
„Mama ist traurig, weil sie nicht gut zaubern kann”, erzählte Dýamirée den Blumen. „Ich würde ihr so gern helfen. Aber ich kann es ja gar nicht.”
Das Mädchen seufzte, zog die Knie an und legte die Arme darum. Es hatte die blaue Stunde zwischen Tag und Nacht erfolglos mit der Suche nach dem Boot verbracht, aber nicht die rechte Aufmerksamkeit dafür aufbringen können. Sicherlich war das Schiffchen gekentert und zwischenzeitlich in der Tiefe des Sees untergegangen. Wahrscheinlich sank es immer noch. Dýamirée würde sich wohl ein neues basteln müssen. Sich Spielzeuge selbst zu bauen machte ihr Spaß, aber dennoch stimmte sie der Verlust des Schiffchens traurig und ärgerlich zugleich. Es hätte ihr ein Leichtes sein müssen, es aus dem Wasser wieder zu sich zu befehlen. Weibliche Schattensänger geboten dem Wasser, das wusste sie. Der See hätte es ihr zurückgeben müssen.
Dennoch hatte Dýamirée es nicht gewagt, die Mutter darum zu bitten, es an ihrer Stelle zu versuchen. Wie nebensächlich war das Bötchen gegen das, was Salghiára Lagoscyre da im Etaímalon zu wirken versuchte? Was, wenn die Mutter auch das Spielzeug nicht hätte bergen können?
„Warum ist Noktáma böse mit mir?”, fragte Dýamirée die weißen schimmernden Blumen. „Warum kann ich nicht einmal ein winziges kleines bisschen zaubern?”
Natürlich antworteten die Pflanzen ihr nicht. Aber es genügte, dass sie zuhörten. Dýamirée war überzeugt davon, dass die Blumen ihr lauschten und ihre Klage verstanden.
Das Mädchen blickte auf den Mond, der sich in der Mitte des Wassers spiegelte und seufzte sehnsüchtig. Eine Antwort erwartete Dýamirée nicht, von niemandem.
Einmal, da war sie noch viel kleiner gewesen, hatte sie ihren Vater gefragt, ob sie vielleicht etwas unrechtes getan habe, weshalb Noktáma ihr keine Magie gegeben hatte.
Nein, hatte der Vater gesagt. Noktáma täte nichts aus Willkür, Zufall oder um jemanden zu bestrafen.
Warum sie dann nicht zaubern konnte, obwohl er und die Mutter es doch konnten.
Er wisse es nicht, hatte er gesagt. Aber es sei ohne Bedeutung. Es sei ohne Bedeutung, was Noktáma sich ersonnen hatte, solange sie, Dýamirée, sein kleiner Stern, bei ihnen war.
Das hatte sie nicht verstanden. Aber er hatte sie nur in seine Arme genommen und sie unter seine maghiscal geholt, etwas, das sich in Dýamirées Wahrnehmung anfühlte wie eine weiche, warme Decke in einer kalten Nacht. Sie hatte sich an ihn gekuschelt und war glücklich gewesen.
Irgendwann einmal, hatte er ihr vorhergesagt, würde sie selbst jemandem die Kraft schenken, die er nun gerade mit ihr teilte. Dafür brauche sie keine Magie. Zumindest nicht die, die Noktáma ihren Dienern gegeben hatte wie einem yarl sein Schwert und seine Rüstung. Das alles sei unnötig.
Sie hatte dazu geschwiegen, zum einen, weil ihr die Worte gefehlt hatten, zum anderen, weil sie überwältigt gewesen war von dem Gefühl, das sie in seinen Armen verspürt hatte. Damals hatte sie noch nicht die Worte gehabt, um es zu beschreiben. Heute begann das Kind zu ahnen, dass es Liebe war. Eine ein klein wenig anders gefärbte Liebe als die, die zwischen ihrem Vater und der Mutter bestand. Liebe war … bunt. Sie kam aus einer Wurzel wie die Ranken einer Blume, und an jedem Ende war eine Blüte, die ein klein wenig anders aussah. Wie ein Ableger. Er ließ sie die Liebe spüren, die er für sie empfand und die ganz allein für sie bestimmt war.
Dýamirée tastete hinüber zu den Blumen, berührte sacht Blätter und Blüten. Die Blumen waren ihre Freundin. Die Blumen verstanden ihr Leid. Das Kind hatte die Eltern niemals gefragt, was es mit diesen seltsamen Pflanzen auf sich hatte, die einzigartig waren im ganzen Boscargén. Sie hatte sich davor gescheut, weil sie spüren konnte, wie wertvoll die Blumen waren und dass eine seltsame Traurigkeit den Vater erfasste, wenn er an diese Stelle kam. Auch die Mutter wurde still und nachdenklich, wenn sie hier vorbeiging. Sie blieb dann stehen, betrachtete die Blüten und Dýamirée spürte ihren Geist schwer werden, so als senke sich ein Nebel darauf hinab.
Dass nun aber auch der freundliche Ritter so bestürzt und ergriffen auf die Pflanzen reagiert hatte, hatte sie nachdenklich gemacht. Sie nahm sich vor, den Vater nach seiner Heimkehr endlich einmal nach dem Geheimnis der schimmernden weißen Nachtblumen zu fragen, auch wenn sie ein wenig Furcht vor seiner Antwort verspürte. Wahrscheinlich würde es etwas sein, das sie beängstigte.
Das Kind schaute zum Etaímalon hinüber. Wie sehr wollte es der Mutter beistehen, bis der Vater wieder da war. Bis er zurückkehrte, um sie beide zu beschützen, vor was auch immer. Dýamirée stellte sich die Gefahr nicht vor wie ein kinderfressendes Monster oder einen feuerspeienden Drachen, so wie es in den Geschichten der Mutter war. Für das Kind war Gefahr etwas Subtiles, etwas Düsteres. Etwas, das man nicht sofort sehen oder spüren konnte und was deshalb umso tückischer war. Das Netz aus Licht, das war wie eine schützende Kuppel. Etwas, woran das Gefährliche abperlte, es aber ebenso leicht durchdringen konnte. Man musste wachsam sein. Das Netz, was die Mutter da so verzweifelt zu wirken versuchte, das hatte Maschen, groß wie Scheunentore. Dýamirée verstand das, hätte es aber niemals kommentiert. Schließlich hätte sie es nicht besser machen können.
Schattensängermärchen waren voll von solchen Metaphern. Die Geschichten des Vaters waren voll von Warnungen und besorgten Lehren. Die der Mutter, sie waren … wunderlich. Albern. Unbeholfen. Dýamirée liebte beides.
Eine Bewegung erregte ihre Aufmerksamkeit, ganz im äußersten Winkel ihrer Wahrnehmung. Da war etwas am Wasser, schritt zwischen den Bäumen hervor, langsam, majestätisch, fremd. Das Mädchen erhob sich vorsichtig und entfernte sich einige Schritte von den Blumen, um es besser zu sehen.
Es war ein Tier. Ein sehr großes, weißes Tier, das zwischen den Bäumen ans Ufer getreten war. Es war zu weit entfernt, als dass Dýamirée Einzelheiten erkannt hätte, aber sie wusste, dass sie dieses Wesen im Boscargén noch nie zuvor erblickt hatte. Das Tier bewegte sich sacht und schimmerte wie eine Perle.
Nicht!, mahnten die Blumen.
„Aber es ist so schön! Ich muss wissen, was es ist!”
Geh in den Etaímalon!
„Nein, dann störe ich Mama. Sie muss auf das Netz aufpassen.”
Nicht!, sagten die Blumen.
Aber Dýamirée war schon aufgestanden, fasziniert und gelockt von der Schönheit, die dort an den See getreten war und offenbar begonnen hatte, davon zu trinken.
„Es ist ein Tier”, sagte das Mädchen ernsthaft zu den Blumen. „Tiere können nicht böse sein. Nichts ist hier im Wald, das böse ist. Nichts, das uns in Gefahr bringt. Wahrscheinlich läuft es ohnehin weg, wenn es mich bemerkt. Ich will so nahe herangehen, bis es mich bemerkt. Ich will Mama davon erzählen.”
Nicht!
Aber Dýamirée war schon fortgelaufen, voller Neugier und in dem festen Bewusstsein, dass nichts im Boscargén sein konnte, dem sie nicht vertrauen konnte.
***
Osse Emberbey kannte seinen Vater diszipliniert, emotionslos. Unerbittlich. Ehrfurchtgebietend.
Der Junge hatte ihn noch nie zuvor so erbost erlebt wie in dem Moment, in dem sie nach dem Nachtmahl in das Gästegemach zurückgekehrt waren.
Dass der yarl verärgert war, war offenkundig gewesen. Nachdem die teirandanja so eilig fortgelaufen war, hatte er nur knappe Worte mit den anderen Erwachsenen gewechselt. Als der teirand leutselig und munter das Wort an ihn richtete, war er regelrecht ausgewichen. Dass Kíaná von Wijdlant sich entschuldigt hatte, um der Tochter nachzugehen, schien ihn zu erleichtern.
Waýreth Althopian hatte zu dem geschwiegen, was geschehen war. Er hatte dem Jungen nur nachdenkliche, forschende Blicke zugeworfen. Sein Sohn, der mit den hellen Augen, schien über die Maßen verwirrt zu sein. Osse hatte gespürt, dass dem Gleichaltrigen Fragen auf der Zunge brannten.
Aber sie hatten nicht die Gelegenheit bekommen, miteinander zu reden. Herr Alsgör hatte sich entschuldigt und war dann mit seinem Sohn im Griff, so schnell aus dem Saal gegangen, wie es möglich gewesen war.
Nun saß Osse Emberbey am Tisch und wartete darauf, dass der Vater das beißende Schweigen brach. Es dauerte qualvolle Augenblicke, bis es geschah.
„Was hast du dir dabei gedacht?”, fragte er, leise. Enttäuscht. Bitter.
„War es falsch?”
Herr Alsgör fuhr zu ihm herum. Nie hätte er die Hand gegen den Sohn erhoben, aber seine Faust fuhr auf den Tisch nieder. „Du hast mich bis auf die Knochen beschämt!”
Osse schaute bedrückt nieder.
„Ich dachte, es werde von mir erwartet.”
„Erwartet? Die junge teirandanja hatte offensichtlich keine Ahnung, was sie da getan hat!”
„Ich dachte …”
„Mögen die Mächte wissen, warum sie Brot in der Hand hatte, als sie zu uns kam! Was immer du dachtest, es stand dir nicht zu! Dir nicht!”
„Ich habe getan”, verteidigte er sich leise, „was ich über die Protokolle gelesen hatte..”
„Der mestar wird von mir noch zu hören bekommen, was er damit angerichtet hat!”
Osse schaute ins Leere. Der Vater zögerte, zog dann den zweiten Stuhl heran und setzte sich, ohne seinen Sohn anzuschauen.
„Ich werde den teirand bitten, deinen Schwur zu tilgen.”
Osse blickte entsetzt auf. „Bitte nicht!”
„Bitte nicht? Wir können froh sein, wenn er darauf eingeht und den ganzen Vorfall als das sieht, was es in den Augen der edlen Herren und Damen und der versammelten Schutzbefohlenen war. Ein albernes Kinderspiel! Ein … ein Nachäffen der uralten Riten, ausgeführt von einem unverständigen Kind!
„So war es nicht”, flüsterte Osse.
„Was war das?”
„Es war kein Spiel, Vater. Ich habe all das genauso gemeint. Genauso, wie unsere Ahnen es einst ihren teiranday gegenüber getan haben, seit vielen Generationen. Auch … auch Thorgar Emberbey.”
„Du lästerst deine Vorväter?”
„Nein!”, brach es aus Osse heraus. „Ich habe nur getan, was meine Bestimmung ist! Ich habe mich in den Dienst der teirandanja begeben!”
Alsgör Emberbey lehnte sich erschöpft zurück. „Du hast nichts zu suchen im Dienst der teirandanja! Du kannst nicht ihr Dienstmann sein! Niemals! Was ist daran so schwer zu begreifen?”
Der Junge schwieg einen Moment.
„Du darfst es nicht für nichtig erklären”, sagte er dann leise. „Du selbst hast es getan, damals, vor dem Vater des teirand und dann vor ihm selbst.”
„Natürlich. Aber das war etwas anderes! Als ich es tat, war ich ein ausgelernter Kämpfer, der würdige Nachfolger meines Vaters!”
„Ich bin dein Sohn”, sagte Osse leise.
Alsgör Emberbey schüttelte den Kopf. „So einfach ist es nicht, Osse. Du bist noch viel zu jung, um die Tragweite dessen zu verstehen, was du angerichtet hast. Wir können den Mächten danken, wenn wir ohne Schande aus dieser Geschichte herauskommen.”
„Wird Herr Waýreth den Schwur seines Sohnes auch zurücknehmen wollen, Vater?”
Der alte Ritter antwortete nicht sofort. „Nein”, sagte er dann hart. „Selbst wenn der Junge sich hat mitreißen lassen. Eines Tages hätte er es ganz offiziell ohnehin getan. Herr Waýreth wird begeistert über die Sache sein.”
„Alle Erwachsenen haben Beifall gespendet, Vater.”
„Warst du aus auf eitlen Beifall?”
„Nein. Ich will es nur verstehen. Ich will wissen, was ihren Augen gefiel und denen meines eigenen Vaters nicht.”
Alsgör Emberbey erhob sich und ging hinüber zum Fenster. Die Burg schlief noch nicht gänzlich. Aus der Schankstube drang munteres Gelärm, ein Musikant schien dabei zu sein. In einigen Fenstern sah man Lichterschein. Es war noch früh. Der Mond stand genau über dem Kamm des Montazíel, sein Schein leuchtete von Süden heran.
„Es ist kein Kinderspiel, Osse. Was immer dich geritten hat, und so sehr es mir imponiert, dass du von diesem alten Brauch wusstest – wenn der teirand dich nicht daraus entlässt, es nicht als lästerliches, unverständiges Spiel gelten lässt, dann ist dem Haus Emberbey ein ehrenvoller Weg in die Zukunft verbaut.”
Osse Emberbey nahm seine Brille ab. Sein Vater, wenige Schritte entfernt, verschwamm vor seinen Augen. Das war besser. Es machte die Wut, die Enttäuschung des alten Mannes erträglicher.
„Es tut mir leid”, sagte der Junge. „Ich … ich wollte, dass du stolz auf mich bist. Ich wollte der teirandanja zeigen, wie ergeben ich … unsere Familie ihr ist.”
„Das”, sagte der Ritter, „ist nicht deine Aufgabe, Osse. Hätten die Mächte gewollt, dass es so ist, dann …” Er seufzte tief. Sein Zorn schien verraucht, dafür war nun eine Bitternis in seinen Worten, die fast noch schwerer zu ertragen war.
„Vater”, fragte Osse zaghaft, „was ist meine Aufgabe? Was wollen die Mächte, das ich im Weltenspiel tue?”
„Ich weiß es nicht, Osse.” Alsgör Emberbey wandte sich dem Jungen zu. „Ich weiß es wirklich nicht. Und ich mag nicht mit dir über Dinge diskutieren, aus denen es keinen Ausweg gibt. Geh nun schlafen. So die Mächte wollen, sind wir morgen um diese Zeit bereits auf dem Rückweg. Ich mag nicht länger hier bleiben als nötig … danach.”
Osse erhob sich. Aber er wollte ihn noch nicht loslassen, diesen dünnen Spinnenfaden eines Gespräches, an dem er sich hinzuhangeln versuchte zu dem, was sein Vater tatsächlich auf dem Herzen hatte, hinter der unerbittlichen und doch so verwundeten Maske, hinter der er sich versteckte.
„Vater? Was hätte Mutter gesagt, hätte sie gesehen, was ich … angerichtet habe?”
Alsgör Emberbey zuckte zusammen, Osse sah es ungeachtet des verschwommenen Blickes. Einen Augenblick lang fürchtete er, der Vater könnte wieder aufbrausen. Aber er blieb gefasst.
„Wahrscheinlich wäre sie stolz auf dich gewesen”, sagte der Ritter nach einer Weile. „So stolz, wie nur eine Mutter es auf ein unschuldiges Kind sein kann. Aber dies, mein Sohn, ist keine Welt, in der Unschuld eine Tugend ist. Nicht für unseresgleichen. Nicht für yarlay. Nicht für Schutzherren.”
Osse Emberbey verneigte sich. „Mögen die Mächte dich sicher in den Träumen behüten”, sagte er steif.
„Geh. Schlaf. Und denk darüber nach, was du uns beiden heute angetan hast.”
Der Junge wusste, weiter würde er an diesem Abend nicht kommen. Leise zog er sich in den winzigen Nebenraum von des Vaters Gemach zurück, der Stube, die er bewohnte, solange er in Wijdlant zu tun hatte. Dort lag eine komfortable Strohmatratze für den Jungen bereit. Osse Emberbey entkleidete und wusch sich, befahl seinen Schlaf den Mächten und schlüpfte unter die Decke. Eine Weile horchte er, bis auch nebenan nichts mehr zu hören war. Der Vater hatte sich selbst zur Ruhe begeben, während in der Burg noch Munterkeit herrschte, wie er sie von daheim nicht kannte.
Dass er nicht in einem der Lehrbücher, sondern in dem schönen Roman mit dem grünen Ritter und der klugen Dame von dem Ritual gelesen hatte, musste der Vater nicht wissen. Er hätte es nicht verstanden.
**
Merrit Althopian schlief nicht. Er war allein in dem Gemach, das der Vater in der Burg bewohnte, hatte aber nicht vor, lange dort zu verweilen. Waýreth Althopian hatte sich von Daap Grootplen und Andriér Altabete überreden lassen, sich ihnen noch auf einen Krug Bier anzuschließen. Der yarl hatte keine rechte Lust dazu gehabt, aber Merrit hatte ihm zu verstehen gegeben, dass er müde und knapp vorm Einschlafen war. Der Vater mochte sich nicht um ihn kümmern und den Abend mit seinen Kameraden verbringen, hatte der Junge ihn so harmlos bedrängt, wie es ihm nur möglich war, ohne Verdacht zu erregen. Sicherlich habe er den beiden viel zu erzählen.
Waýreth Althopian, den es tatsächlich drängte, mit den anderen Männern zu reden, hatte noch abgewartet, bis der Sohn tatsächlich zu Bett und augenscheinlich eingeschlafen war. Dann hatte er das Gemach verlassen.
Merrit wartete etwa hundert Herzschläge lang. Dann schlüpfte er wieder aus dem Bett und in seine Tunika, kletterte auf das Fensterbrett und schaute hinaus. Etwa auf Höhe des Fensterbretts verlief ein handbreiter Sims an der Mauer entlang, nicht zu gebrauchen als Trittfläche für einen Erwachsenen, aber nicht schlecht für gewandte Kinderfüße. Trotzdem hätte Merrit Althopian es nicht gewagt, hier hinauszusteigen, wären nicht die Ranken einer üppigen Lornizere [~ Geißblatt-artige Pflanze] in Griffweite gewesen. Daran ließ sich ein Stück die Mauer entlang und dann an dem Stamm, der abwärts führte, auf den Hof klettern. Im Prinzip, das war dem Jungen klar, hätte er mit viel geringerem Risiko auch einfach die Tür, Korridor und Stiegen benutzen können. Allerdings hätte ihn dort mit größerer Wahrscheinlichkeit jemand gesehen, denn zwischen den Sälen und Zimmern waren auch zu dieser Stunde Menschen unterwegs, und in der fremden Burg kannte er sich nicht aus. Wenn er sich jedoch an der Außenmauer entlang tastete und dabei keinen Lärm machte, würde man ihn vielleicht nicht bemerken. Warum sollte jemand im Dunklen die Mauer hinauf schauen?
Einen Augenblick lang zögerte Merrit Althopian. Sollte er es wirklich tun? Sein Vater hatte ihm nicht ausdrücklich verboten, nachts aus einem Fenster zu klettern. Andererseits war der Junge sich durchaus darüber im Klaren, dass er gescholten werden würde, wenn er mitten in der Nacht von der zweiten Etage des Wohngebäudes in einen fremden belebten Burghof stürzte.
Indes hatte der Knabe im Heimlichen schon weitaus gefährlichere Kletterpartien absolviert. Damit vertrieb er sich die Zeit. Auf des Vaters Burg hatte Merrit nur wenig Kontakt mit anderen Kindern gehabt; es lebten dort direkt im Haus nur wenige Familien, deren Nachwuchs zum Teil deutlich jünger oder älter war. Merrit hätte auch gar nicht allzu viel Zeit zum Spielen gehabt. Große Teile seines Tages verbrachte er bei dem Gelehrten, der ihm gegen ein großzügiges Entgelt Lesen und Schreiben, Rechnen und all das andere beibrachte, das er für sein Leben wissen mochte. Die andere Hälfte des Tages gehörte seiner Ausbildung, nicht nur im Umgang mit seinen Übungswaffen, sondern auch dem Reiten, Laufen und Schwimmen.
Merrit sog all das in sich auf wie ein Schwamm, die körperliche Betätigung vielleicht etwas genüsslicher als die für seinen Geist, denn er hätte anderenfalls kaum gewusst wohin mit seiner Energie, seiner Kraft. Der Junge war, seit er denken konnte, besessen davon gewesen, ein vortrefflicher Kämpfer zu werden, einer, dessen purer Ruf und Anblick Feinde davon abhielt, Untaten zu vollbringen. Er eiferte seinem Vater in allem nach, der sich genau solche Tugenden und Fertigkeiten erarbeitet hatte, der seinen Rang bei jedem Turnier, jedem freundschaftlichen Geplänkel aufs Neue bestätigte.
Die Mutter war stolz gewesen auf den Jungen, der so sehr danach strebte, eines Tages seinem Vater nachzufolgen, unangreifbar, loyal und in seinen Pflichten und seiner Ehrbarkeit einer, unter dessen Obhut die Schutzbefohlenen in Frieden und Wohlstand wirtschaften konnten.
Die Mutter … die geliebte Mutter hinter den Träumen …
Merrit Althopian zögerte, hockte sich in der Fensteröffnung nieder und schaute hinab. Der Burghof war anders als der daheim, durchgehend mit Kopfstein gepflastert. Hart.
Einen viel zu langen Moment sann der Junge darüber nach, plötzlich von seinem verbotenen Abenteuer abgelenkt in etwas viel Düstereres, Verzweifelteres. Dann gab er sich einen Ruck, erhob sich und griff nach den Ranken seitlich am Fenster. Töricht war das. Von hier aus würde er sich mit Pech allenfalls Arm oder Beine brechen. Das würde sicher Ärger geben. Und es konnte warten.
Zunächst musste er den anderen Jungen, den Sohn von yarl Emberbey finden. Dazu mochte ein Blick durch die Fenster reichen. Das war auf jeden Fall diskreter, als offen auf dem Flur von Tür zu Tür zu gehen.
Was dieser andere Junge, Osse hieß er wohl (was für ein seltsamer, altmodischer Name. Greise hießen so, keine Kinder in ihrem Alter!) am Abend getan hatte, hatte Merrit Althopian auf eine ihm unverständliche Weise imponiert und verwirrt. Er hatte nicht begriffen was da vorgegangen war, nicht, warum die Erwachsenen es offenbar so possierlich (Merrit schüttelte sich) gefunden hatte, dass sie beide ein Stückchen Brot von der teirandanja angeboten bekommen hatten. Er hatte das sonderbare Gefühl, dass der andere Junge etwas getan hatte, dessen Tragweite ihm allein klar gewesen war. Und er, Merrit Althopian, der nichts im Sinn hatte als Fechten, Reiten und die übergroße Schwere in seinem Herzen … instinktiv hatte er mitgemacht. Hatte gewusst, dass dieser andere Junge, so lächerlich und schwächlich er aussah mit seinem dünnen Körper und der Brille, so kompetent war, dass er ihn anleiten konnte.
Merrit hatte anschließend versucht, seinen Vater nach der Bedeutung von alldem zu fragen, aber die anderen Herren, die diese seltsame Szene wohl als Kinderspiel abtaten, hatten Waýreth Althopian in Beschlag genommen, mit wichtigen Themen, mit erwachsenen Themen. Da hatte Merrit nicht stören wollen. Im Gegenteil, es passte ihm hervorragend in seine Pläne.
Nun, solange er sich nicht so ungeschickt anstellte, dass er hier von der Mauer fiel wie ein reifer Apfel vom Baum, musste der Vater nicht erfahren, dass er sich seine Antwort selbst holte. Vielleicht konnte der Gleichaltrige ihm Dinge beibringen, von denen mestar, Schwertlehrer und der Vater selbst nichts verstanden.
Merrit Althopian setzte seinen schmalen Fuß längs auf den Sims und griff mit seinen Händen, die bereits ausdauernd Schwerter aus Holz und Zügel halten konnten, in die Lornizere.
Den schwarzgewandeten Mann oben auf dem Dach der Burg bemerkte er nicht. Der hatte das Kind längst bemerkt, berührte sacht mit den Fingern die obersten Spitzen der süßduftend blühenden Pflanze und bewirkte damit, dass die Ranken fest wurden wie Stränge aus Draht.
Yalomiro Lagoscyre lächelte.
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