
Der sinor Saháalír schaute zu, wie die beiden Knechte von Úldaise den kleinen, zweirädrigen Karren entluden, den ein braves geschecktes Eselchen aus der Unterstadt bis hierher, zum Ratspalast des konsej gezogen hatte. Es war noch so früh am Morgen, dass man angenehm auf dem Vorplatz im Freien sitzen konnte, behaglich unter den Arkaden, die das Gebäude umringten. Es schienen keine allzu schweren Dinge zu sein, die da in ein paar Kisten und Körbe verpackt waren. Aber es war wohl wichtig genug, dass jüngere sinor selbst Hand anlegte.
„Ich danke Euch, dass ich diese privaten Dinge eine Weile hier unterstellen darf”, sagte der Alte. „Es soll nicht für lange sein.”
„Aber das ist doch ganz selbstverständlich. Hoffen wir, dass Euer Gastgeber schnell Herr der Mäuseplage in seinem Haus wird.”
„Mögen die Mächte wissen, wie das zugegangen ist. Das Geziefer muss einen Weg gefunden haben, sich unter den Augen der Katzen zu vermehren wie … wie Mäuse es eben tun. Nun, die Mächte haben auch die kleinen Tierchen ins Weltenspiel gesetzt, den Katzen und Jagdgetier zur Nahrung, den Menschen zur Last. Aber es wäre überaus ärgerlich, würden die Langschwänze ihren Hunger an meinen kostbaren Büchern stillen. Ich habe viel Geld dafür gelassen, um diese alten Schriften zusammenzutragen.”
„Oh ja. Alte Bücher sind etwas Wunderbares. Damals, als ich ein junger Bursche war, da konnte ich nicht genug davon bekommen. Mein mestar pflegte zu scherzen, dass ich in einer Bibliothek glücklicher zu wohnen käme als in einem Palast. Was sammelt Ihr, Úldaise? Erbauliches oder Gelehrtes?”
„Wahrheiten”, versetzte Úldaise. „Die großen Gedanken und Erkenntnisse der klügsten Damen und Herren, die je zwischen Aurópéa und Virhavét niedergeschrieben wurden.”
Saháalír schüttelte belustigt den Kopf. „Ihr redet wie ein übersprudelnder Quell, Úldaise. So kenne ich Euch gar nicht. Ist es die Freude, die Eure Schätze Euch bereiten?”
Der jüngere sinor stellte den Deckelkorb ab, den er gerade in der Hand trug. Es klackerte leise darin, kleine Steine vielleicht, oder dickwandige Glasgefäße. „Wo Ihr gerade Schätze erwähnt … habt Ihr noch keine Neuigkeit von dem dreisten Dieb, der Eure erlesenen Figuren raubte?”
„Nein.” Über Saháalírs Gesicht senkte sich ein betrübter Schatten. „Es ist ein Jammer.”
„Sicherlich wird der schäbige Dieb bald gefasst, der sich Zugang zu Eurem Haus erschlichen hat.”
„Ich kann es kaum fassen, wie sehr ich mich in diesem jungen Mann getäuscht habe. Er machte einen so bescheidenen und redlichen Eindruck. Und seine Geschichte … Úldaise, ich sage Euch, als ich ihm zuhörte, ich fühlte mich jung und glücklich.”
„Eure wertvollen Erinnerungen waren es wohl, die Euch ergriffen.”
„Nein, so war es nicht. Es …” Saháalír suchte nach Worten. Dann klopfte er mit der gichtkrummen Hand auf die Armlehne seines Tragstuhls und deutete dann auf seine eingetrübten Augen. „Für den Moment war all das hier fort, all die Last und Beschwerden. Ich habe es am Leib gespürt.”
„So?”
„Ja, ebenso. Und mein Geist war… nun, so wie damals, als das Weltenspiel mir noch offen stand. So als … als wäre ich in eine Zeit zurückversetzt, in der ich alles noch einmal neu hätte tun können. Eine Stelle in meiner Vergangenheit, in der ein Schritt in die andere Richtung alles geändert, so viel besser gemacht hätte …”
„Seid Ihr denn unzufrieden mit dem, was Ihr nun habt?”, fragte Úldaise, ohne seine Gehilfen aus den Augen zu lassen. Die beiden trugen das kleinteilig verpackte Zeug sorgsam durch eine Seitentür in den Palast und dort, so wie ihnen befohlen war, treppab in den Brunnenraum. Saháalír hatte sich über die seltsame Anfrage gewundert, sich aber davon überzeugen lassen, dass Luftfeuchtigkeit und Temperatur in dem luftigen Kellerraum geradezu ideal waren, um empfindliche alte Pergamente und Papiere aufzubewahren.
„Manchmal. Viel zu oft. Aber nun ist es wohl zu spät, noch etwas zu ändern.”
„Um auf die gestohlenen Figuren zurückzukommen”, wechselte Úldaise das Thema, „ich habe meine Kontakte darauf angesprochen. Ich habe ausgezeichnete Beziehungen zu vendyray, die Kostbarkeiten feilbieten. Sobald jemand versucht, unten in der Stadt auch nur eine eurer Figuren zu verkaufen, werde ich davon erfahren. Wenn es dem Lump nicht irgendwie gelungen ist, die Stadt zu verlassen, werden wir bald seiner habhaft werden. Und dann rettet ihn nichts mehr.”
„Ich wäre Euch sehr verbunden, wenn ich noch einmal mit ihm reden könnte, bevor man ihn in die Wüste bringt.”
„Warum?”
Saháalír zuckte die Achseln. „Ich glaube, ich will die Geschichte hören, warum er das getan hat. Ich mag nicht glauben, dass er es aus Gier gehandelt hat.” Der sinor klatschte in die Hände und rief damit seine Diener heran, die in höflichem Abstand zu den beiden alten Männern im Schatten gesessen hatten. „Beeilt Euch mit Eurem Kram, Úldaise, und kommt dann sogleich in den Ratssaal. Es sind heute viele Dinge zu bereden. In der Stadt scheint es ein Problem mit den Preisen für Brot zu geben. Offenbar können die Bäcker sich wieder einmal nicht auf ein Maß und Gewicht einigen.”
„Ich bin sogleich da”, sagte Úldaise, packte seinen Korb und schritt dann. so schnell er konnte, hinter seinen Knechten her, von denen der eine soeben den letzten Kasten mit Büchern transportierte. Saháalír ließ sich von seinen Helfern mitsamt seinem Stuhl forttragen.
Im Brunnenzimmer hatten die beiden grobschlächtigen Kerle die Kästen und Körbe ordentlich in einer Ecke aufgestapelt. Úldaise stellte seinen Korb dazu, besann sich dann und schichtete einen Stapel Pergamentrollen darauf. Sollte nun doch ein Neugieriger zufällig den Raum betreten, musste er seine Nase nicht sofort in die Sachen stecken und sich über die wertvollen Kristallfiguren aus Ivaál wundern.
Dann wandte er sich nachdenklich dem abgedeckten Brunnen zu. Der Deckel bestand aus halbkreisförmigen Holzplatten, zwischen denen das Seil straff festklemmte.
„Sollen wir schauen, wie es ihm geht?”, fragte der erste Knecht.
„Eigentlich habe ich keine Zeit dafür”, antwortete der sinor. „Die Alten warten auf mich.”
„’ glaub nicht, dass der’s noch macht”, meinte der andere. „Is’ ganz schön tief da runter.”
Úldaise zögerte. Neugierig war er schon. Und was machte es … wenn der báchorkor wirklich nur eine sterbliche Kuriosität war, die die Mächte ins Weltenspiel gebracht hatten, konnten die beiden Knechte die Gelegenheit gleich nutzen, den Leichnam mit dem geliehenen Eselskarren wieder aus der Oberstadt zu entfernen und irgendwo loszuwerden. Wenn der junge Mann jedoch wirklich das war, was Úldaise befürchtete … nun, dann würden Sie ihn eben noch einmal ins Seil fallen lassen. Dann war immer noch genug Zeit, sich am Abend, sobald der konsej sich in die Villen verteilt hatte und der Palast menschenleer war, ausgiebig mit diesem kuriosen Geschichtenerzähler zu beschäftigen.
„Schaut nach”, gebot der Alte und arrangierte noch ein paar Schriftrollen anders auf dem Korb. „Aber macht schnell.”
Die beiden waren ein eingespieltes Team. Der eine hob eine Hälfte der Abdeckung von der Ummauerung, der andere griff nach dem Seil und zog daran. Doch an seinem blöden Gesicht erkannte Úldaise gleich, dass etwas nicht stimmte.
„Herr …”
Der sinor warf das Papier beiseite. „Was ist?”
„’glaub … der is’ weg!”
„Weg? Was heißt weg?”
„Da hängt nichts dran!”
„Vielleicht sind ihm im Fall die Hände abgerissen und jetzt liegt er unten”, mutmaßte der andere. „Ich hab mal von ‘nem fyntar gehört, der hat absichtlich …”
„Zieh das Seil rauf!”
Das dauerte nur wenige Herzschläge lang. Dann baumelte ein goldenes Metallobjekt unter der Umlenkrolle über dem Abgrund. Der zweite Knecht fing es ein und Úldaise griff ungeduldig danach.
Kein Zweifel. Die Handfesseln waren weiterhin geschlossen, es war nichts geborsten oder verzogen. Úldaise steckte eine seiner Hände hindurch. Die Schelle konnte er fast bis zu seinem Ellbogen hinaufschieben.
„Ihr spielt wirklich gern mit Gold, nicht wahr?”, knurrte der sinor verärgert.
„Was?”, fragte sein Diener.
Úldaise drückte ihm die Fesseln ärgerlich in die Hand. „Da! Macht das ab und werdet es irgendwie los. Man erwartet mich in der Ratssitzung. Bis dahin …” Er dachte kurz nach und überlegte, wie viel Zeit ihm wohl blieb.
„Nach dem fünften Gongschlag ab jetzt treffen wir uns am Südtor. Heute Abend gehen wir auf die Jagd.”
***
Osse hatte aus der kurzen Unterhaltung mit Tíjnje Moreaval eine ganze Menge an Informationen gewonnen: Die teirandanja wohnte freiwillig abseits der elterlichen Gemächer, pflegte einen beunruhigend lockeren Umgang mit ihren engsten Dienstleuten und die Gastgemächer befanden sich auf dem Geschoss, in dem er sich gerade bewegte. Es war unwahrscheinlich, dass man Waýreth Althopian und seinen Sohn in einem anderen Teil des Gebäudes untergebracht hatte, also musste er nur hier von Tür zu Tür gehen und sein Glück versuchen. Das war leichter als erwartet, aber ebenso enttäuschend: Die Türen der meisten, nicht bewohnten Gastgemächer standen ohnehin offen. So konnte er sich mit einem Blick davon überzeugen, dass niemand darin anwesend war, ohne sie zu betreten. Allerdings lag in einem Raum etwas Gepäck verteilt. Osse schaute sich nach beiden Seiten um, vergewisserte sich, dass niemand ihn sah und trat einen halben Schritt ins Zimmer hinein, um besser zu sehen, was da auf dem Tisch lag. Es verwunderte ihn kaum, dass es sich um ein paar gepanzerte Handschuhe und Schulterteile handelte. Also wollt yarl Althopian offenbar auch ohne Eisenzeug vor seinen Herrn treten. Osse beschloss, daheim den mestar danach zu fragen, wie dieses Bußeritual entstanden war und hatte Mitleid mit beiden, seinem Vater und dem freundlichen yarl aus dem Hochland südlich von Emberbey.
Den anderen Jungen fand er allerdings nicht vor.
Osse wollte nicht neugieriger sein als nötig und zog sich wieder auf den Flur zurück. Auf dem Korridor, der über Eck mit dem lag, aus dem er gekommen war, war weiter nichts zu finden, nur eine weitere, deutlich größere Tür, auf die der nur wenige Schritte lange Gang zulief. Sie unterschied sich von denen zu den kleinen Gästekammern, war aus einem edlen, hellen Holz gefertigt und mit einem geschnitzten Wappen verziert. Osse trat einen Schritt heran und erkannte dann, dass es das Wappen der teiranday von Spagor war, ein Schiffchen, das auf einer riesigen Welle ritt, Pataghíus goldener Schild mit seinem Strahlenkranz im Hintergrund.
Und dann hörte er die Stimme des Vaters. Hinter sich.
„Majestät”, sagte Alsgör Emberbey, „um noch einmal auf das Verhalten meines Sohnes zu sprechen zu kommen …”
„Haltet Euch zurück, Herr Alsgör. Der meine war es, der sich gestern hier unmöglich gemacht hat.”
Das war Waýreth Althopian. Was wollten die Herren hier oben? Sollten sie nicht unten, im offiziellen Audienzraum sein?
Osse wurde heiß und kalt zugleich. Noch waren die Männer auf dem anderen Korridor, aber es war eine Frage von Atemzügen, bis sie um die Ecke bögen. Wenn der Vater ihn nun hier erwischte, dann …
„Emberbey! Althopian! Nun ist es aber genug!” Der teirand klang ungeduldig. „Wollt Ihr Euch jetzt etwa übertrumpfen, welcher Sohn das größere Bubenstück vollbracht hat? Deshalb habe ich Euch nicht gerufen! – Tíjnje? Was sitzt denn du hier am Boden?
Die Schritte verharrten. Offenbar war der teirand stehen geblieben, Die Herren durften ihn nicht überholen, das wäre gegen die Gebräuche.
„Manjév schläft noch”, hörte er die Kleine vorwurfsvoll. „Dabei wollten wir noch so schön spielen, bevor die opayra kommt …”
Jemand klopfte an Holz, vermutlich der teirand an die Tür der Tochter. „Manjév?”
Osses Herz schlug schneller. Er dankte den Mächten für das kleine Kind und die verschlafene teirandanja, zog die große Tür einen Spalt weit auf, drückte sich hindurch und fand sich in einem Amtszimmer wieder. Hier gab es keine Wohnmöbel, nur Stellagen mit Büchern und Papieren, ein Stehpult und einen großen Tisch mit vornehmen Sesseln aus kunstvollem Drechselwerk. Ein großes Tuch war über den Tisch gelegt, zartes, cremefarbenes Linnen, größer als ein Bettlaken, auf das fleißige Damenhände die Wappen von Wijdlant, Spagor und den fünf yarlmalón aufgestickt hatten, umgeben von Ornamenten, Blumenranken und Wellenlinien. Vermutlich hatte mehr als eine Dame sich damit einige Monde lang die Zeit vertrieben. Auch die Mutter hatte sich damit oft die Zeit vertrieben und ihm und Truda Geschichten erzählt, während die Nadel in ihren Fingern Muster und Bilder auf den Stoff heftete.
Auf einem der Sessel hatte eine schwarze Katze geschlafen und hob nun aufmerksam den Kopf. Osse achtete nicht darauf, denn nun saß er tatsächlich in der Falle. Wenn das hier ein Raum war, der Asgaý von Spagor für seine Amtsgeschäfte gewidmet war, dann wollte der teirand mit den beiden Dienstmännern hierher. Es gab keinen zweiten Ausgang. Sogar das Fenster war geschlossen und verglast. Die Morgensonne warf ihre hellen Strahlen hinein und erhellte das Zimmer und das Schreibpult, das sicherlich aufgrund der guten Lichtverhältnisse gerade hier aufgestellt war.
Der Junge tat einen tiefen Atemzug. Nie hätte er gedacht, dass es so katastrophale Folgen haben würde, einfach nur gegen den Willen des Vaters das Zimmer zu verlassen. Die einzige Möglichkeit, die ihm jetzt noch blieb, war kindisch, unwürdig und naheliegend. Osse Emberbey befahl sich den Mächten, schlüpfte unter dem Tischlaken hindurch und bemerkte voller Entsetzen, dass dieses Versteck bereits besetzt war.
***
Cýelú lenkte das Einhorn in dem lieblichen Flusstal nieder, auf einem Streifen Wiese zwischen Wasser und einem Wäldchen. Friedlich war es hier, das Wasser rauschte vorbei und die Vögel veranstalteten ihr Morgenkonzert. Als das Einhorn landete, stoben einige flinke Windninchen nach allen Seiten auseinander, verbargen sich im Gesträuch und spähten mit aufmerksam gespitzten Löffeln hervor.
Der unplanmäßige Halt passte dem Regenbogenritter nicht in seinen Plan, aber in dem Moment, in dem er die Kleine aus dem Wald gerettet hatte, hatte er auch die Verantwortung für sie übernommen. Er wollte sich nicht nachsagen lassen, er habe nicht auf ihre Bedürfnisse Rücksicht genommen.
„Ich kann das aber ganz allein”, verkündete Dýamirée energisch.
„Davon gehe ich aus. Du bist schließlich kein Wiegenkind mehr.”
„Nein. Ich brauche gar keine Hilfe.”
„Nun geh schon. Aber lauf nicht zu weit weg!”
Dýamirée marschierte in Richtung der Büsche, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Cýelú ignorierte das und führte Perlenglanz am Zügel zum Wasser. Es war vielleicht gar nicht so verkehrt, wenn das Tier sich hier noch einmal erfrischen konnte. Bei dieser Gelegenheit konnte er auch gleich untersuchen, warum das Einhorn so seltsam in der Luft lag. Als er die vom Schwert des unkundigen Ritters gestutzten Handfedern entdeckte, ärgerte der Magier sich, aber er war darauf vorbereitet. Arcaval’ay führten immer eine Auswahl von frischen Federn mit sich, um geknickte oder beschädigte Schwingenfedern zu schiften. Cýelú hatte Übung darin und hatte schnell in seiner Ausrüstung passende Stücke gefunden. Perlenglanz ließ es geduldig zu, dass er die Ersatzfedern einkürzte, auf die Überreste der Kiele steckte und dort festzauberte, während er sich an der saftigen Wiese gütlich tat.
So war Cýelú eine Weile mit der Versorgung seines Reittieres abgelenkt, aber es dauerte nicht allzu lange, dass ihm das Fernbleiben des Kindes verdächtig vorkam. Nun, er konnte ihr nicht verdenken, dass sie es zumindest versuchte. Sie war wahrscheinlich so verwirrt, das sie nicht begriff, dass sie bei ihm in Sicherheit war.
Aber die Reparatur der Einhornschwinge war wichtiger. Cýelú ließ sich Zeit damit, und am Ende hatte das Einhorn wieder ein einwandfreies Gefieder, wenn auch nun mit einigen Federn in falschen Farben.
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