
Dýamirée hatte sich tatsächlich im Gebüsch erleichtert und dabei fieberhaft ihre Lage überdacht. Ihre Gedanken irrten nach wie vor hin und her, aber die Panik, die dafür gesorgt hatte, dass sie gar nicht erst hatte denken können, die war vorbei. Wenn es ihr jetzt noch gelang, die Gedanken zusammenzurufen und wie eine gehorsame Schafherde in die selbe Richtung zu schicken, dann hatte sie vielleicht eine Chance.
„Ich will nicht in seine hässliche Burg und seinen dummen Sohn treffen”, vertraute sie einem Windninchen an, das ihr in ihrem Versteck Gesellschaft leistete. „Ich will nach Hause. Der Mann versteht mich einfach nicht!”
Aber wo war zu Hause? Sie waren eine lange Zeit über den Himmel geritten, und das bedeutete, dass sie sich bereits weit, weit vom Boscargén entfernt hatten. Ihr Vater hatte ihr einmal erzählt, dass es immer die beste Idee sei, sich in einen Vogel zu verwandeln, wenn man es eilig hatte und nicht in den Schatten wandern wollte oder konnte. Das war zu einer Zeit gewesen, in der Dýamirée selbst noch gehofft hatte, sich eines Tages wirklich einmal entscheiden zu müssen, was die bequemere Wahl war – Flügel zu haben oder mit der Dunkelheit zu verschmelzen.
Nun, zu Fuß würde es vielleicht etwas länger dauern. Aber es war zu schaffen. Alles, was sie zu tun hatte war, eine Straße zu finden und tags Pataghíus Glanz nachzulaufen und nachts Noktáma zu folgen. Die beiden jagten einander immer hinterher und immer nach Norden, entgegen der Richtung, in der das Wasser floss. Das war seit jeher so gewesen, darauf konnte sie sich verlassen.
Wie das möglich sein, hatte Dýamirée verwirrt gefragt. Ob Pataghíu und Noktáma nicht auch einmal umkehren müssten. Wie brachten sie es fertig, immer aus der gleichen Richtung zu kommen?
Sicher wäre die Welt wie ein Ball, hatte die Mutter daraufhin überlegt. Eine Kugel, die die beiden immer umrundeten. Was für eine wunderliche Idee! Und als sie beide den Vater gefragt hatten, ob das möglich sei, hatte der nur gemeint, das könne niemand wissen, solange es unmöglich sei, das Chaos zu durchschreiten.
Wenn sie zu weit geradeaus lief, ob sie dann zum Chaos gelangte?
Dýamirée bog die Zweige des Busches ein Stück beiseite und schaute zu dem Regenbogenritter hinüber. Der stand neben seinem Tier, steckte bunte Federn in dessen Flügel und wirkte so harmlos. Das Kind wusste nicht recht, was es davon halten sollte: Er hatte sie gegen ihren Willen mit sich genommen, hatte den freundlichen tapferen Ritter erschlagen. Das war nicht den Mächten gefällig. Menschen sollten sich respektieren und einander nicht umbringen, das wusste Dýamirée, ohne dass sie die Worte gehabt hätte, das zu formulieren. Aber andererseits … er fühlte sich nicht wirklich schlecht und gefährlich an. Niemals wäre sie freiwillig zu einem Fremden gegangen, der sich … falsch anfühlte.
Aber sie würde jetzt auch nicht zu ihm zurückgehen. Darauf konnte er lange warten!
Sie zog sich leise wieder zurück, kroch rückwärts zur anderen Seite aus dem Busch heraus und schaute sich um. Die Wiese, geschmückt mit schönen bunten Blumen, wie sie im Boscargén nicht wuchsen, erstreckte sich bis hin zum Rand eines Waldes. Kein besonderer Wald, einfache Bäume eben, ohne die stille, mystische Atmosphäre, die Dýamirée aus dem Boscargén mit seinen Baumriesen kannte. Natürlich hatte sie, als sie darauf zugeflogen waren, gesehen dass es sich um einen nur kleinen Wald handelte, vielleicht sogar um einen, den der örtliche yarl nur zu seinem Jagdvergnügen verwildern ließ. Aber es war besser als nichts. Mit Wäldern kannte das Mädchen sich aus. Zwischen den Bäumen wäre Dýamirée sicherer als hier, denn die kräftigen Stämme würden das Einhorn daran hindern, ihr im Flug zu folgen. Aus der Luft wäre sie nicht zu sehen, so wie die kleinen Tiere, die unter den Blättern für die Greifvögel unsichtbar wurden, Wenn sie sich davon schlich und im Unterholz verbarg? Natürlich, der Regenbogenritter würde bald bemerken, dass sie fortgelaufen war und würde sie suchen. Aber wenn sie mäuschenstill war … vielleicht würde es ihm dann irgendwann langweilig. Sicherlich konnte er nicht tagelang seine wichtige Reise unterbrechen. Vielleicht reichte es ihm auch, wenn sie einfach nicht mehr im Boscargén war. Es konnte ihm doch egal sein, ob sie hier im Nirgendwo in einem neuen Wald saß oder mit ihm zu der langweiligen Wüste flog, wo es nicht einmal einen großen See gab.
Während sie das noch dachte, war sie bereits auf dem Weg zum Waldrand. Auf allen vieren krabbelte sie, durch hohe Stauden und sich wiegende Gräser. Wie ein Tier schlich sie fort, wagte nicht, sich aufzurichten, denn dann würde er sie sofort sehen. Die von summenden Bienen, schillernden Käfern und zarten Schmetterlingen umschwärmten Pflanzen, hoch genug um ein Kind zu überragen gaben ihr vielleicht Deckung genug.
Dýamirée nagte an ihrer Unterlippe und glitt zwischen den Gewächsen hindurch wie eine Katze. Es würde sicher nicht möglich sein, ganz bis zum Wald zu gelangen, aber solange Gras und Blumen hoch genug waren … das letzte Stück des Weges musste sie dann eben rennen. Das konnte sie gut. Wie oft war sie im ausgelassenen Spiel daheim Vater und Mutter davon gestoben! Und wenn sie erst einmal im Wald war, dann …
Mit wildem Gezeter flatterte ein großer Vogel direkt vor ihr auf. Die erdfarbene Henne eines Feldfasans hatte starr und unbeweglich auf ihrem Nest im Gras gesessen, ganz unbemerkt, und war erst im allerletzten Moment geflohen. Dýamirée erstarrte und blickte dem Vogel erschrocken nach, der mit empörten Krächzen über ihr und seinem Gelege zu kreisen begann. Das konnte der Regenbogenritter nicht überhört haben. Fünf braunweiß marmorierte Eier lagen in dem kunstvollen Geflecht aus Binsen und Ästchen.
Das Kind kauerte sich zusammen und erwartete, jeden Moment seine Schritte im Gras, das Klingen seines sonderbar gefärbten Eisenzeugs zu hören. Aber es blieb still. Die Sonne lag warm auf Dýamirées Haut und auf dem schwarzen Kleidchen, das sie trug. Sogar die Henne beruhigte sich, landete wieder und starrte aus sicherer Entfernung mit schief gelegtem Kopf und stechenden Augen entrüstet zu ihr hinüber. Zum Näherkommen konnte der Vogel sich noch nicht entschließen.
Dýamirée seufzte. Das dunkle Kleid in der bunten Wiese, das war auch nicht zu übersehen. Ein Wunder, dass er sie nicht schon längst wieder eingefangen hatte.
Sie robbte weiter, mit respektvollem Abstand um das Vogelnest herum. Dass der Ritter ihr nicht längst nachgegangen war, war sonderbar und in einer gewissen Weise beunruhigend. Er rief nicht einmal nach ihr.
Dýamirée bewegte sich wieder auf den Waldrand zu. Das war anstrengend, aber die Hoffnung darauf, sich dem Schutz der Bäume anvertrauen zu können, beflügelte sie. Bäume waren gut, waren heilig, auch wenn es nur gewöhnliche Pflanzen waren. Jede Wurzel, so lehrte es der Vater, war mit der nächsten verbunden, wie die Glieder eines Körpers. Wenn sie den Wald erreichte, dann war sie auch – irgendwie – wieder mit dem Boscargén verbunden.
Was tat dort wohl derweil die Mutter? Ob Salghiára Lagoscyre die Tochter vermisste? Ob es ihr gelungen war, den Vater zu erreichen, ihm zu erzählen, was geschehen war?
Der Gedanke an Vater und Mutter spornte das Kind an. Ja, natürlich. Die Mutter würde alles Erdenkliche tun, um sie wiederzufinden. Der Vater hatte versprochen, zu besiegen, was den Frieden des Boscargén störte. Es hatte sich nur eben dumm gefügt, dass der Goldene zur Unzeit aufgetaucht war, dass der Vater nicht dagewesen war, um sie zu verteidigen.
Hätte der Goldene dem Vater weh getan wie dem armen Ritter, auf den nun die gute hýardora und das kleine Mädchen warteten? Niemals wurden schöne leuchtende Blumen im Garten der unkundigen Familie wachsen.
Niemals würde Dýamirée ihre Freundinnen, die Blumen wiedersehen, wenn es ihr jetzt nicht glückte.
Sie zögerte. Wären der Goldene und ihr Vater aufeinander getroffen und hätten gekämpft – sicher, ganz ohne jeden Zweifel, der Schattensänger hätte gesiegt. Aber wie? Um welchen Preis?
Hätte er den Regenbogenritter verletzt? Oder gar getötet?
Dýamirée verharrte verwirrt einen Moment bei diesem Gedanken, Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Vater jemandem etwas zuleide tun würde. Aber wenn er keine andere Wahl hätte …
Das Kind spannte alle Muskeln an und schnellte los, wie ein Pfeil von der Bogensehne. Jetzt musste sie rennen. Schnell rennen, hinein in den rettenden Wald. Sie hastete voran, sprang über in Büscheln stehende Pflanzen und Steine hinweg, wie ein Rehkitz, anmutig, flink und voller Furcht. Dann hatte Dýamirée den Wald erreicht. Aber sie musste tiefer hinein, weiter, schneller. Ihre Füße stoben das Laub vergangener Herbste auf, das sich am Fuß der Bäume gesammelt hatte und ein dichtes Polster bildete. Ihre Sinne waren scharf und hellwach, sie roch den Duft von Moos und Harz und spürte die wohltuende Feuchtigkeit, die der Boden hier im Schatten auch an heißen Sommertagen hielt. Der Schatten, den die Bäume warfen, war lange nicht so sicher und stark wie der daheim, aber es war vertraut. Das Kind fühlte sich zurück in seinem Element, wenn ihm auch die Umgebung hier diffuser, irgendwie verwässert erschien. Viel weniger magisch. Dýamirée hatte sich noch niemals in einem fremden Wald aufgehalten. Sicher würden diese Bäume ihr nicht die Sicherheit bieten, die sie gewohnt war., aber sie würde sich ihnen anvertrauen. Es musste nur solange vorhalten, bis dem Goldenen sein Spiel langweilig wurde und er nach Hause zurückkehrte.
Dýamirée zögerte kurz, ob sie sich im Unterholz verbergen sollte wie ein Reh am helllichten Tag, aber als sie sich umblickte, kam ihr eine bessere Idee. Ein starker, aber noch nicht allzu alter Baum erregte ihr Interesse. Seine untersten Äste waren so niedrig, dass Dýamirée sie erreichen konnte, die Rinde so rau und uneben, dass sie mit etwas Mühe daran empor klettern konnte.
Lass mich zu dir, bat Dýamirée und versuchte eben das. Versteck mich unter deinem Laub. Bitte, lieber Baum, beschütze mich, damit ich wieder heim kann!
Das Mädchen war sich nicht sicher, ob der Baum ihr geantwortet, ob sie ihn verstanden hätte, wäre sie kundig gewesen. Der Vater hätte es gekonnt. Er konnte die Stimmen der Bäume hören, sie teilten ihre Geheimnisse mit ihm. Die Mutter, so hatte er ihr erklärt, als sie neugierig gefragt hatten, habe die Fähigkeit, die Wellen und den Regen zu verstehen, nur die Sprache müsse sie noch lernen.
Was sie einmal verstehen würde, hatte sie ihn neugierig gefragt.
Er wisse es nicht. Aber wenn es an der Zeit wäre, würde sie die Stimmen hören, ganz plötzlich. Es würde wunderschön sein. Und damit ihr die Stimmen nur Schönes erzählten, müsse sie freundlich zu allem sein, was um sie lebte. Das hatte sie beherzigt. Das erste, was tatsächlich zu ihr gesprochen hatte, waren die weißen Nachtblumen am See gewesen. Aber Dýamirée hatte ihre Zweifel, ob das galt. Schon lange hatte sie den verdacht, dass die schönen weißen Blumen keine gewöhnlichen Pflanzen waren.
Schließlich entschied das Mädchen, etwa drei Mannshöhen über dem Waldboden, es sei genug. Dýamirée ließ sich in einer breiten Astgabel nieder und erlaubte sich erst jetzt, zu entspannen. Hier oben würde er sie nicht finden, wenn sie nicht zu laut war, wenn der Baum sie so sicher in den Armen hielt wie der Vater, wie die Mutter. Fast hätte das Kind aufgeschluchzt, rief sich zur Ordnung und blickte stattdessen auf, durch das grüne Blätterdach hindurch, durch das Pataghíus Glanz hindurch flirrte. Das war schön. Eine leichte Brise zog durch den Wald und versetzte das Laub in ein zartes Rauschen.
Völlig erschöpft und ausgepumpt gab Dýamirée sich einen Moment dem Frieden hin. Der Wald hatte nichts mit dem zu tun, was an Menschendingen in ihm vorging. Menschen lebten viel schneller als Bäume. Möglicherweise war sie, waren alle Unkundigen für den Wald nicht mehr als ein flüchtiges Vorbeihuschen, wie eine Maus, die sich in eine Stube verirrte, die man kaum sah. Ihr Herz, das ihr gerade noch bis zum Hals geklopft hatte, beruhigte sich langsam. Sie wagte es, zu lächeln. Sie hatte es vollbracht. Ganz alleine. Sie war ihm entkommen. Nun …
„Bist du fertig?”, fragte Cýelú Irísolor geduldig. Sie sah ihn noch nicht, denn er kam von der Rückseite des Stammes heran, umrundete diesen und schaute dann mit verschränkten Armen geduldig zu ihr hoch. „Können wir weiter?”
Sie erstarrte und sank dann mutlos in sich zusammen.
„Wie hast du das gemacht? Wie hast du mich hier so schnell gefunden?”, wollte sie matt wissen.
„Mit Magie. Du kannst nicht vor mir weglaufen und dich nicht zu weit von mir entfernen. Du musst es gar nicht erst versuchen.”
„Wie geht das?”
„Ganz einfach. Es ist so, weil ich es will.”
„Weil du es willst?”
Er legte die Hände an den knorrigen Stamm. Seine Miene erschien Dýamirée ganz und ganz unpassend. Sie hatte gerade versucht, ihn auszutricksen, vor ihm zu fliehen. Aber er schien überhaupt nicht zornig deswegen zu sein.
„Das ist die Art, wie unsere Magie funktioniert. Was tut dein Vater und … deine Mutter, um zu zaubern?”
„Papa singt”, sagte sie leise.
„Siehst du? Und wenn einer von meinesgleichen zaubern will, dann singen wir nicht. Wir … wollen einfach. So geht es bei uns. Und ich will eben nicht, dass du mir verloren gehst. Das ist viel zu gefährlich, Kleines.”
„Bekommst du immer das, was du willst?”
„Meistens. Sofern es nichts ist, was den Mächten ungefällig ist.”
Er trat einen Schritt zurück und breitete die Arme aus. „Spring, Kleines. Ich fange dich auf. Wir müssen weiter.”
„Springen? Von hier oben?”
„Vertrau mir. Vielleicht willst du es mir nicht glauben. Aber ich will, dass du mir vertraust. Ich will dir nicht Böses, bei allen Mächten, selbst bei eurer dunklen Noktáma.”
Einen Herzschlag später lag sie sicher in seinen Armen. Warum sie tatsächlich gesprungen war, konnte sie sich im Nachhinein nicht erklären. Aber sie ließ es ergeben über sich ergehen, dass er sie durch den Wald zurück auf die Wiese trug. Als sie kurz darauf wieder südwärts über die Wolken hinweg galoppierten, dachte Dýamirée so angestrengt nach, dass sie gar nicht mehr mit ihm zürnte.
Ein neuer Fluchtplan musste her. Vielleicht gelang es ihr, in dazu zu bringen, seine merkwürdige Magie in ihrem Sinne anzuwenden.
***
„Mama?”
Elosál blickte auf. Sie hatte Advon offenbar nicht kommen hören. Der Junge stand am Eingang zu Pataghíus Halle und schaute sie erwartungsvoll an.
„Was machst du hier?”, fragte sie überrascht. „Solltest du nicht im Unterricht sein?”
„Siledaú ist nicht gekommen. Ich habe auf sie gewartet.”
„Wie lange?”
Advon zuckte die Schultern. „Ich hab den Gong gehört. Dann bin ich aus dem Lernzimmer raus auf die Treppen gegangen und hab da noch einmal eine Weile gestanden. Sie ist mir nicht entgegengekommen und ich sehe sie auch nicht auf dem Hof.”
Elosál hob überrascht die Brauen. Dass die alte Frau nicht zur richtigen Zeit erschien, ohne sich entschuldigen zu lassen, war äußerst ungewöhnlich.
„Vielleicht sucht sie noch nach einem neuen Platz für ihr Zeug,” mutmaßte dass Kind.
„Oder sie hat sich gestern bei ihrem Sturz doch ernster verletzt als gedacht.” Die fajía erhob sich von ihrem kristallenen Thron und schritt anmutig auf ihren Sohn zu. „Komm, Advon. Wir wollen sie suchen.”
Der Junge seufzte. Im Stillen hatte er wohl gehofft, noch einmal um die langweiligen, unangenehmen Lektionen herumzukommen. Andererseits hatte er sich bereits gefragt, wie Siledaú ihren Unterricht wohl abgehalten hätte, nachdem ein Großteil ihrer Bücher aus dem Studierzimmer verschwunden war.
Sie gingen hinaus auf die Freitreppe und stiegen hinab auf die Brücke, die zur Westmauer führte. Unterwegs begegneten ihnen der grüne und der blaue Ritter, aber beide beteuerten, Siledaú an diesem Tag noch nicht gesehen zu haben. So standen Elosál und Advon schließlich auf der Mauerkrone und waren ratlos.
„Möglicherweise nimmt sie mir übel, dass ich darauf bestanden habe, dass sie die Bücher wegbringt.”
„Und wenn sie nicht wiederkommt?”, fragte Advon begehrlich.
„Sie kommt wieder. Und wenn nicht, dann …”
„Schau mal, Mama. Da reiten sie wieder aus der Stadt heraus.”
Sie hatte konzentriert zu dem Seitenturm hin geschaut, in dem Advons Schulzimmer lag, wandte sich nun aber um und blickte zwischen den Zinnen hindurch in die Richtung, die er ihr zeigte. Ein Zug von sechs bewaffneten Stadtwächtern in ihren golden-weißen Monturen ritt südwärts in Richtung der Wüste, drei Männer und eine Frau auf Pferden umringend.
Elosál senkte den Blick und seufzte. Advon schaute fragend auf.
„Wenn Siledaú nicht bis zum übernächsten Gongschlag auftaucht, kannst du dich entfernen, Advon. Warum machst du nicht mit einem der Herren einen kleinen Ausritt um den Cielástel?”
„Ernsthaft? Ich meine … das wäre großartig, Mama!” Er zögerte und runzelte die Stirn. „Einfach so? Ohne Papa?”
„Es ist herrliches Wetter, Advon. Nicht zu heiß und es geht ein kühler Wind vom Meer. Ich werde den Gelben oder den Roten bitten, mit dir zu gehen. Magst du hier warten? Ich schicke sie dir her, wenn …”
„Du willst, dass ich nicht da bin, wenn Siledaú aus der Stadt zurückkommt, nicht wahr?”
Sie lachte ertappt. „Ist es so offensichtlich?”
„Ja. Aber Mama, ich will nicht, dass du dich wegen mir mit Siledaú anlegst.”
„Anlegst? Advon, ich bin die Großmeisterin. Es bekäme ihr schlecht, gegen mich aufzubegehren, wenn ich etwas anders haben will als sie.”
„Aber Papa gibt ihr so oft recht.”
„Das ist etwas anderes. Advon, dein Vater will nur das Allerbeste für dich. Auch wenn er Siledaú dazu manchmal zustimmen muss.”
„Wegen der Vorhersage, nicht wahr?”
„Wenn dein Vater wieder zurückkehrt, übermorgen wird es soweit sein, denke ich, dann wird sich dieses Thema hoffentlich erledigt haben.”
Advon nickte. Er blickte nachdenklich den Reitern nach. Sie hielten auf die Hügel zu, die eine Art symbolische Grenze zwischen Aurópéa, dem Cielástel und Soldesér bildeten. Von hier oben konnte man ihren Weg noch etwas weiter verfolgen als jemand, der weiter unten auf der Stadtmauer stand.
„Wo reiten die eigentlich alle paar Tage morgens hin? Und wo lassen sie die Leute?”
„Wie bitte?”
„Na, die Unkundigen, die in die Wüste reiten. Morgens sind es immer mehr, als später zurückkehren. Und es fehlen nie welche von den Wächtern.”
„Die Unkundigen bleiben in der Wüste, Advon.”
„Warum?”
„Weil die Unkundigen sie nicht mehr in der Stadt haben wollen.”
„Warum?”
„Weil … nun, weil sie Dinge getan haben, mit denen die anderen Unkundigen nicht einverstanden sind.”
„Und wo bleiben sie?”
Elosál zögerte.
„Gibt es vielleicht eine andere Stadt, weiter in der Wüste?”, fragte Advon gespannt.
„Ich … ich weiß nicht. Aber ich werde mich danach erkundigen , Advon”, sagte Elosál schnell. „Und nun sei brav und warte hier. Einer der Herren wird kommen, um dich abzuholen. Und später … später reden wir weiter. Einverstanden?”
Er nickte, spürte er doch, dass sie das Thema gerade nicht vertiefen wollte. Dass sie nicht wissen sollte, ob es südlich von Aurópéa noch eine Stadt gebe, bezweifelte er. Sie streichelte ihm durchs Haar und ging wieder fort.
Advon schaute den Reitern hinterher, zu weit fort, um etwa Genaueres zu erkennen. Zumindest war er nun etwas schlauer als zuvor: Die Leute waren aus der Stadt verbannt und die Wächter gaben Acht darauf, dass sie sich nicht wieder zurück schlichen. Ob es in der Wüste eine Oase gab, von der er nichts wusste? Immerhin brauchten die Herausgeworfenen Wasser und die Möglichkeit, Nahrung anzubauen, wenn sie nicht aus Aurópéa versorgt wurden. Er war nicht überzeugt, dass das alles so seine Ordnung hatte.
Eine Weile später kam der gelbe Regenbogenritter auf ihn zu. und erkundigte sich, was Advon zu tun wünsche.
„Ich will zu den Einhörnern”, bat der Junge. „Ob ich wohl auf Farbenspiel reiten darf, wenn du dabei bist?”
„Ich bin mir nicht sicher, ob der Meister das erlauben würde”, gab der arcaval’ay zu bedenken.
„Ach, bitte. Du bist doch dabei. Und Farbenspiel ist brav. Der wird mich nicht abwerfen und davon fliegen”
„Das weiß ich. Aber Farbenspiel ist noch lange nicht soweit, richtig geritten zu werden, Du weißt selbst, wie dein letzter Ausflug ausgegangen ist.”
Advon errötete Natürlich war das Abenteuer, das ihm die Plage mit der Wachstafel und dem jungen Einhorn den Stallarrest eingebracht hatte, ihm noch deutlich in Erinnerung. Aber um eine Lösung war er nicht verlegen.
„Dann führst du ihn eben als Handtier mit dir und ich sitze oben drauf. Wie ein Stück Last. Ich brauche gar keinen Sattel dazu.”
Der Gelbe lachte. „Nun gut. Ich denke, das wird erlaubt sein. Und wohin willst du?”
Advon zögerte. Wenn er nun sofort darum bat, in die Wüste zu reiten, würde der Gelbe ihm sicherlich sagen, dass Elosál das nicht wünschte. Dazu war die Reaktion der fajía auf seine Frage nach den Unkundigen und ihrem Ziel zu ausweichend gewesen. Sie würde sich denken, dass er neugierig war. Da musste er geschickter vorgehen.
„Vielleicht nach Aurópéa?”
„Du weißt, dass ich die Stadt nicht betreten darf.”
„Wir müssen ja nicht durch das Tor hindurch. Einfach einmal eine Runde um die Stadtmauer herum, das wäre schon ein schöner Ausflug. Vielleicht sehen wir Leute auf der Mauer und vor den Toren.”
„Die Leute werden sich wundern.”
„Das macht nichts. Wir kommen ihnen nicht zu nahe.”
Der gelbe Regenbogenritter nickte zustimmend. Advon eilte dem hochgewachsenen Mann mit den zitronengelben Gewändern und dem goldenen Rüstzeug hinterher. Wenn ihnen nur jetzt Siledaú nicht begegnete!
Als hätte er seine Gedanken erraten (und wahrscheinlich hatte er das tatsächlich), sagte der Gelbe: „Ich weiß nicht, ob es mir zusteht, das zu äußern. Aber die Sache mit dem Murmelspiel gestern in der Halle …”
„Es war kein Spiel!”
„Ich weiß. Gut gemacht, Advon Irísolor.”
„Gut gemacht? Es hat nicht funktioniert, und dafür hat sie die Al…. hat Siledaú sich verletzt.”
„Auch wenn du nicht das gewirkt hast, was dir vorgeschwebt hat, dein Eifer ist Pataghíu sicherlich gefällig. Es ist eine Schande, dass es so entmutigend für dich ist. Ich glaube nicht, dass es zu jemandes Nutzen ist, dass die alte Unkundige dir deine Zeit stiehlt.”
Advon schaute überrascht auf. Was war denn das für eine Rede?
„Ich bin nicht der Einzige, der so denkt. Umso mehr seit dem gestrigen Vorfall.”
„Aber warum ist sie denn überhaupt hier? Wieso hat sie so viel zu sagen, wenn sie doch nur eine Unkundige ist?”
„Dazu, Junge, darf ich wirklich nichts sagen. Aber ich bin sicher, sobald dein Vater zurück ist, werden sich Dinge aufklären.”
„Das hat Mama auch gerade schon gesagt.”
„Wenn du zaubern könntest, Advon Irísolor, was würdest du mit der Macht anstellen wollen?”
Advon dachte nach, während sie die Außentreppe aus weißem Marmor und Kristall hinabstiegen. Darüber hatte er sich noch nie wirklich Gedanken gemacht. Bislang war ihm seine unmagische Natur hauptsächlich als Unzulänglichkeit erschienen, etwas, das ihn anders machte als seine Eltern und die arcaval’ay. Ein Unterschied, den er als Zurücksetzung empfand und überwinden wollte. Aber was er tatsächlich mit der Magie anfangen wollte … nun, er wollte ein Teil der Hellen Magier sein. Er wollte zu ihnen gehören.
„Ich will die Unkundigen beschützen”, sagte er. „Aufpassen, dass nichts aus dem Chaos durch die Wüste kommt. Und dass niemand den Cielástel angreift. Was ihr eben auch macht.”
Der Gelbe nickte, ohne sich zu ihm umzudrehen. „Und was willst du tatsächlich?”, fragte er dann. „Weißt du das schon?”
Was war das für eine Frage? Advon war sich nicht sicher, worauf der Regenbogenritter hinaus wollte. Also antwortete er unverbindlich: „Nein. Noch nicht.”
Sie hatten den Innenhof des Cielástel erreicht. Immer noch war von Siledaú nichts zu sehen. Der Gelbe Ritter fragte nichts mehr. Er berichtete Advon nun, dass die Einhörner in der Nacht etwas unruhig gewesen seien. Möglicherweise seien Sandwölfe in der Nähe gewesen. Er solle sich nicht wundern, wenn Farbenspiel sich etwas ungestümer als erwartet verhalten sollte.
Advon nahm das zur Kenntnis, hörte aber kaum hin. Nun beschäftigte ihn die Frage, was er tatsächlich wollte.
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