Die zwei Ritter hatten Mühe, ihren Gefährten festzuhalten.

„Lass ihn!”, riet Andriér Altabete. „Lass ihn machen!”

„Ja”, schloss sich Daap Grootplen an. Der ältere, etwas behäbige Ritter konnte seinen Blick nicht von dem Schauspiel abwenden, dass sich da seinen Augen bot. Er war fasziniert.

Der Lärm auf dem Hof hatte die Gäste der Schankstube ins Freie gelockt, und auch an den Fenstern ringsum hatte sich neugieriges Volk versammelt, das raunte und staunte, während Láas Grootplen und Jándris Altabete Prügel bezogen.

Merrit Althopian, klein, flink und wütend, wirbelte mit seinem Besenstiel herum, hielt sich Láas damit vom Leib und hatte Jándris schon zweimal dessen sorgsam gehütetes Übungsschwert aus der Hand geschlagen. Wohl erzogen und ritterlich wartete der viel jüngere und zartere Junge jedes Mal, bis sein Gegner sich wieder bewaffnet hatte, bevor er ihn erneut anging, als wolle er ihn mindestens vom Burghof, wenn nicht aus dem teirandon heraus treiben.

„Bei den Mächten”, murmelte Waýreth Althopian tonlos. Man konnte ihm ansehen, dass er vor Scham verging.

„Der Kleine ist wirklich hervorragend”, brachte yarl Altabete jedoch hervor. „Wo hat er das gelernt? Woher weiß er jetzt schon, wie man eine Stange gegen eine Klinge einsetzt?”

„Ich weiß es nicht. Von mir hat er das nicht.”

„Aber er muss das doch trainiert haben?”

„Nicht mit mir oder seinem Schwertlehrer.”

„Ein Naturtalent also”, sagte yarl Grootplen und nickte anerkennend. „Das ist unglaublich!”

„Und damit ist augenblicklich Schluss”, entschied Waýreth Althopian und streifte die Hände seiner Gefährten ab. „Merrit!”, rief er gebieterisch aus. „Merrit Althopian!”

Aber der Junge hörte es nicht. Merrit Althopian war in einem wahren Rausch. Er tanzte mit seinem Besen um die größeren Jungen herum und wehrte ab, was sie zu bieten hatten. Zu zweit hätten sie ihn leicht überwältigen können. Aber offenbar flößte der Junge ihnen Respekt ein, vielleicht auch ein wenig Furcht. Andererseits: Die Ritter und vor allem die teiranday schauten zu. Wenn sie jetzt Feigheit zeigten, wären sie blamiert.

„Vergebt mir, Majestät”, rief Althopian hinauf zu dem Fenster, wo er seinen teirand, dessen hýardora und die kleine teirandanja erspäht hatte. „Ich werde das umgehend beenden!”

Asgaý von Spagor wandte sich ab und verschwand im Raum, zweifellos, um sich selbst auf den Hof zu begeben. Kíaná von Wijdlant hatte anmutig den Saum ihres weiten Ärmels vor den Lippen. Lachte sie? Verbarg sie ihr Entsetzen? Waýreth Althopian wusste es nicht zu sagen, er konnte es auch nicht recht erkennen, dafür war es viel zu dunkel. Das Licht der Nachtfackeln, die den Hof notdürftig erhellten, reichte kaum hinauf bis zu der Fensterreihe, wo sich nun auch Alsgör Emberbey zeigte, im Nachthemd, und sich bestürzt hinaus neigte.

Die teirandanja, das kleine Mädchen, dem sein Sohn vorhin noch unwissend und verwirrt seine Treue geschworen hatte, machte ein ganz seltsames Gesicht. Waýreth Althopian hatte fast den Eindruck, als schaue sie missbilligend hinab auf die Vorstellung, die sein Sohn da bot. Und das zu Recht! Es war eine Sache, wenn der Junge daheim die Rosen verwüstete, und eine andere, wenn er hier die Söhne der Hofritter angriff, als sei er im Gefecht.

„Merrit!”, rief Herr Waýreth streng aus und trat unerschrocken zwischen die wirbelnden Kinderwaffen. „Hör sofort auf!”

Merrit Althopian bemerkte ihn zu spät. Das Ende des Besens, gerade im Schwung, prallte ungebremst gegen Waýreth Althopians Leib und nahm dem yarl den Atem. Überrascht von der Kraft, mit der Merrit zugeschlagen hatte, strauchelte der Ritter und stolperte zu Boden, wo er sich keuchend zusammenkrümmte.

„Herr!”, rief Jándris erschrocken aus, warf seine zersplitterte Holzklinge eilig beiseite, um dem hochedlen Gast behilflich zu sein. Láas tat es ihm nach, mit einer Beflissenheit, als sei er es froh, den Kampf unterbrochen zu sehen, das Schwert aufzugeben, ohne entwaffnet worden zu sein. Die beiden Jungen stützten den Ritter, während der sich wieder aufrappelte. Einen Atemzug später waren auch ihre Väter zur Stelle, und noch andere helfende Hände.

Waýreth Althopian winkte ab und stand, wenn auch gebeugt und mit schmerzhafter Miene, wieder auf seinen Füßen.

Merrit blinzelte. Seine Augen glänzten wie in einem Fieber. Erst nach und nach schien er zu erfassen, was er getan hatte.

„Merrit”, flüsterte sein Vater. „Bei den Mächten!”

Der Besenstiel klapperte zu Boden, war dem Jungen aus der Hand gerutscht. Merrit Althopian starrte seinen Vater an, als schrecke er aus einem Traum auf. Seine Lippen zitterten, als wolle er etwas vorbringen.

Dann sprang der Junge herum und stürzte fort, hinüber zur Tür, die in das Wohngebäude führte, schlüpfte durch die Tür und rannte dabei fast den teirand über den Haufen, der seinerseits in Windeseile die Treppen hinab gestürmt sein musste.

Asgaý von Spagor schien einen Lidschlag lang unschlüssig, ob er dem Jungen nachlaufen oder sich seinen yarlay zuwenden sollte. Er entschied sich für letzteres, möglicherweise, weil ihm der Junge unberechenbar und nicht geheuer vorkam.

„Althopian!”, rief er aus und näherte sich den Männern, Jungen und Schaulustigen. „Bei den Mächten! Seid Ihr verletzt?”

„Nein. Nein, danke, Majestät. Ich … ich bin das gewohnt.”

„Das war unglaublich!”

„Ich werde ihn für diesen unverzeihlichen Vorwitz streng bestrafen, Herr. Ich …”

„Nein, das meine ich nicht! Wo hat der Junge so zu kämpfen gelernt?”

Waýreth Althopian schloss die Augen und atmete tief aus. Sein Unterleib schmerzte. „Ich kann Euch das nicht beantworten, Herr. Es … ich glaube, zuweilen führt etwas Anderes seine Hand.”

„Seht ihr, Jungs”, wandte sich Altabete an seinen Sohn und dessen Freund. „Keine Überheblichkeit. Dem könnt ihr noch nicht das Wasser reichen.”

„Aber Vater!”, protestierte Jándris. „Er wollte ins Zimmer der teirandanja klettern!”

„Ja! Bestimmt hatte er etwas vor!”, schloss sich Láas an.

Die Augen aller Umstehenden wandten sich dem Fenster des herrschaftlichen Gemachs zu, aber im selben Moment schlossen sich dort die Läden. Kíaná von Wijdlant sperrte die Blicke ihrer Schutzbefohlenen und Dienstmänner aus.

„Majestät”, sagte Waýreth Althopian verlegen, „unsagbar peinlich ist mir das. Erlaubt, dass ich meinen Sohn einfange und … scharf zurechtweise.”

„Aber wofür denn?”, fragte Andríer Altabete mit einem Seitenblick auf seinen eigenen Sohn. „Das war eine hervorragende Lektion für alle Beteiligten.”

„Vater!”, protestierte Jándris fassungslos. „Der Strolch wollte … er ist …”

„Gleich morgen übt ihr beiden selbst, wie ihr gegen jemandem mit einem Stock kämpft”, ordnete Grootplen an. „Dass mir so eine Peinlichkeit nicht noch einmal unter die Augen kommt!”

„Aber … das war bäurisch!”, stammelte Jándris.

„Und effektiv.” Andriér Altabete warf ihm einen rügenden Blick zu. „Der Knabe weiß sich zu helfen!”

„Aber … Vater! Er hat … er ist die Mauer entlang geklettert und hatte sicher etwas Übles vor!”, platzte Láas heraus.

„Schweig”, zischte Grootplen. „Was unterstellst du unserem lieben Gast?”

Láas neigte reumütig den Kopf. „Verzeiht mit, yarl Althopian. Das sollte keine böse Rede sein. Nicht gegen Euch.”

„Nun, Althopian, die Jungs haben nicht ganz Unrecht”, schaltete der teirand sich ein. „Macht er das öfter, bei Euch daheim?”

„Was?”, fragte Althopian matt. „Wild mit Dingen um sich schlagen? Nun ja … gelegentlich.”

„Nein. An steilen Wänden entlang klettern wie ein Eichhörnchen.”

„Herr … ich kann es Euch nicht beantworten. Seit … nun seit seine Mutter hinter den Träumen ist, werde ich nicht mehr schlau aus ihm.”

„Was kann er in Manjé … im Gemach der teirandanja gewollt haben?”, fragte Láas nachdrücklich. Der Umstand, dass Merrit Althopian um ein Haar in deren Fenster eingestiegen wäre, kam in dieser Runde deutlich zu kurz.

„Ich habe keine Ahnung, Junge.” Yarl Althopian lächelte gequält. „He! Ihr seid gut mit Euren Fertigkeiten, Jungs. Die teirandanja kann sich glücklich schätzten, euch beide als Beschützer zu haben.”

„Schöne Beschützer”, murmelte Grootplen. „Entwaffnet mit einem Stallbesen …”

Asgaý von Spagor räusperte sich. „Für Eure Geistesgegenwart und Euren Einsatz sollt Ihr morgen eine schöne Belohnung erhalten, Láas Grootplen und Jándris Altabete. Bis dahin wird sich sicher auch klären, was hier gerade geschehen ist … und warum.”

„Majestät … erlaubt mir bitte, nach meinem Sohn zu schauen. Er kennt sich hier nicht aus und … nun, ich denke, ich muss dringend mit ihm reden.”

„Natürlich.” Asgaý von Spagor räusperte sich. „Schaut nur frei hinter jede Tür, es sei denn hinter die der Damen und fanjulaé.”

„Dort wird er nicht sein.” Waýreth Althopian verneigte sich. „Majestät … es wäre mir recht, wenn wir unser Gespräch morgen früh zeitig führen könnten. Es hält mich nicht lange hier. Nicht …. nicht nach dem, was mein Sohn sich heute Nacht erlaubt hat.”

„Das muss Euch nicht bedrücken, Herr Waýreth”, sagte der teirand freundlich. „Meine hýardora und ich sind äußerst angetan von Eurem Sohn. Sicher gibt es für dieses merkwürdige Vorkommnis auch eine ganz einfache Erklärung. Lasst den Jungen sich beruhigen und sich dann selbst erklären. Er ist ein Kind. Zuvor”, fügte er hinzu, in scherzendem Ton, aber mit eindringlichem Blick, „kommt Ihr mir hier nicht fort.”

Waýreth Althopian verneigte sich und schaute sich dann verlegen nach seinen Gleichgestelllten um. Herr Andriér und Herr Daap, die Söhne an ihrer Seite, die Jungen verschwitzt, noch halb außer Atem und mit ramponiertem Zeug, schauten ihn in einer Mischung aus Verlegenheit, Empörung und Neid an.

Bei den Mächten, Merrit hatte die künftigen Dienstmänner der teirandanja, der er sich kurz zuvor in kindlicher Unschuld überantwortet hatte, vor den Augen der Schutzbefohlenen blamiert. Mit einem Besen, mit dem man Schmutz und Mist beiseite kehrte. Warum straften ihn, den Vater, die Mächte so? Hatte er sich nicht alle Mühe gegeben, den Jungen zu stützen und zu leiten?

Er wandte den Kopf, denn ihm war, als starre ihn jemand an. Dann fing der Ritter den Blick von Alsgör Emberbey auf, der immer noch oben am Fenster stand und schweigend zugeschaut hatte. Der alte Ritter wurde gewahr, dass man ihn bemerkt hatte.

Knapp nickte er dem Jüngeren zu, mit unbewegtem, harten Blick, wie er es immer tat. Dann trat er vom Fenster zurück und schloss die Läden.

**

Mir war, als bliebe mein Herz stehen, als Jóndere Moréaval ausholte und sein Schwert in Richtung des Regenbogenritters schwang. Der Gerüstete auf dem Einhorn parierte den Hieb mühelos und setzte seinerseits zur Attacke an.

Und Dýamirée hing vor ihm zwischen den Flügeln des bizarren Fabelwesens und wimmerte so laut, dass der Metallklang es nicht übertönen konnte.

„Dýamirée!”, rief ich und warf mich gegen das, was immer es war, das was mich daran hinderte, einfach hinzulaufen und meine Tochter zu packen. Aber obwohl ich mich frei bewegen konnte, kam ich nicht vom Fleck, zumindest nicht geradewegs auf den Fremden zu, der gekommen war, um Unheil in den Wald zu bringen. Ich rannte kopflos hin und her, wie an einer Wand entlang, wie hinter einer Glasscheibe, und konnte nichts anderes tun als panisch zu schreien und fassungslos zuzuschauen, wie die Männer sich schlugen und Dýamirée sich verängstigt ganz klein machte, den Kopf einzog und so verzweifelt weinte, wie ich es noch nie gehört hatte. Seit Dýamirée kein Kleinkind mehr war, hatte sie nur selten geweint, und wenn, dann meistens mit ganz stillen Tränen. Das passierte, wenn ihr im Wald etwas trauriges begegnete, ein totes oder verletztes Tier etwa, oder sie einen der Tage hatte, an denen sie mit ihrer Unkundigkeit haderte. Sie nun auf diese Weise schluchzen zu hören, eine Mischung aus Verwirrung, Wut und Todsangst, war entsetzlich.

Was war das nur für ein Bann, der mir den Weg versperrte? Es war kein Energiefeld, keine unsichtbare Wand, nichts, worauf meine maghiscal reagiert hätte. Es war eher wie ein Gegenwind. Ja, das beschrieb es ganz gut. Es wehte mir nichts ins Gesicht, aber da war eine Kraft, die mich wegdrückte, ohne dass etwas zu spüren war. Ein sehr, sehr mächtiger Schutzbann, ein Schild.

„Dýamirée!”, rief ich, völlig sinnlos, denn was hätte sie tun sollen?

Die Ritter fochten. Das Einhorn hatte seine Flügel in der Waagerechten, einerseits wohl, um das wild tänzelnde Pferd auf Abstand zu halten, andererseits, um den Schwung des Schwertarms seines Herren nicht zu behindern. Yarl Moréaval gelang es kaum, einen Treffer anzubringen, aber vielleicht war das auch gar nicht sein Ziel. Auf seinem furchtlosen, gegen das perlenfarbene Einhorn nahezu winzig aussehenden Pferd war er flink und schnell. Mir war gar nicht klar gewesen, dass Ross und Reiter im Kampf derart verschmelzen, ein Pferd sich so wendig in alle Richtungen zugleich bewegen konnte.

Als ich Jóndere Moréaval zum letzten Mal hatte fechten sehen, war er im Rausch, war Teil eines wütenden Mobs gewesen, der einen mächtigen Magier erschlagen hatte.

„Herr Jóndere!”, rief ich ihm flehend zu, „lasst es sein! Hört auf!”

„Seid unbesorgt!”, keuchte er und duckte sich unter seinem Schild vor der goldenen Klinge weg, holte seinerseits aus. „Ich werde Eure Tochter retten!”

„Bitte! Seid vorsichtig!”

Das Einhorn trampelte mit seinen Klauen tief in den weichen Boden am Seeufer, drehte sich auf der Hinterhand und klapste ärgerlich mit den Flügeln nach dem Pferd. Moréavals Ross hatte Schaum am Maul und verdrehte seine Augen, drehte plötzlich seine Kruppe dem Einhorn zu und keilte danach aus. Das geflügelte Tier schnappte verärgert.

„Haltet ein!”, rief nun auch der Regenbogenritter. „Das geht nicht gut aus für Euch!”

„Gebt Ihr zuerst das Kind frei!”

Der Goldgerüstete schnaufte wütend. „Das würde Euch so passen!”

Dýamirée zog die Knie so hoch, wie sie konnte und schirmte wimmernd den Kopf mit einem Arm ab. Ich sah den goldenden Panzerhandschuh des Mannes fest auf ihrer Schulter liegen, sie auf den Hals des Einhorns niederdrücken.

„Lasst das doch”, bettelte ich. Mir wurde heiß und kalt dabei, zu sehen wie sie miteinander kämpften. „Bitte, hört auf damit!”

Aber die Männer hörten mich nicht, so vertieft waren sie in ihr Gefecht, so sehr mussten sie achtgeben, einander zuzusetzen, ohne das Kind zu treffen. Meine Gedanken rasten vor Panik. Alles, was ich sah war meine Tochter, um die herum Flügel und Hufe und Schwertklingen schlugen. Ich war entsetzt und wütend, auf beide Männer. Wie konnte yarl Moréaval es nur wagen, mein Kind so in Gefahr zu bringen?

Nein. Nein, ich musste mich besinnen. Ich tat ihm Unrecht. Es war ganz offensichtlich, was der unkundige Ritter bezweckte. Wenn es ihm nur gelang, dem Magier lang genug zu beschäftigen, vielleicht sogar einen Streich gegen dessen Arm zu führen, würde der Goldene Dýamirée früher oder später nicht mehr so fest halten und sie ihm vielleicht entschlüpfen können. Im Augenblick kämpfte der Regenbogenritter einarmig. Wie lange konnte er das wohl durchhalten?

„Ihr wisst wohl nicht, mit wem Ihr es zu tun habt!”, fauchte Cýelú Irísolor. „Hört auf, Euch zu gebärden wie eine Schmeißfliege!”

„Nicht, bevor Ihr von dem Kind ablasst!”

„Ich habe genug von Euch!” Der Regenbogenritter lenkte sein Einhorn ein, zwei Schritte rückwärts. Das Tier stieg auf die Hinterbeine, spreizte die Schwingen aus und stieß sein Horn in Richtung des Ritterpferdes, aber daran vorbei. Einen Moment hoffte und befürchtete ich zugleich, dass Dýamirée dabei ins Rutschen käme, dann wurde mit klar, dass sie dann nicht mehr zwischen Schwerthieben, sondern den Hufen der schweren Tiere aufkäme. Das wäre nicht minder lebensgefährlich.

Dann begriff ich, dass das Einhorn gar nicht nach Moréaval treten wollte. Es wollte über ihn hinwegspringen. Es wolle aufflattern, wie ein Vogel.

Der Ritter schien das im selben Moment auch begriffen zu haben. Er lenkte den Hieb, den er gerade noch gegen die Schulter seines Gegners geführt hatte um und traf glatt den Einhornflügel. Zwei, drei schimmernde Schwungfedern, die Moréavals Schwert gekappt hatte, segelten zu Boden.

Das Einhorn schien das weder zu bemerken, noch hielt es es auf. Das Tier stob an Moréaval vorbei und galoppierte davon.

Der yarl gab seinem Ross die Sporen und setzte ihm nach. Hinter der unsichtbaren Gegenwindmauer sah ich entsetzt, wie sie das Seeufer entlang galoppierten, aber das Einhorn kam nicht weit. Moréavals Ross gelang es irgendwie, es zu überholen und ihm vor die Hufe zu springen. Das Einhorn kam auf dem weichen Boden ins Straucheln, als es versuchte, dem Pferd auszuweichen. Und endlich lockerte der Regenbogenritter seinen Griff, als er seinerseits reflexartig an den Sattel griff, um nicht zu stürzen.

Dýamirée schüttelte sich, tauchte unter dem Arm des Magiers weg und rutschte aus dem Sattel, kam unsanft im Gras auf. Für einen Lidschlag saß sie konfus am Boden. Das Einhorn blieb auf der Stelle stehen, stoppte so heftig, dass seine Klauen sich bis zu dem duftigen Fell seiner Fesseln in die schwarze Erde gruben.

„Lauf, Kleines!”, rief Moreaval. „Ich halte ihn auf!”

Sie kam auf die Füße, stolperte und begriff. Flink wie ein Hase und wahrscheinlich ohne zu begreifen, wie gefährlich das war, schlüpfte sie unter dem Bauch des Einhorns hindurch und rannte vom Ufer weg, auf die Böschung zu, wollte sicherlich in den Wald, zwischen die dichten Bäume, wohin ein Einhorn nicht folgen konnte.

„Dýamirée!” Ich wollte ihr nach und begann zu rennen. Tatsächlich, im selben Moment, in dem ich mich in ihre Richtung und damit vom Einhorn und seinem Reiter abwandte, konnte ich mich auch wieder vom Fleck bewegen. Ich dachte nicht darüber nach, warf mich voran und eilte grob in die Richtung, auf die mein Kind zusteuerte, fort von dem Goldgerüsteten.

In die Richtung, wo die weißen Blumen auf Arámaús Grab wuchsen und im Dunklen leuchteten wie ein Signal.

Ein paar Herzschläge lang hörte ich Metall auf Metall. Moréaval und Irísolor brüllten einander an, der unkundige Ritter versuchte verbissen, Dýamirée einen Vorsprung zu erkämpfen. Aus den Augenwinkeln sah ich, während ich schräg auf die Böschung zustürmte, wie die beiden einander unvermindert attackierten. Dýamirée hastete vorwärts, war zwar schnell, aber ihre Beine waren die eines Kindes, ihre Schritte zu kurz. Moréaval besann sich, tat eine Finte in Irísolors Richtung, riss sein Ross herum und preschte los, hinter Dýamirée her. Dabei warf er sein Schwert und seinen Schild beiseite, als sei es ihm nicht mehr von Nutzen.

Mir stockte der Verstand. Was tat er da! Im vollen Galopp neigte er sich in halsbrecherischer Weise seitlich im Sattel hinab, sein Ross jagte nun hinter dem Kind her, das da um sein Leben rannte, auf die weißen Blumen am Hang zu.

Bei den Mächten! Wenn es ihm nur gelänge! Wenn ihm dieses Manöver glückte, dann wäre Dýamirée in Sicherheit!

Dýamirée stutzte, als das Pferd von hinten an sie herannahte und quietschte erschrocken, als der Ritter sie packte und vom Boden hochriss, sie bäuchlings über seinen Sattel warf. Es gelang, aber es kostete ihn genau die zwei Herzschläge Zeit, die er sich als Vorsprung erkämpft hatte.

Ich war meinerseits vielleicht noch zehn, fünfzehn Meter entfernt, als das Einhorn mit weiten Sätzen aufholte, Cýelú Irísolor stand nun in den Steigbügeln, in der einen Hand sein Schwert, die andere zum Griff bereit. Seinen rechten Flügel hielt das Einhorn eng am Körper, mit dem linken flatterte es, holte Schwung, um den gelbgrünen Ritter zu rammen und das Pferd nieder zu rempeln.

Wenige Galoppsprünge lang rannten die Tiere Seite an Seite, das Pferd zusehends erschöpft. Im selben Moment wandte der Regenbogenritter sich dem unkundigen Kämpfer zu, nur eine Armlänge von ihm entfernt. Die goldene Klinge hieb voran, über Dýamirée hinweg und durchtrennte Jóndere Moréavals zivile Brünne aus zierlichen Stahlringen zwischen Hals und Schulter, als sei sie ein Tuch aus Seide, und das Fleisch darunter gleich mit. Schlagartig verlor der yarl alle Kraft in dem Arm, der das Kind hielt.

Ich sah Blut wegspritzen, auf das bunte Waffenkleid, auf das schimmernde Fell des Einhorns, auf Dýamirées Wange. Cýelú Irísolor pflückte sie aus Moréavals Sattel, noch bevor dessen Pferd weichen konnte und der Körper der Ritters im Sattel den aufrechten Halt verlor, erschlaffte und abrutschte. Grob zog der Regenbogenritter Dýamirée zu sich, wendete sein Einhorn und preschte wieder los, nun in gestrecktem Galopp auf den See zu.

Moréavals Pferd jedoch jagte noch ein Stück weiter geradeaus und schleifte dabei seinen Herrn mit sich, denn einer seiner Füße hing noch im Steigbügel fest. Dann kam er frei, und der yarl blieb, böse getroffen, ganz in der Nähe der Nachtblumen liegen, während sein Pferd in den Wald floh.

Ich rannte, hinter dem Einhorn her, hinter dem Regenbogenritter und meiner schreienden und wimmernden Tochter. Der See! Eine weite, baumfreie Fläche, ideal, um darüber in die Luft aufzusteigen.

„Mama! Mama!”, kreischte Dýamirée. „Hilf mir! HILF mir!”

Schon platschten die Einhornklauen ins seichte Wasser. der Regenbogenritter starrte geradeaus, ohne mich zu beachten, die ich keuchend und mit Seitenstechen hinter ihm her hetzte. Offenbar hatte er den Bann, was immer es gewesen sein mochte, jetzt gelöst. Er brauchte ihn nicht mehr.

„Bleibt hier!”, schrie ich ihn an. „Verdammt nochmal! Bleibt hier! Gebt mir mein Kind zurück, Dreckskerl!”

„Mama!”

Das Einhorn breitete ruckartig seine Schwingen aus und schlug damit, kräftig, überraschend langsam, aber mit gewaltiger Kraft. Seine Klauen berührten nur noch mit den Spitzen die Wasseroberfläche.

Sie würden fortfliegen! Er würde Dýamirée mit sich nehmen, und ich würde ihm nicht folgen können! Sie wäre fort!

Meine Tochter, mein Kind, es wäre fort!

Ich dachte nicht nach. In diesem Moment war da kein Verstand mehr, keine Vernunft. Nur noch Instinkt. Ich stolperte in den See hinein, und meine jämmerliche maghiscal wurde heiß, entsetzlich heiß. Ich taumelte hinter ihm her und hob dabei meinen Arm. Ich hatte etwas in der Hand, etwas schweres, etwas hartes, etwas, das nicht verfehlen konnte. Ich schleuderte es ihm hinterher.

„YAL!”

Ganz kurz zuckte Licht um mich herum auf, wie Blitz, ein einzelner silbriger Blitz und die Hitze wurde für einen winzigen Moment eiskalt, es fühlte sich an, als risse etwas von mir ab und würde fortgesogen. Dann war es vorbei und mein Körper wurde unsagbar schwer. Ein entsetzliches Schwindelgefühl überkam mich, und mir wurde schwallartig übel. Mir knickten die Beine weg, als seien alle Knochen daraus verschwunden, und ich fand mich bis zur Hüfte im kühlen Wasser kniend wieder.

„Mama!”

Weit weg, außerhalb meiner Reichweite und für immer fort, sah ich den Schatten des Einhorns vor dem Mond immer kleiner werden, sich immer weiter entfernen, hörte Dýamirées Angstgeschrei immer leiser und dünner werden.

Das Spiegelbild von Noktámas Juwel im See zitterte, verzerrt von winzigen Wellen, die die Einhornhufe aufgestört hatten.

Nun war ich ganz allein.