
Als Galéon wieder zu sich kam, war es um ihn herum vollkommen finster und die Schmerzen so stark, dass er sie kaum noch spürte. Der bachórkor ächzte und versuchte, seine Sinne wieder in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Eines nach dem anderen. Erst seine Lage, dann sein Körper. Und vor allen Dingen: keine Panik. Das würde zu nichts führen und alles noch schlimmer machen.
Er horchte. Unter sich hörte er ein Plätschern. Tatsächlich, ein fließender Strom, Wasser, das sich bewegte und dabei an feinen Steinen, vielleicht Kies und grobem Sand entlang strich. Das Murmeln schallte hohl in dem alten Brunnenschacht, aber das allein konnte es nicht sein. Dort, irgendwo unter seinen Füßen musste sich ein größerer Hohlraum befinden, eine Kaverne, die vielleicht in alten Zeiten einmal mit viel Wasser gefüllt gewesen war und jetzt nur noch von einem Rinnsal gespeist wurde, das sich irgendwo ein wenig aufstauen mochte. Nichts, was weiterhin als Brunnen funktionierte, aber immerhin noch existierte.
Nun, wo Wasser floss, da musste es irgendwo hinwollen. Aber wie konnte er ihm folgen?
Denn dass er sich schleunigst aus dieser unerträglichen Lage befreien musste, stand außer Frage. Er mochte sich nicht ausmalen, was Úldaise und seine Handlanger womöglich mit ihm anstellen würden, sobald sie feststellten, dass er die Grenze wie üblich nicht hatte überwinden können.
Galéon versuchte, sich zu bewegen, bedacht und vorsichtig. Das war nicht leicht, denn es gab in seiner Nähe nichts, woran er sich abstützen oder Halt finden konnte, um seine Arme zu entlasten. Einen Moment versuchte er, mit dem Fuß irgendeinen Felsvorsprung im Schacht zu ertasten, aber da war nichts, was er erreichen konnte. Dafür jagte ihm jede winzige Regung heftige Pein durch die Schultern. Trotzdem hatte der Sturz nichts gebrochen, zerrissen oder ausgerenkt. Galéon dankte den Mächten, dass er in den vergangenen Tagen an Gewicht verloren hatte und Úldaises Knechte für ihr Tun nichts anderes zur Hand gehabt hatten als ihr Brunnenseil.
Allerdings fiel es schwer, tief zu atmen. Wenn er sich nicht schnell befreien konnte, würde er schon bald wieder das Bewusstsein verlieren, wieder und immer wieder.
Galéon hatte mehr als einmal das Licht in seiner Nähe gespürt, es fast berühren können und bei dieser Gelegenheit etwas empfangen, das er in seinem Herzen bewahrte. Er wusste, dass er eines Tages erfahren würde, was es damit auf sich hatte, was er damit bewirken sollte. Er fürchtete sich nicht davor, und er hatte begonnen, jenen davon zu erzählen, von denen er glaubte, dass es ihnen gut tat und sie tröstete.
Das bedeutete aber nicht, dass er Wert auf weitere Misshandlungen legte. Die Mächte mochten seinen Leib in ihren Launen mit einer wunderlichen Form von Festigkeit versehen haben, aber sein Schmerzempfinden schloss das nicht ein. Mit Schaudern erinnerte er sich an das, was man damals in Ferocrivé mit ihm angestellt hatte. Soweit durfte es nicht noch einmal kommen. Schon gar nicht vor diesem schrecklichen Úldaise.
Er versuchte, den Schmerz wegzudenken und seine Lage abzuklären. Offenbar hatte er es mit seiner Geschichte im Haus des ehrenwerten sinor Saháalír irgendwie fertig gebracht, dem gespenstischen Greis zu nahe zu kommen, der für Ruhe und Ordnung in der Stadt sorgte und dafür Menschen in der Wüste verschwinden ließ. Sicherlich wäre es dem alten Mann mühelos möglich gewesen, auch ihn schnell und ohne Spuren aus dem Weg zu räumen, es zumindest zu versuchen. Doch offenbar hatte der Alte auf irgendeine obskure Weise gespürt, dass ihm das nicht geglückt wäre. Also war er neugierig geworden. Neugierig und … unbedacht.
Ja, die Eile bei der ganzen Sache war das seltsame. Tausend Gelegenheiten hätten sich in den nächsten Tagen noch ergeben, einen allzu vorwitzigen báchorkor irgendwo in der Stadt zu greifen und verstummen zu lassen, unauffällig und ohne dass es jemand bemerkt hätte. Stattdessen hatte Úldaise den Aufwand betrieben, einen Diebstahl zu fingieren und ihn vom Grund und Boden seines Amtsgenossen weg zu verschleppen. Galéon hatte keine Gelegenheit gehabt, mit einem anderen Mitglied des konsej zu reden. Úldaise war ihm zuvorgekommen.
Warum, bei allen Mächten, war es so dringlich, dass er, der harmlose báchorkor, von der Bildfläche verschwand, und das so konspirativ, dass es niemanden wundern würde?
Vielleicht hatte Úldaise Angst vor ihm. Aber offenbar konnte er nicht einschätzen, was es mit ihm, Galéon auf sich hatte. Wäre diese Neugier nicht gewesen, wäre es um irgendeinene Angelegenheit unter den Ältesten gegangen, zweifellos hätten sie ihm den Strick um den Hals gelegt.
Galéon schaute zum Brunnenschacht hinauf, bedauerte die falsche Bewegung sofort wieder und fühlte sich zugleich noch mehr dazu angestachelt, der Sache auf den Grund zu gehen. Mochte sein, dass ihn all das nichts anging und er besser daran getan hätte, schleunigst die Stadt zu verlassen. Aber Úldaise hatte irgendetwas mit den … mit dem, was in der Wüste geschah zu tun. Wahrscheinlich ohne das Wissen der arglosen übrigen Alten. Aber warum? Welchen Nutzen hatte er davon?
Und womit hatte er sich verraten? War es tatsächlich nur die unschuldige Schilderung jenes Gebäudes gewesen, der dem ehrenwerten sinor Saháalír in seiner Jugend so teuer gewesen war, ein Ort, den er geliebt hatte?
Galéon ärgerte sich. Es war leichtsinnig gewesen, den alten Leuten eine zu alte Geschichte zu erzählen. Aber wie hätte er ahnen sollen, wo und wann Úldaise in seinem Leben Dinge gesehen hatte?
Galéon versuchte, vorsichtig sein Gewicht zu verlagern, sich zu entlasten. Das tat entsetzlich weh, aber hernach wurde es für einen Moment wieder etwas besser. Er lauschte wieder auf das Wasser, überlegte, wohin es fließen mochte. Natürlich, jegliches Wasser floss vom Meer im Norden weg und auf die Wüste im Süden zu. Aber wenn es hier, unterhalb des zentralen Hügels von Aurópéa floss – wo mochte es wieder zum Vorschein kommen? Der breite Fluss, der in der Wüste versiegte, strömte außerhalb der Stadtmauern vorbei. War das vielleicht ein Weg ins Freie?
Nein, das musste nichts heißen. Vielleicht hatte es einst ein anderes Wasser gegeben, das kräftig genug gewesen war, um den Stein auszuhöhlen. Bevor die Menschen von Aurópéa versucht hatten, es abzugraben, um ihre Gärten damit zu wässern.
Der Schmerz versetzte Galéon in eine absurde Euphorie, sein Bewusstsein flüchtete in einen Rausch, wurde mit jedem Atemzug abstarkter, flüchtiger und würde ihm bald wieder entschlüpfen. Damit verlor er so wichtige Zeit! Galéon malte sich aus, wie er dem Wasser nachschwamm, darin tauchte, flink wie ein Otter, und irgendwo eine Stelle fand, die ihn hinaus aus den finsteren Adern der Erde führte. Wenn er doch nur an das rettende Wasser heran käme!
Und vor allem, wenn ihm das nur gelänge, bevor Úldaise Gelegenheit hatte, zu bemerken, dass es mehr brauchte als einen Sturz am Seil, um ein unliebsames Leben auszulöschen. Galéon verspürte nicht das geringste Bedürfnis, dem Alten Rechenschaft über das wunderliche Spiel abzugeben, das die Mächte sich für ihn ausgedacht hatten. Die Mächte mochten es sich in irgendeiner Laune einfallen lassen haben, ihn vom Licht abzuhalten wie einen Hund an der kurzen Kette, aber unverwundbar war er nicht. Als sie in Ferocrivé mit ihm fertig gewesen waren, ihn schließlich für tot hatten liegen lassen, um sich ein neues Opfer zu suchen, hatte es viele Tage gebraucht, bis er wieder hergestellt und in der Lage gewesen war, sich an einen erfreulicheren Ort zu begeben, mit dem festen Vorsatz, nie wieder vor einem yarl von Ferocrivé und schon gar nicht einem von Rodekliv eine Geschichte zu erzählen.
Aber das war nebensächlich. Was hatte Úldaise zu verbergen? Welchem Geheimnis war er, der báchorkor, einer, der in all der Zeit so oft das Licht geschaut und nie berührt hatte, auf der Spur? Was waren das für Dinge, über die der Alte gebot? Und was war das für eine seltsame Kunst, mit der er versucht hatte, seine Seele zu … ja, zu begaffen? Dieses ekelhafte Gefühl von Schmutz und Verwesung war … nun, nicht wirklich menschlich gewesen.
Galéon lauschte. So tief unter ihm war das Wasser gar nicht, er hörte es murmeln, nach ihm rufen, ihn locken. Es lud ihn ein, seine geschundenen Glieder darin zu kühlen, die Qualen wegzuwaschen, ihm einen Weg ins Freie zu weisen. Wenn er nun fiele, es wäre nicht tief genug, um Schaden zu nehmen. Er würde weich fallen, versprach ihm das Wasser. Unter dem Rinnsal war weicher Schlick, der ihn auffangen würde. Aber wie kam er dorthin?
Er versuchte seine Finger zu bewegen. Das war schmerzhaft, aber es glückte, war mehr als ein Mensch, den die Mächte nicht an einer zu kurzen Kette hielten, erwarten könnte.
Kette …
Galéon schlug die Augen auf. Die Handfesseln, die er trug, sie waren aus Metall. Es war kein Seil, das ihm ins Fleisch schnitt und sich bis aufs Blut zuzog. Sie waren hart und fest und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus Gold. So gut wie alles Metallene in Aurópéa bestand aus Gold. Das Gold aus der Wüste war ein gefragtes Material, mit dem die Stadt nur knauserig Handel trieb, auch wenn es jede Menge davon gab.
Er bewegte nachdenklich seine Finger. Wie leicht hätten die Metallschellen ihm im Fall die Handgelenke brechen können. Aber offensichtlich legten die Mächte diesmal Wert auf seine Unversehrtheit.
Ob er es versuchen sollte? Ob er nach dem Mann aus seinen Träumen rufen sollte? Den, der ihn schon einmal gerettet hatte. Ob er ihm noch einmal helfen konnte?
Manchmal, in sehr tiefen Träumen, und wenn, dann nur flüchtig, wie aus den Augenwinkeln, spürte Galéon eine sonderbare Präsenz. Es geschah nicht oft und auch erst seit einigen Sommern, aber immer wieder kam es dem báchorkor vor, als sei da … jemand, einer, der ihn in Momenten beobachtete, in denen er in einen besonders tiefen Schlaf fiel. Ein ungebetener, aber diskreter Besucher, der es irgendwie geschafft hatte, bis zur Peripherie seines Geistes vorzudringen. Jemand, der wartete. Vielleicht jemand, der mehr über die rätselhaften Dinge wusste, die Galéon manchmal vollbringen konnte. Es war Galéon noch nie gelungen, dieses Phantom anzusprechen. Es verschwand, sobald er versuchte, es in seinen Träumen bewusst wahrzunehmen.
Galéon konnte den stillen Eindringling in seinen Träumen nicht sehen, aber er ahnte, wer es war. Er war ihm einmal vor langer Zeit in der Wirklichkeit begegnet, damals, als überall Krieg und Schmerz und Gewalt und Tod war, und er, Galéon, noch so klein und und starr vor Angst, dass er sich bequem unter einem roten Mantel hatte verstecken und an Mord und Grauen vorbei schmuggeln lassen, unbemerkt an den Augen eines schwarzgewandeten Monsters vorbei.
Vielleicht war es diesmal den Versuch wert.
Es erschien dem jungen Mann, benebelt von seinen Schmerzen und besessen von seiner Idee, plötzlich ganz natürlich, dass der Fremdling, der zuweilen am Rande seines Geistes entlang steifte wie ein Passant an einem Gartenzaun, wusste, wie man ohne Feuer und Werkzeug Gold verformte. Wen sonst konnte er danach fragen, jetzt, hier und so knapp vor etwas Schrecklichem, was auf die eine oder andere Weise passieren würde?
Vielleicht würde er sein Geheimnis mit ihm teilen?
Galéon zögerte noch einen Moment. Was hatte er zu verlieren?
Der báchorkor schloss die Augen und befahl sich den Mächten, Pataghíu, Noktáma und dem Licht, wer immer sich gerade für seinen bescheidenen und demütigen Diener zuständig fühlen mochte. Mochte das Licht ihn diesmal behalten … oder ihm zur Hilfe kommen.
Dann nahm er alle Willenskraft und Selbstdisziplin zusammen und gebot seinem eigenen Herzen, stillzustehen, bis sein Ich ihm entglitt und fortstürzte wie ein Schneebrett von einem steilen Dach.
***
Das kleine Mädchen, das da vor ihm im Sattel saß, war entzückend.
Cýelú versank einen Augenblick in Gedanken und betrachtete sie versonnen, wie sie da furchtlos und voller Vertrauen saß, mit kindlicher Zärtlichkeit die zarte Mähne von Perlenglanz (dem wildesten und gefährlichsten Einhorn der ganzen Herde) streichelte und dabei etwas von einem Spielzeugboot erzählte, das sie vor ein paar Tagen hier verloren und seither jede Nacht gesucht hatte.
Cýelú Irísolor ertappte sich bei dem Gedanken, wie ähnlich dieses kleine Mädchen Advon war. Ja, wäre Advon kein Knabe, er würde ihr ähneln. Sie war so rührend unschuldig, so sanft und angesichts ihres Alters so besonnen und aufgeweckt zugleich, dass es ihm fast unheimlich war.
Aber all das erklärte nicht, wie Eltern so verantwortungslos sein konnten, ihr Kind hier, unter den Augen der Monster, der grausamen camat’ay [Schattensänger], die voller Heimtücke und Bosheit im Dunklen lauerten, spielen zu lassen.
Der Regenbogenritter verspürte, obwohl er hier so viel Dringlicheres zu tun hatte, den dringenden Wunsch, das Kind sicher nach Hause zu bringen und dann seiner Mutter ernstlich ins Gewissen zu reden. Es mochte ja sein, dass die Schattensänger sich nicht die Mühe machten, einem kleinen Kind nachzustellen. Trotzdem: Es war gefährlich. Keine Mutter, kein Vater sollte zulassen, dass ein Kindlein in seiner Arglosigkeit dem Bösen in die Finger geriet.
Er hatte zunächst angenommen, dass das Kind ihn an den Rand des Waldes lotsen würde, hinaus aus dem Wald, in Richtung eines Gehöfts, vielleicht zu einem Dorf oder auch einzelnen Haus, das leichtsinnige Unkundige viel zu nahe an den Boscargén gebaut hatten. Aber die Kleine wies ihm den Weg neben dem Seeufer, zu seiner Linken das bodenlose Wasser, rechts das Rauschen der riesigen Bäume.
„Bist du sicher, dass es hier entlang geht?”, fragte er.
„Ja, natürlich. Ich verlaufe mich nicht.”
„Aber wie lange bist du denn unterwegs gewesen, um hierher zu kommen?”
„Ich weiß nicht. Nicht lange. Ich hab eine Weile hier gesessen und dann dein Einhorn gesehen.”
„Bist du vielleicht eingeschlafen?”
„Nein. Ich schlafe nicht, wenn es noch dunkel ist. Die Nacht ist doch die beste Zeit.”
„Wie bitte?”
„Dann ist Noktámas Leuchten am Himmel.”
Cýelú schauderte. Hatten die Schwarzgewandeten die Unkundigen so unter ihrer Kontrolle, dass sie vergaßen, wie gefährlich die dunkle Nacht für Menschen war?
„Wir sind gleich da”, sagte Dýamirée. „Mama freut sich bestimmt, dass du uns besuchst. Hier kommt so selten Besuch. Hast du Hunger? Wir haben einen Garten mit vielen Früchten und Gemüse. Ich mag am liebsten die dunkelgrünen Solanere [Tomatenähnliche Pflanze].”
„Hier? Mitten im Wald?”; fragte er alarmiert.
„Ja. Gleich dort hinten. Siehst du es? Das Dach hinter den Bäumen?”
„Ihr wohnt im Boscargén?”
„Ja, klar. Im Etaímalon.”
Cýelú zügelte sein Einhorn. „Was redest du da, Kind? Willst du dich über mich lustig machen?”
Dýamirée schaute über ihre Schulter. Ihre grünen Augen waren voller Erstaunen. „Aber nein. Das ist unser Haus.”
„Die Schattensänger würden nie erlauben, dass … ihr in ihrem Heiligtum seid!”
„Warum nicht?”, erkundigte sie sich verblüfft.
„Weil Unkundige nicht in Noktámas Weihestätte gehören. Das ist viel zu gefährlich!”
Nun war das Kind erschrocken. „Aber … ich bin doch unkundig. Ich kann gar nicht zaubern.”
„Und deshalb kann es nicht sein, dass du da wohnst! Du hast deinen Spaß gehabt, Kleines, und ich werde darüber lachen, sobald du in Sicherheit bist. Aber nun hör auf, mich anzuflunkern und sag mir, wohin du gehörst!”
Sie schaute hinüber zu dem kleinen weißen Haus oberhalb der Böschung. Der Mondschein lag schimmernd auf Dach und Mauern.
„Ich weiß nicht”, sagte sie dann tonlos. „Ich war niemals woanders.”
Er hätte es gespürt, wenn sie das nicht ernst gemeint hätte. Alle Magier spüren Lügen. Und kein Kind lügt so geschickt, um einen Regenbogenritter zu täuschen. Sie schaute zu dem Haus hinüber und wirkte dabei urplötzlich jammervoll. Zerbrechlich. Verletzt.
„Ich gehöre also nicht hierher?”, fragte sie leise.
Er zögerte. Dann legte er ihr seine Hand auf die Schulter. Sie zuckte nicht einmal zusammen unter dem goldenen Panzerhandschuh, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie keine junge Schattensängerin sein konnte.
„Kleines”, fragte er leise, „wo ist deine Mutter?”
„Da drin”, sagte sie tonlos, verwirrt. „Sie webt den Zauber, der uns … den Wald und das Haus beschützt.”
„Eine Frau ist also da drin?”
„Ja. Meine Mama.”
„Und deine Mama zaubert?”
„Nicht besonders gut. Sie gibt sich aber ganz viel Mühe.”
„Kleines … wer ist dein Vater? Wieso erlaubt er deiner Mama … in … an diesem Ort zu sein?”
„Aber mein Papa ist doch der Meister”, sagte sie flüchtig. „Der Großmeister der camat’ay.”
Cýelú war es, als werde sein Blut im Augenblick zu Eiswasser. Das Kind unter seiner Hand war so klein und zerbrechlich, ein so strahlendes kleines Herz. Bei den Mächten! Wie konnte das sein? Wie konnte Pataghíu etwas so Entsetzliches zulassen?
„Nein. Du gehörst ganz sicher nicht hierher”, sagte Cýelú tonlos.
„Aber ich war nie woanders”, sagte sie erschrocken. „Ich … ich will zu meiner Mama.”
„Das geht nicht, Kind.”
„Doch. Sie hat mir versprochen, mir die Geschichte von dem dummen teirand und dem Goldstroh zu erzählen.”
„Du kommst mit mir.”
Sie drehte sich zu ihm um. „Nein.”
„Du darfst hier nicht sein.”
„Ich will nach Hause!” Sie schlüpfte unter seinem Arm hindurch und versuchte, aus dem Sattel zu gleiten. Er griff nach ihr und zog sie wieder an sich.
„Du kommst mit mir!”, sagte er eindringlich und wendete das Einhorn.
Sie war einen Moment starr vor Verblüffung. Dann wehrte sie sich.
„Lass mich los! Ich will runter!”
„Ich bringe dich an einen besseren Ort.”
„Nein! Ich will … ich will … lass mich runter! Lass mich runter!”
Er drückte sie fest an sich und spornte sein Reittier an. „Halt still! Du kommst mit mir!”
„Nein!”
„Sei vernünftig! Wir müssen weg von hier. Wir müssen …”
„Mama! Mama! MAMA!”
Ihre Stimme war panisch, voller Entsetzen. Nun spürte er Angst von ihr ausbranden, hochlodern als sei sie eine Fackel, die Feuer gefangen hatte. Er zog sie an sich und versuchte, ihr den Mund zuzuhalten, bevor man sie hören konnte. Ihre kleinen Fäuste trommelten wütend auf seinen Harnisch. Sie kämpfte, wand sich in seinem Griff wie ein Fisch und war kaum zu bändigen. So sehr wehrte sie sich, dass er einen Moment im Sattel schwankte und Perlenglanz ganz verwirrt vor der unvermittelten Unruhe auf seinem Rücken scheute und auf der Stelle zu tänzeln begann.
„Nimm Vernunft an!”, zischte er sie flehend an. „Du kommst jetzt mit mir. Ich bringe dich in Sicherheit!”
Sie kämpfte ihren Mund frei. Hätte er die Handschuhe nicht getragen, wahrscheinlich hätte sie versucht, ihn zu beißen. „MAMA!”
Beim Haus bewegte sich etwas, er sah am Rande seines Blickfeldes, dass jemand in der Tür auftauchte, eine Frau, und wie erstarrt stehen blieb. Er riss an den Zügeln des Einhorns, zwang es in die richtige Richtung, kümmerte sich nicht um das Heulen und Kreischen des Kindes und wollte angaloppieren.
Aber der Weg war ihm versperrt. Dort, aus dem Wald, jagte ein Reiter heran, zügelte sein Ross und stellte sich ihm in die Bahn. Ein Ritter war es, ein unkundiger Mensch, einer mit grün-gelbem Waffenkleid auf einem mächtigen braunen Pferd. Den Rand seines Helms zierte ein Kranz aus ineinander verflochtenen Bändern, ein Zeichen dafür, dass er eine hýardora hatte, auf seinem Schild prangte ein Wappen mit einem Rehbock. Sein Schwert hielt er bereits offen in der Hand.
„He! Lasst augenblicklich das Kind los!”, rief er gebieterisch.
Die Frau an der Tür riss sich aus ihrer Erstarrung los. Sie rannte, als sei ihr Leben in Gefahr, unmittelbar auf ihn zu. Er hörte sie den Namen des kleinen Mädchens rufen, schrill, in höchster Not, in einer Verzweiflung, die wohl nur eine Mutter zustande brachte.
Cýelú Irísolor schaute betroffen vom einem zum andern.
Bei den Mächten. In was war er nur herein geraten?
Er seufzte tief, wirkte einen Bann gegen die Frau, griff an seine Seite und zog sein Schwert, knapp an Dýamirées tränenüberströmtem Gesicht vorbei. Er war bereit, das Richtige zu tun.
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