Galéon blickte dem Bach nach. Der plätscherte munter voran, nur um dann in einem Loch zu verschwinden, das verdächtig an ein Abflussgitter erinnerte. Bei näherer Betrachtung erwies es sich tatsächlich als ein solches. Ein von Menschenhand geschaffenes, aber allem Anschein nach uraltes und bereits zu großen Teilen von der Zeit gefressenes Metallgitter, überraschenderweise nicht aus Gold. Vielleicht stammte es aus Zeiten, noch bevor die Lagerstätten unter dem Sand von Soldesér entdeckt worden waren.

Vielleicht floss das Bächlein dorthin, oder unter dem Erdboden gleich in den Ozean in der Tiefe, den so einige forscoray unter der Wüste vermuteten. Aber das war eine Geschichte für später.

Noktáma hatte ihn mit dem Wasser hierher geleitet. Nun gab ihm Pataghíu mit dem Licht in der Höhe ein Zeichen. Dort musste er hinauf. Und einen Weg dorthin musste es geben. Schließlich hatten diejenigen, die einst diese Gitter am Abfluss abgebracht hatten, das sicher nicht aus blankem Vergnügen getan. Zu irgendetwas war diese Höhle einst zu Nutzen gewesen. Dazu hatte man sie betreten müssen.

Galéon schaute sich um, in der Hoffnung, irgendetwas Nützliches zu entdecken, eine Leiter vielleicht, oder möglicherweise in Stein gehauene Stufen. Auf den ersten Blick war nichts dergleichen zu sehen. Dafür spürte Galéon etwas, das er in der finsteren Enge des Ganges nicht so bemerkt hatte. Er begann, zu frieren. Hier, in der großen, luftigen Höhle, war es kalt, unbehaglich kalt. Der báchorkor schüttelte sich und kam dann auf die Idee, sich fürs erste seiner durchnässten Kleidung zu entledigen. Natürlich würde er Tunika und Hosen hier unten nicht trocknen können, aber er konnte zumindest versuchen, sie auszuwringen.

Er hatte keine Eile damit. Es wurde ihm zwar nicht wärmer dabei, als er schließlich entkleidet auf dem Steinboden saß, aber zumindest war er für eine Weile die Nässe los. Der Gedanke, die feuchten Kleidungsstücke später wieder anlegen zu müssen, behagte ihm nicht. Aber er konnte schließlich nicht nackt vor den Magiern auftreten, ohne eine sehr überzeugende Begründung dafür parat zu haben.

Er drückte Ströme von klarem, kalten Bachwasser aus dem ausgewaschenen Stoff seiner Beinkleider, die nach dem Weg auf allen vieren durch den Tunnel nun noch viel zerschlissener waren als zuvor. Dabei kam ihm etwas Hartes unter die Finger. Es war jene Silbermünze, die Úldaise ihm nach seiner Geschichte über die Magischen Kriege in Saháalírs Villa als Bezahlung gegeben und die Galéon schon fast vergessen hatte. Aus Gewohnheit hatte er diese besonders wertvolle Münze nicht griffbereit in seine Gürteltasche gelegt, sondern in einem kleinen auf der Innenseite des Saums eingenähten Täschchen versteckt. Das hielten viele báchorkoray so. Bekanntlich war es riskant, sein gesamtes Geld in derselben Tasche aufzubewahren, wenn man es am Leib mit sich führen musste. Das lehrte ihn der Verlust seines Bargelds in der Herberge,

Galéon betrachtete die Münze kurz belustigt und wrang seine Kleidung weiter aus. Zumindest, das stand außer Zweifel, war er der zurzeit wohl sauberste und reichste báchorkor von Aurópéa. Wenn nun noch der irritierende Schmerz auf seiner Zunge endlich nachlassen und sie etwas abschwellen würde, konnte er sich über seine neue Lage nicht allzu sehr beklagen. Immerhin hatte er nun einen Ausweg vor Augen, und genug neuen Stoff für ein Dutzend schauriger Geschichten von Leuten, die bei ihren Abenteuern in finsteren Höhlen gefangen waren.

Als der Stoff endlich nicht mehr tropfte, legte Galéon mit Todesverachtung die klammen Gewänder wieder an, steckte die Münze ein und begann, die Höhlenwand abzuschreiten. Irgendwo musste sich ein Aufstieg befinden – schlimmstenfalls in Form der Überreste einer verrotteten Strickleiter, vielleicht aber auch etwas, das die Zeit überdauert hatten.

Unmittelbar unterhalb des Höhleneingangs hatte sich natürliches Material in einer dicken, weichen Schicht abgelagert, Laub von den Büschen und Erde, die Regen und Wind über die Sommer und Winter in die Höhle geworfen und die dort von den Luftwirbeln an dieser Stelle aufgeschichtet worden waren. Anscheinend hatte sich dabei eine kleine Senke am Höhlengrund aufgefüllt. Galéon genoss das weiche, federnde Gefühl und zuckte erschrocken zusammen, als etwas unter seinem Fuß zerbrach, das sich eindeutig zu organisch anhörte.

Der báchorkor trat einen Schritt zurück und beugte sich nieder. Zögerlich schob er das trockene Laub vergangener Winter beiseite, so lange, bis er auf das Gerippe stieß, dessen Unterarmknochen nun in zwei Stücken war. Und auf das andere, das direkt daneben in Erde und Blättern ruhte, als hätten beide einander im Tod umarmt.

***

„Nicht erschrecken”, sagte der schwarzgewandete Mann, der neben dem Tisch hockte, noch bevor die Jungen aufschreien konnten. „Sonst werdet ihr doch noch entdeckt.”

Osse Emberbey und Merrit Althopian nickten verstört.

„Vergebung”, brachte Osse flüsternd hervor. „Ich … wir dachten, alle seien hinaus gegangen.”

„Ich nicht”, sagte der Schwarzgewandte leichthin. „Es reicht, wenn die Herren ihre Dinge ausdiskutieren. Damit habe ich vorerst nichts zu tun.”

„Habt Ihr die ganze Zeit gewusst, dass wir hier sind?”

„Selbstverständlich. Und ich bin beeindruckt, wie geschickt ihr euch unsichtbar gehalten habt.”

„Warum habt Ihr uns nicht verraten? Wer seid Ihr?”, fragte Merrit leise. Osse hatte nicht erwartet, dass der Junge eine so schüchterne Stimme hatte.

Der Mann lächelte und tat dann etwas Überraschendes. Er nahm seinen Hut ab, schlüpfte seinerseits unter den Tisch und ließ sich dort mit untergeschlagenen Beinen nieder. Er musste sich dabei ein wenig zu den Kindern vorneigen, sonst hätte er sich den Kopf gestoßen. Die Tischdecke zog er beiläufig wieder zurecht.

„Ich bin Yalomiro Lagoscyre. Und warum sollte ich Euch verraten? Das Gespräch, das hier in Eurer Anwesenheit gehalten wurde und der Umstand, dass ich euch beide hier beisammen finde, während alle Welt nach euch sucht, ersparen mir eine Menge Umstände. Ihr müsst euch nicht vor mir fürchten. Ich zähle deinen Vater zu meinen Freunden, Merrit Althopian. Und ich bin kein Feind des deinen, Osse Emberbey.”

„Ihr wisst, wer wir sind?”

„Natürlich. Man hat seit gestern Abend viel von euch beiden viel gehört.”

Nun erröteten beide. Der Schwarzgewandete lächelte.

„Ihr habt beide eure Sache gut gemacht. Ihr habt getan, was sie von euch erwarten.”

„Was man erwartet?”

Der Mann nickte. „Du, Merrit Althopian, du sollst einmal ein Kämpfer sein, der sich mutig und unbesiegbar vor seine Schutzbefohlenen stellt. Und du, Osse Emberbey … nun, dein Vater wird einmal sehr stolz auf dich sein.”

„Ich glaube nicht”, entgegnete Osse. „Es … ach nein. Hört nicht auf mich.”

„Warum nicht?”

„Weil es lächerlich ist und Euch langweilen wird”, murmelte Osse beschämt.

Der Schwarzgewandete lachte leise. „Kinder”, sagte er dann, „Eure Väter und der teirand werden sich bald wieder beruhigt haben und zurückkommen. Wir haben also nicht viel Zeit, um unter uns und geziert um Dinge herum zu reden.” Seine Miene wurde ernst. Forschend blickte er den beiden ins Gesicht.

„Ich wünschte”, sagte er, „es stünde in meiner Macht, die Trauer von euren Herzen zu nehmen. Ich weiß um Euren Verlust und allem, was daran hängt.”

Osse senkte den Blick. In Merrit Althopians eisfarbene Augen stiegen unvermittelt Tränen auf. Er kämpfte dagegen an, aber er würde sich selbst unterliegen.

„Merrit Althopian”, sagte der Schwarzgewandete sanft. „Sprich es aus. Teile es mit uns. Es wird dir leichter werden,”

„Es ist unrecht. Mein Vater …”

„Dein Vater kann dich gerade nicht hören. Ihr beide müsst hier unter dem Tisch euren Vätern nicht gehorsam sein und ihnen gefallen. Sprecht zu mir.”

„Ich … ich will kein Krieger sein”, wisperte Merrit Althopian. „Ich … ich will nicht …”

Osse schaute ihn einen Moment lang an. Der Junge glaubte, sich verhört zu haben. „Aber du bist zum Krieger geboren!”, sagte er dann. „Alle Erwachsenen sind begeistert von dem, was du kannst.”

„Das ist mir egal!”, fauchte Merrit Althopian unvermittelt. „Es ist mir egal, hörst du? Ich will es nicht! Es bringt nur Unheil!”

Osse Emberbey wich erschrocken zurück. Der andere Junge zuckte zusammen. „Entschuldige”, schluchzte er rasch. „Ich bin … ich kann mich nicht beherrschen. Es … ich werde so schrecklich schnell wütend, seit … entschuldige.”

„Schon gut.” Osse, dem es so fremd war, wenn jemand ihn um Verzeihung bat, nickte ihm zu. „Es ist nur … was gäbe ich darum, nur einen Hauch von dem zu können, was du kannst. Aber du hast es ja gehört. Mein Vater will, dass ein fremder Junge mein Schwert bekommt.” Er zögerte kurz und dann brach es auch aus ihm heraus. „Diese verfluchten Augen!”

„Lass mich die Brille einmal sehen”, bat der Mann. Osse schreckte auf. Die Anwesenheit des Erwachsenen hatte er über Merrits Ausbruch fast vergessen. Eilig legte er die Augengläser in die geöffnete Hand des Erwachsenen. Der nahm sie an sich und begutachtete sie.

„Es steht leider nicht in meiner Macht, deine Augen zu heilen, Osse Emberbey. Aber ich denke, diese Brille kann ich verbessern. Soll ich?”

„Seid Ihr denn ein Glaslinsenschleifer?”, fragte der Junge verwirrt.

„Ich bin ein Magier”, erklärte der Schwarzgewandete beiläufig. „Ich kann zumindest bewirken, dass du keine Kopfschmerzen mehr davon bekommst.”

„Woher wisst Ihr das?”

„Weil du es nicht vor mir verbergen kannst.”

„Aber … wisst Ihr dann nicht ohnehin alles über uns?”

Der Magier tat irgendetwas mit der Brille zwischen seinen Händen. „Doch. Aber ich will es von euch hören,”

„Dann seid Ihr ein Schattensänger?”, fragte Merrit Althopian schniefend. „Weil … Einer von Euresgleichen hat einmal verhindert, dass meine Familie ausgelöscht wurde, von einem …” Der Junge verstummte verlegen.

„Du kannst es aussprechen, Merrit Althopian. Einer von meinesgleichen hat unaussprechlich Furchtbares verübt. Aber wir alle kennen auch die Geschichte jenes alten Meisters, dem es seinerzeit gelang, viele Menschenleben in der Burg deines Vaters zu retten. Ovidáol Etaímalar, den wir den Verfluchten nennen, war ein Verräter. Er wurde besiegt”, erklärte der Schwarzgewandete ruhig. Er reichte Osse Emberbey seine Brille zurück, aber der Junge zögerte, sie wieder aufzusetzen. „Aber darum geht es hier und jetzt nicht. Es sind alte Geschichten. Warum willst du kein Kämpfer mehr sein, Merrit Althopian? Ich habe dich gestern Nacht beobachtet. Es sei deinem Vater und deinen geschlagenen Gegnern überlassen, wie ihr einander versöhnt. Aber ich mag nicht glauben, dass du diese Fertigkeiten erlernt hast, weil du kein Kämpfer für deine Schutzbefohlenen sein willst.”

Merrit Althopian vergrub das Gesicht in den Händen. Etwas in ihm kämpfte mit sich selbst.

„Es wird diesen Raum nicht verlassen”, setzte der Schwarzgewandete hinzu. „Nicht einmal unter diesem Tisch wird es hervorkommen. Aber aus deinem Herzen muss es heraus.”

Der Junge blickte auf. Der Erwachsene schaute ihn aufmunternd an.

„Ich …. ich wollte der allerbeste Ritter werden”, gestand Merrit Althopian leise. „Ich hab geübt und geübt, wann immer ich konnte. Mein Vater behauptet, dass ich schon als Wiegenkind mit der Rassel in der Hand gefochten habe.” Er lachte gequält. „Na ja, jedenfalls … wenn ich erwachsen bin, wollte ich sein wie der Smaragdritter aus den schönen Büchern die …” Er unterbrach sich und fuhr auf anderen Wege fort. „Damit ich mal meine Schutzbefohlenen vor denen aus Ferocrivé und Rodekliv oder vor bösen Monstern und Räuberbanden beschützen kann. Ich wollte werden wie mein Vater, so gerühmt und geachtet. Und … und damit meine Mama Freude hat. Ich hatte einen Parcours aufgebaut, mit Chaosgeistern. Na ja, mit angemalten Holzscheiten. Ich wollte ihnen zeigen, dass ich mir ganz allein beigebracht hatte, wie man einen Streitflegel schwingt, und …” Seine Stimme brach. Er verbarg das Gesicht in den Armen und schluchzte so heftig, dass er am ganzen Körper bebte.

Der Schwarzgewandete drang nicht in ihn. Er wartete geduldig.

Und dann brach es aus Merrit Althopian heraus.

„Sie hatte keinen Grund, da auf der Treppe zu stehen! Der Stein hat sie nur getroffen, weil ich wollte, dass sie zuschaut! Wenn sie einfach weitergegangen wäre, wie jeden Tag, dann …”

Er weinte, schluchzte und wimmerte so jammervoll, dass es bestimmt bis hinunter auf den Burghof zu hören war. Osse schaute betreten beiseite. Der Schmerz des anderen Jungen rührte etwas in ihm an, etwas, was sich so ähnlich, so vertraut anfühlte, auch wenn er den Zusammenhang nicht verstand.

Der Magier machte keine Anstalten, den weinenden Jungen anzusprechen und zu trösten. Aber er hörte zu, jeder Schluchzer, jede Träne hatte seine Aufmerksamkeit. Zugleich schaute der Erwachsene ihn, Osse Emberbey, an. Nun, durch die Brille, sah er plötzlich schärfer und klar. Jetzt erst bemerkte er die silbernen Einsprengsel in den sanften dunklen Augen des Mannes.

„Weißt du”, sagte Osse, mehr zu sich selbst, als der andere wieder etwas zur Ruhe kam, „wenn ich nicht diese kaputten Augen hätte, dann hätte meine Mama die anderen Kinder gar nicht mehr bekommen müssen. Dann wäre es genug gewesen und sie wäre noch bei mir.”

Merrit Althopian blickte auf und runzelte die Stirn. „Was?”

„Weißt du … ich hab zwei Schwestern. Truda und Raýneta. Truda ist fünf Sommer alt und Raýneta noch ganz winzig. Meine Mama hat sie geboren und ist dann hinter die Träume gegangen, in der Nacht mit dem großen Sturm. Ich habe gehört, wie die doayra mit den Frauen drüber geredet hat. Meine Mama war gar nicht stark und gesund genug für noch mehr Kinder. Aber ich kann nicht richtig gucken, und das yarlmálon … die Schutzbefohlenen …” Nun spürte auch Osse, wie die Tränen aus ihm hinaus wollten. „Wenn ich nur richtig geraten wäre, dann … dann hätte mein Vater keinen anderen Sohn mit gesunden Augen gewollt. Dann …”

Und dann war es auch mit seiner Beherrschung vorbei. Osse Emberbey gab alle Würde und Zurückhaltung auf. Nun hörte der Magier seinem unartikulierten Schmerz zu.

Es war Merrit Althopian, der als erster wieder sprach, und er sagte etwas unerwartetes.

„Hast du deine Schwestern denn lieb?”, fragte er.

Osse nickte, ohne nachzudenken. Einen Moment später hatte er auch wieder Worte. „Natürlich. Die können doch nichts dafür. Mama hat gesagt, ich muss gut auf die beiden aufpassen.” Er schaute auf und besann sich. „Ich … Meister, ich habe mich gerade gehen lassen wie ein unverständiges Wiegenkind. Ich schäme mich.”

„Deine Tränen, Osse Emberbey, hat nur die Unterseite dieser Tischplatte gesehen. Die deinen auch, Merrit Althopian.”

„Und Ihr”, wandte der blonde Junge ein.

„Habe ich das?.” Der Magier blickte die beiden freundlich an. „Und jetzt hört mir zu. Sicher habt ihr beide nun einander Dinge zu sagen. Dabei will ich euch nicht stören. Ich gehe nun hinaus und schaue nach, ob das erhitzte Gemüt eurer Väter sich abgekühlt hat und ob womöglich der teirand Hilfe mit ihnen benötigt. Gebt mit zweihundert Herzschläge Vorsprung und seht dann zu, dass ihr unauffällig wie die Mäuschen aus dem Gebäude kommt. Möglicherweise seid ihr im Garten in der Rosenlaube der teiranda ungestört, sagen wir … bis die Blüten sich schließen. Ich an eurer Stelle würde das ausprobieren.” Er kroch unter dem Tisch hervor, richtete sich auf und setzte sich wieder seinen Hut auf den Kopf. Dann neigte er sich zu den verwirrt dreinschauenden, von Tränen erschöpften Jungen hinab.

„Meinesgleichen kann nicht in die Zukunft sehen, auch wenn das immer wieder behauptet wird. Aber ich habe Phantasie. Und was ich mir vorstelle, wenn ich euch beide miteinander anschaue, gefällt mir sehr. Und was diese verhängnisvolle Brotgeschichte betrifft, Osse Emberbey, Merrit Althopian … ich schaue, was mir gelingt.”

Mit diesen Worten ließ der die Tischdecke wieder hinab gleiten. Zwei Atemzüge darauf hörten sie, wie die Tür sich öffnete und hinter ihm schloss.

Osse wandte sich fragend Merrit Althopian zu. Der zuckte die Achseln und lächelte verlegen. Dann legte er die Hand auf sein Herz und begann, zu zählen.