
An der Mauer, unterhalb des Fensters, wuchs ein niedriger Strauch mit drahtigen Zweigen, der im Herbst leuchtend orangene Beeren trug. Da man diese in der Küche gut brauchen konnte, hatte man ihn auf dem Innenhof stehen lassen. Aller Vernunft nach hätte das Gewächs unter Merrits darauf aufprallendem Körper zerbrechen und splittern müssen, aber die Ästchen waren, für einen Moment nur, wie ein Schwamm, wie ein federndes Geflecht. Der Knabe stürzte darauf wie auf einen Haufen Stroh und blieb erschrocken, verwirrt und atemlos, einen Moment reglos liegen.
Dann war Láas Grootplen über ihm, vier Sommer älter, einen Kopf größer und beinahe um die Hälfte schwerer als er. Sein hölzernes Übungsschwert hatte er bei sich und hielt es offen in der Hand.
„Was hast du da zu suchen gehabt?”, herrschte der ältere Junge den vom Sturz noch ganz benommenen an, so laut, dass er gewiss sein konnte, dass sein teirand, der oben am Fenster stand und besorgt in die Tiefe blickte, es auch hören konnte. „Was wolltest du am Fenster unserer jungen Herrin?”
Ja, was hatte er dort gewollt, mit der brandgefährlichen Kletterpartie bezweckt? Merrit hätte nicht gewusst, wie er das den beiden älteren Jungen in Kürze hätte erklären sollen. Tatsächlich hatte er nicht geahnt, dass er sich auf dem Sims auf das Fenster der teirandanja zubewegt hatte. Er hatte sich zu dem Gemach begeben wollen, wo der bebrillte Junge und sein Vater schliefen; hatte gehofft, dass der andere ebenso unruhig und schlaflos war wie er selbst und mit ihm geredet, ihm erklärt hätte, was, bei den Mächten, da vorhin in der Halle geschehen war. Und vor allem, warum die teirandanja anschließend weg gerannt war.
Dabei war er an dem offenen Fenster angelangt, an dem er nicht unbemerkt vorbei gekommen wäre. Er hatte die Stimmen der teiranday und ihrer Tochter gehört. So hatte er zwar einen Teil der Antworten erhalten, nach denen er gesucht hatte. Zugleich war er jedoch in der Falle gewesen.
Nun lag er hier unwürdig, ertappt und alle starrten ihn an, die hoheitliche Familie, vereinzelte Menschen, die noch auf dem Hof unterwegs gewesen waren, und hier und dort tauchten auch schon Neugierige an den Fenstern auf, aufmerksam geworden durch Láas’ unüberhörbare Rufe.
„Wolltest du etwa bei unserer Herrin einsteigen?”, schloss sich Jándris empört an. „Kaum hier angekommen und schon ohne Respekt!”
„Jándris!” Asgaý von Spagor neigte sich weit aus dem Fenster. „Ist er in Ordnung?”
Merrit versuchte, sich aufzurappeln, aber Láas schubste ihn nieder. „Er ist in den Busch gefallen, Majestät!”
„Sollen wir ihn verprügeln, Majestät?”, fragte Jándris begierig.
„Nein, lasst ihn in Ruhe!”, rief Kíaná von Wijdlant zu ihnen hinunter. „Bringt ihn zu uns herauf. In mein Audienzgemach.”
„Auf die Beine, Kerlchen.” Láas packte Merrit schadenfroh beim Kragen.
„Oh je”, fügte Jándris spöttisch hinzu. Auch er hielt sein Holzschwert gezückt und klopfte sich damit erwartungsvoll in die Handfläche. „Das gibt großen Ärger, Wiegenkind.”
Merrit schaute sich wachsam um. An der Wand neben dem Busch, anderthalb Armlängen entfernt, lehnte ein Strohbesen. Den hatte tagsüber wohl jemand dort vergessen. Flink wie ein Wiesel wand der Junge sich aus Láas’ Griff und hatte im nächsten Moment den Feger in der Hand.
„Fasst mich nicht an”, zischte er den beiden älteren Jungen zu. “Ich kann allein laufen!”
„Was hast du vor?”, spottete Jándris unbeeindruckt. „Willst du zur Buße den Hof fegen?”
„Mach keinen Ärger.” Láas, in Gewissheit seiner körperlichen Überlegenheit, schritt großtuerisch auf den Jungen zu. „Vielleicht hast du die Ehre, dass unser Herr dir persönlich heiße Ohren macht.”
„Kommt nicht näher!”
„Láas Grootplen!”, rief die teiranda. „Lass ihn und bring ihn einfach hierher.”
Aber die verlockende Gelegenheit, den fremden Rittersohn, den alle Erwachsenen so lobten, ein wenig in die Enge zu treiben, wollten die beiden Jungen sich nicht entgehen lassen. Merrit Althopian hätte ihnen mit seinem kindischen Streich keinen besseren Gefallen zum Einstand am Hof von Wijdlant und Spagor tun können.
„Ergibst du dich freiwillig?”, fragte Jándris und piekte mit seiner Holzwaffe herausfordernd gegen Merrits Brust. „Oder sollen wir dich rauf tragen?”
Merrit wich zurück, bis er die Mauer im Rücken spürte. Rasch blickte er nach oben und sah ihr Gesicht direkt über sich. Das Mädchen. Die teirandanja. Bei den Mächten, was war das, womit dieses Mädchen ihn so verwirrte?
„Komm schon”, forderte Láas. „Stell den Besen weg und sei artig. Oder du bekommst es mit uns zu tun.”
„Wir sind nämlich die yarlay unserer Herrin”, sagte Jándris und stach noch einmal zu, diesmal etwas fester. „Wir erlauben nicht, dass jemand sie belästigt. Wir …”
Merrit dachte nicht nach, das war nicht nötig. Ein blitzschneller Griff, ein geschickter Schwung, und der Besenstiel traf das Holzschwert. Jándris, der nicht damit gerechnet hatte, schaute seiner Übungswaffe verblüfft hinterher, die im hohen Bogen davon segelte und klackernd auf dem Kopfsteinpflaster landete.
Láas wich einen Schritt zurück und ging instinktiv in Angriffsstellung, wie der Kampflehrer, sein eigener und Jándris’ Vater es ihn gelehrt hatten. Merrit packte seinen Besen fest, und lächelte angriffslustig.
„Wiegenkind?”, fragte er. „Wo? Ich sehe keines.”
Jándris bückte sich eilig nach seiner Waffe.
„Jungs”, rief der teirand streng. „Haltet Frieden miteinander!”
„Was erlaubst du dir?”, grollte Láas.
„Denkt ihr, ich hab Angst vor euch?”
„Komm, Láas”, knirschte Jándris. „Den kaufen wir uns!”
Merrit schaute von einem zum anderen. Sie waren größer, älter, erfahrener. Sie hatten zwar keine Klingen, aber sie wussten, wie man mit dem Holz umging.
Merrit grinste grimmig. Er hatte einen Besen. Mochten sie nur kommen.
Einen Augenblick war es still auf dem Hof. Die Schaulustigen beobachteten das Geschehen gespannt. Zwischen den Jungen schien es zu knistern wie Gewitterluft.
Oben im Fenster beugte sich Manjév von Wijdlant interessiert vor, um besser sehen zu können.
Láas feixte siegessicher zu ihr hinauf, schwang sein Schwert und ließ es auf den kleineren Jungen niedersausen.
***
Das Kind schrie gellend und zappelte panisch in seinem Griff. Die Frau hatte ihn fast erreicht, eilte von Angst beflügelt näher. Und vor ihm, da stand ein bewaffneter Kämpfer, der in diesem Wald so gar nichts zu suchen hatte, und hatte seine Klinge gegen ihn gezogen, seinen Schild fest in der Hand. Was, bei den Mächten, ging hier vor?
„Dýamirée!”, schrillte die Frau. Cýelú hatte nie zuvor solche Angst in der Stimme einer Unkundigen gehört.
„Mama! Mama, hilf mir!”
„Lasst das Kind los!”, forderte der Ritter noch einmal.
„Gebt mir mein Kind!”, kreischte auch die Frau.
Sie war näher bei ihm. Der Regenbogenritter wusste sich so schnell nicht anders zu helfen und verstärkte seinen Bann gegen sie. Er wollte nicht, dass die Frau ihm zu nahe kam. Und tatsächlich, sie kam zu Fall, bevor sie kopflos auf das Einhorn losstürmte und sich dabei in Gefahr brachte.
„Zurück!”, rief er gebieterisch. „Und Ihr auch!”
„Lass mich runter,” schluchzte und bettelte das Kind. „Ich will zu meiner Mama!”
„Ihr!”, schrie die Frau. „Was tut Ihr? Was wollt Ihr mit meiner Tochter?”
„Wo ist der Großmeister?”, fragte Cýelú Irísolor. „Holt ihn her!”
„Was?” Die Frau rappelte sich auf. „Wieso?”
„Das lasst meine Sache sein.”
„Mama!”, weinte das Kind. „Der Mann lässt mich nicht los!”
„He!”, rief der unkundige Ritter. „Ihr seid ein Regenbogenritter, nicht wahr?”
„Ich bin Cýelú Irísolor. Ich bin der Großmeister der arcaval’ay!”
„Und da vergreift Ihr Euch an kleinen Kindern? Schämt Ihr Euch nicht?”
„Kehrt Euch um Eure eigenen Dinge!” Bei Pataghíu, wo kam dieser leichtsinnige Krieger her? Was hatte er mit den schwarzgewandeten Unholden zu schaffen?
„Herr Jóndere!” Die Frau wurde auf den Berittenen aufmerksam. „Wo kommt Ihr her?”
„Bleibt zurück, Meisterin! Lasst mich reden! Der da scheint nicht recht bei Sinnen zu sein auf seinem geflügelten Tier.”
Meisterin? Was sollte das? Hatten die Schattensänger es nun auch vollbracht, Menschen unter ihren Bann zu zwingen?
„Wer seid Ihr überhaupt?”, rief er dem unkundigen Ritter zu und hatte alle Mühe, das kleine Mädchen zu halten. Er zog sie an sich und umklammerte ihren Oberkörper fest mit seinen gepanzerten Armen. Das Kind wimmerte.
„Ich bin yarl Jóndere Moréaval, Ritter der teiranday Kíaná von Wijdlant und Asgaý von Spagor. Und jetzt lasst das Kind in Frieden und erklärt Euch!”
Wijdlant? Spagor? Das war jenseits des Montazíel! Bei den Mächten, wie weit reichte die Macht der camat’ay? Und was hatte der fremde Ritter hier zu schaffen, wenn er doch teiranday aus dem Norden diente?
„Ich bin Euch keine Rechenschaft schuldig. Zieht Eurer Wege und lasst mich hier meine Angelegenheiten tun!”
Der Ritter lenkte sein Pferd näher heran. Für ein gewöhnliches Ross war es bemerkenswert nervenstark, aber es zeigte den gebotenen Respekt vor Perlenglanz. Das Einhorn schnaubte das flügellose Wesen drohend an. Das kleine Mädchen schniefte, aber nun hielt es still. Ihr Blick wandte sich fast flehend, rührend vertrauensvoll dem hinzugekommenen Ritter zu.
Auch die Frau stand wieder und schien verblüfft, dass sie nicht näher an ihn heran kam. Sie tastete verwirrt in die Luft. Also sah sie den Zauber nicht. Das war interessant.
„Meisterin Salghíara”, stellte der Ritter genau die Frage, die auch Cýelú interessierte, „was ist hier los? Ist mit Euch alles in Ordnung?”
„Ich weiß nicht”, kam es in verstörter Stimme von der Frau. „Ich … mir geht es gut, aber ich bin festgebannt! Ich kann nicht zu ihm hin!”
„Wenn Ihr ein Regenbogenritter seid”, fragte der yarl, „was bei allen Mächten macht Ihr hier im Wald der Schattensänger?”
„Ich bin gekommen, den Großmeister zu sehen!”
„Und warum macht Ihr dann dem Mägdelein Angst? Lasst Eure Finger von der Kleinen!”
„Nein!” Was bildete der Mann sich ein? „Das Kind kommt mit mir! Es gehört nicht hierher!”
„Nein! Ich will nicht! Mama!”, heulte das Mädchen. Cýelú schauderte. Er ertrug die Angst in der Kinderstimme kaum.
Die Mutter war fassungslos. „Was wollt Ihr mit ihr?”
„Sie darf hier nicht sein!”
„Wer sagt das?”
Der Ritter kam ihm nun deutlich zu nahe. Sein Schwert hatte er zum Streich bereit in der Hand, einfach lächerlich. Wusste dieser alberne Kerl nicht, dass die arcaval’ay unbesiegbar waren? Dass Menschen nicht dazu befähigt waren, einen von ihnen im Kampf zu besiegen, ganz unerheblich, welcher Leichtsinn, Größenwahn oder Tapferkeit sie trieb? Mit zwei, höchstens drei Treffern würde sein Schwert, gefertigt aus dem magischen Gold aus Soldesér, die stählerne Klinge des Unkundigen unbrauchbar machen, wenn er so töricht wäre, frech zu werden. Dazu benötigte er keinen weiteren Zauber.
Einen Augenblick überlegte Cýelú, dennoch ob er den Schildbann auf den Ritter ausdehnen solle, aber das erschien ihm feige. Außerdem hätte er damit den gegen die Frau geschwächt. Vielleicht war das ihre Absicht, damit der Schattensänger in seinem Versteck leichteres Spiel mit ihm hatte.
„Meine Geschäfte gehen Euch nichts an! Und nun steckt Eure Waffe ein und verschwindet. Ihr macht Euch zum Narren!”
„Bitte”, kam es da von dem Kind. Mit schreckgeweiteten grünen Augen, nass vor Tränen, blickte es den Unkundigen flehend an. „Kannst du mir helfen? Ich hab Angst! Ich will nicht mit dem Mann mitgehen …”
„Der Mann wird dich nicht mitnehmen, Kleines”, sagte der Ritter ruhig. Er dachte ganz offensichtlich nicht daran, seine Klinge zu senken. „Regenbogenritter sind ehrenhafte Magier, so erzählt man sich. Warum sollte ein so redlicher Mann einer Mutter das Kind entführen?”
„Haltet Euch da heraus!”
„Ach? So seid Ihr kein hochedler Magier?”
„Das versteht Ihr nicht!”
„Nun gut.” Der yarl hatte sein Pferd nun zwischen Perlenglanz und die hilflos dabei stehende Mutter gelenkt. Der Frau hatte die Panik offenkundig die Sprache verschlagen. Fassungslos tastete sie nach dem Bann, der ihn schützte und sie auf Abstand hielt. „Dann seid Ihr, Cýelú Irísolor, wohl kein ehrenhafter Diener Pataghíus, sondern ein schäbiger Unhold, der kleine Kinder in Angst und Schrecken versetzt.
„Was erlaubt Ihr Euch?”
„Ich? Ich spreche die Wahrheit aus, wie sie sich mir zeigt. Was mich betrifft, ich habe meinen teiranday vor den Mächten und bei meinem Leben geschworen, Schutzbefohlene zu verteidigen.”
„Das hier sind nicht Eure Schutzbefohlenen! Das ist …” Cýelú zögerte. Was waren das Kind und seine Mutter eigentlich? Die Frau schien keine echte camat’ayra zu sein, wenn auch etwas sie umgab, das wie eine sehr, sehr schwache maghiscal wirkte, eine, die löchrig war und um sie herum flackerte wie ein Wetterleuchten. Ob das unkundige Emotionen waren, die sie lähmten, zusätzlich zu seinem Schutzzauber?
Das Kind aber war eindeutig unkundig. Es gehörte keinesfalls hierher, in den Boscargén, in das Heiligtum der Dunkelheit. Hier würde es verderben und war einem schrecklichen Schicksal geweiht.
Die einzige plausible Erklärung, die er sich zusammenreimen konnte war die, das es dem Schattensänger, dem Großmeister, einst eingefallen war, eine elende unkundige Frau in seinen Bann zu schlagen und sich an ihr zu vergehen. Daraus mochte dieses arme, entzückende Kind entstanden sein , dass da zitternd in seinem Griff saß und wohl nicht mehr die Kraft hatte, sich zu wehren, denn es hatte aufgehört, auf sein Rüstzeug einzuschlagen und zu treten. Soweit er es gewusst hatte, war es von Noktáma nicht gewollt, dass Schattensänger leibliche Nachkommen zeugten. Vielleicht hatte der Großmeister einen Weg gefunden seine eigene Schutzmacht aus Eigennutz zu überlisten? Vielleicht hatte er experimentieren wollen, herausfinden, wie weit er gehen und Noktáma betrügen konnte? Vielleicht war diese Spur von Magie, die die Mutter in sich zu tragen schien, ein schaler Überrest der seinen, mit der er sie dabei beschmutzt hatte?
Vielleicht hatte der Schattensänger auch längst gewusst, dass er, der Regenbogenritter kam, hatte ihn in den Boscargén gelassen und das Kind als Köder ausgeschickt? Vielleicht war es eine Falle gewesen, in die er sich hatte locken lassen, geblendet von der Arglosigkeit und Reinheit des Kindes? Cýelú hatte es gleich verdächtig gefunden, dass er, ohne auf das geringste magische Hindernis zu stoßen, einfach so in diesem Wald hatte landen können.
Bei den Mächten, was waren die Schwarzgewandeten doch für verabscheuungswürdige Kreaturen!
Auch die fajíae waren nicht dafür bestimmt, Mütter zu werden. Dennoch war Elosál eines Tages guter Hoffnung gewesen. Advons Existenz war, wenn man es sachlich betrachtete, ebenso sonderbar wie die Anwesenheit des kleinen Mädchens. Aber Advon … Advon war Pataghíus Geschenk gewesen. Dieses kleine Mädchen hier, das war … wider die Mächte, wenn auch ohne eigene Schuld.
Langsam begann Cýelú, zu verstehen warum Siledaú ihm den Auftrag mitgegeben hatte, um die Gefahr zu bannen.
Der unkundige Ritter wartete auf eine Antwort. Tapfer war der Mann, das konnte Cýelú nicht abstreiten. Aber er war ihm bedauerlicherweise im Weg.
„Es mag bei Euresgleichen im tiefen Süden anders sein”, hielt ihm der Ritter nun entgegen. „Aber da, wo ich herkomme und erzogen wurde, hört die Verantwortung eines Ritters, Unrecht zu verhindern, nicht an den Grenzen seines yarlmálon auf.”
„Herr Jóndere ist unser Freund!”, beteuerte die Frau inständig. „Bitte, Meister Cýelú, was habt Ihr vor? Was wollt Ihr hier?”
„Ich würde mich nicht wundern, stünde dieser Wahnsinnige nicht irgendwie unter dem Bann des Schattensängers. Vielleicht hat er irgendeinen Fluch um den Verstand dieses armen Tropfs gewunden”, gab Cýelú zurück. „Wo ist der widerliche Schwarzmantel? Holt ihn herbei! Oder ist er zu feige, um mir gegenüber zu treten?”
„Warum redet Ihr nicht mit mir?”, fragte sie mutig. „Vielleicht kann ich Euch weiterhelfen!”
„Mit Euch habe ich nichts zu schaffen”, antwortete er harsch. „Es müssen nicht mehr Unkundige als nötig dazwischen stehen. Den Großmeister will ich sehen, hier an dieser Stelle und alsbald!”
Die Frau senkte die Schultern. „Er ist nicht hier”, gestand sie dann kläglich.
„Das sehe ich, dass er sich feige vor mir versteckt. Wahrscheinlich hat er sich in seinem entweihten Heiligtum verschanzt. Aber das rettet ihn nicht. Holt ihn her!”
„Ich kann nicht!”
Cýelù seufzte innerlich. Je mehr Zeit er hier vergeudete, desto nervöser machte ihn das. Wenn er etwas nicht gebrauchen konnte, wäre es ein Angriff eines Schwarzgewandeten aus dem Hinterhalt.
„Meine Geduld hat Grenzen”, sagte er verärgert. „Und ich habe Euer Kind in meiner Gewalt. Wenn nicht …”
„Versteht Ihr nicht? Er ist nicht hier, nicht im Boscargén. Yalomiro ist … er hat anderenorts zu tun.”
Der Regenbogenritter schüttelte unwillig den Kopf. „Das kann nicht sein. Wo … wo finde ich ihn?”
„Jenseits des Montazíel”, mischte sich der Ritter ein und ritt noch dichter an ihn heran. „Der Meister ist im Auftrag meiner teiranday unterwegs. Die Meisterin spricht die Wahrheit. Ihr habt ihn um ein paar Tage verpasst.”
Das versetzte Cýelú einen Schlag. Er war ernüchtert. War er tatsächlich umsonst hergekommen? Was blieb ihm jetzt zu tun? Was konnte er tun?
Dass sie alle ihn anlogen, war unwahrscheinlich, er hätte es zumindest gespürt, wenn der Ritter, der Mensch es getan hätte. Mit einer Falle rechnete er nun ebenfalls nicht mehr, denn beide wirkten ernsthaft überrascht über seine Anwesenheit.
Also hatte ihn tatsächlich niemand erwartet. Jedoch, was, bei den Mächten, hatten Unkundige vor, wenn sie mit Schattensängern paktierten?
Wie auch immer: Gar nichts konnte er nun tun. Er konnte niemanden besiegen, der gar nicht da war. Und ohne diesen Sieg würde er auch an … das andere nicht herankommen. Das, weshalb Siledaú ihn ausgesandt hatte.
Wie kam er halbwegs würdevoll aus dieser peinlichen Lage wieder heraus?
„Gut”, sagte der Regenbogenritter bedacht. „Dann werde ich ihn erwarten, den Schattensänger. Im Cielástel. Und … die Kleine hier, die nehme ich mit mir.”
„Was soll das heißen?”, begehrte die Frau auf. “Was wollt ihr mit meiner Tochter?”
„Wenn die Kleine hier, wie immer das sich zugetragen und zugegangen sein mag, tatsächlich Blut von seinem Blut ist, dann dürfte ihm daran gelegen sein, es nicht bei meinesgleichen zu wissen. Er möge sich die Kleine zurück, holen. Er wird wissen, zu welchem Preis und wo er mich findet..”
„Mama!”, begehrte das Kind kläglich auf. Die Frau wollte auf ihn losstürzen, aber der Bann hielt sie zuverlässig fern wie eine unsichtbare Mauer aus dicker Watte. Cýelú wunderte sich darüber, dass er diesen Zauber hier auf dem Boden der camata’ay wirken konnte. Siledaú erstaunte ihn mehr und mehr mit ihrem Wissen, ihren weisen Ratschlägen.
„Dýamirée, Kind”, rief der yarl plötzlich, „Hör mir genau zu. Es wird gleich sehr gefährlich werden, aber du bist ein tapferes Mädchen, das weiß ich. Duck dich fest zusammen, wie ein Igel. Halt deinen Kopf so weit unten, wie du kannst. Sobald er dich loslässt, lass dich fallen. Und dann lauf. Lauf zu deiner Mutter. Und schau nicht zurück.”
Das Kind schniefte und nickte. Die Frau warf dem Ritter einen entsetzten Blick zu „Herr Jóndere, was …”
„Keine Sorge”, unterbrach er sie entschlossen. „Dem Kind soll nichts passieren.”
Cýelú begriff und riss seine Klinge hoch, parierte den Schlag, den der grüngelbe Ritter unvermittelt gegen ihn führte, Perlenglanz brüllte und tänzelte rückwärts, das Pferd des Unkundigen wieherte, stieg und strampelte in die Luft. Dýamirée quietschte auf und krümmte sich unter dem Hieb weg. Und die Mutter kreischte auf.
Hinterlasse einen Kommentar