
Der Regen fiel seit dem späten Vormittag. Es waren keine prasselnden, schweren Tropfen, sondern ein stetiges Nieseln, eine Feuchtigkeit, zu schwer, um Nebel zu sein und zu leicht für einen Schauer. Kalt war es. Der Wind vom Meer drückte die Feuchtigkeit durch das nur einen Spalt weit geöffnete Fenster. Ganz schließen konnte Osse Emberbey es nicht. Er benötigte das bisschen graue Licht, um zu lesen. Eine Laterne oder auch nur eine Kerze konnte er nicht zur Hilfe nehmen, jegliche Art von Flamme war in diesem Zimmer voller Papiere verboten. Sich mit dem Buch in ein anderes Gemach zurückziehen konnte er auch nicht. Der mestar [~ Lehrer], der in einem geschützteren Winkel des Raumes in am Tisch saß, hatte ihn genau im Auge. Der Gelehrte stellte irgendwelche Berechnungen mit einem Zählbrett an und machte sich dann und wann Notizen. Dafür kam er mit weniger Beleuchtung aus.
Der Junge fröstelte, zog seine Jacke fest um sich und blinzelte auf die gedruckten Zeilen in dem Buch auf dem Pult vor ihm. Das schlechte Licht und die winzigen Buchstaben taten seinen Augen nicht gut, aber der mestar erwartete, dass er am Abend all die Namen und Daten auswendig daher sagen konnte.
Das allein wäre keine Schwierigkeit gewesen. Osse hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis und eine schnelle Auffassungsgabe. Außerdem war er es gewöhnt, mit Wissen traktiert zu werden, das ihm irgendwann in seinem Leben einmal von höchstem Nutzen sein sollte, wie der mestar es ihm immer und immer wieder mahnend vorhielt.
Indes fiel es dem Jungen immer schwerer, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Seit die Mutter fort war, drückte die Traurigkeit ihn noch mehr nieder als zuvor. Doch nicht nur das: Auch der Vater hatte sich verändert. Alsgör Emberbey, den Osse nie anders gekannt hatte als hart, unbewegt und achtbar, war still geworden. In den ersten Tagen hatte Osse ihn kaum mehr zu Gesicht bekommen. In der Burg flüsterte man darüber, dass dem alten yarl der Verlust seiner Gefährtin mehr zu Herzen gegangen war, als man es dem gestrengen Herrn zugetraut hätte.
Nicht einmal Truda gelang es, den Vater aufzumuntern, obwohl sie es anfangs auf eine verstörend beharrliche Weise versuchte. Osse begriff nicht, was in seiner jüngeren Schwester vorgehen mochte. Natürlich wusste sie, dass die Mutter fort war und niemals zurückkehren würde, um ihnen die Lieder zu singen, die Geschichten zu erzählen, die sie aus ihrer fernen Heimat mitgebracht hatte. Vielleicht war Truda noch zu jung, um diese Wahrheit gänzlich zu erfassen. Wenn die Nacht kam, hörte er sie in ihrer Kammer weinen, die opayra [~ Gouvernante] versuchte, sie zu trösten. Tagsüber war das kleine Mädchen abgelenkt. Dann wich sie der Amme nicht von der Seite, die sich um Raýneta kümmerte, und fand das winzige Kindlein ausgesprochen aufregend. Beide, opayra und Amme, tuschelten oft miteinander und verstummten, wenn es sich so fügte, dass er den Raum betrat.
Truda hatte es schließlich aufgegeben, den Vater mit ihrem kindlichen Trost zu bedrängen. Wenn sie abends gemeinsam am Kamin saßen, spielte sie still vor dem Feuer mit ihren Puppen. Der yarl grübelte vor sich hin. Und Osse las verstohlen in geheimen Schriften.
Eilig hatte er die wenigen Bücher, die die Mutter mit nach Emberbey gebracht hatte, aus ihrem Gemach genommen, bevor jemand auf den Gedanken kommen konnte, sie fortzuräumen und wegzuwerfen. Nun lag der Stapel schmaler Bändchen zwischen anderem Gerümpel in einem Abstellraum unter dem Dach. In einem altmodischen, verbeulten Topfhelm hatte Osse sie versteckt, genau so einem, wie der Held in einem der Büchlein ihn auf den bunten Abbildungen darin trug, ein stolzer Recke in smaragdfarbenen Gewändern. Wovon die Geschichte handelte, verstand Osse Emberbey noch nicht so recht. Die Bücher, die man ihm zur Lektüre gab, enthielten keine Geschichten.
Mit dem Einband eines zerfallenen alten Rechnungsbuches, das er unweit des Helms gefunden und das in etwa dasselbe Format hatte, hatte er den zerlesenen Ritterroman getarnt. Nun versuchte er geduldig zu verstehen, wovon die Mutter möglicherweise einst geträumt hatte.
Ab und zu spürte er dabei, dass der yarl ihn gedankenvoll anschaute und, wenn er aufblickte, so tat als sei es Zufall gewesen. Vater und Sohn, obwohl im selben Raum, fanden nicht zueinander. Bei Tisch redeten sie nur das Nötigste miteinander. Osse wagte nicht zu fragen, wie es weitergehen sollte. Und Alsgör Emberbey wusste es möglicherweise selbst nicht. Aber in den letzten Tagen, das hatte Osse dem entnommen, was er vom Gesinde aufschnappte, hatte der Vater viele Stunden mit dem maedlor [~ Beamter, Schreiber] verbracht. Es wurden Briefe verfasst, Briefe, aus denen offenbar ein großes Geheimnis gemacht werden sollte. Geheimnisse machten Osse nervös. Sie beunruhigten ihn und lenkten ihn von seinen Pflichten ab.
Der Junge warf einen flüchtigen Blick hinüber zum mestar, der in seine Rechnungen vertieft war und wagte es für einen ganz kurzen Moment, seine Brille abzusetzen. Seine Augen schmerzten davon. Nur für ein paar Atemzüge wollte er ihnen Ruhe gönnen. Das regnerische Grau vor dem Fenster, die Wand aus Nieselregen und das endlose weite Meer dahinter, im trüben Licht schlammig grün, war angenehm verschwommen und dumpf. Sehnsüchtig blickte der Junge einen Moment hinaus aufs Wasser, spürte die Augengläser kalt unter seinen Fingern und schauderte. Er hasste die Sehhilfe. Von wo der Vater vor vielen Sommern die kunstvollen Gläser herbei geschafft hatte, wusste Osse nicht. Aber der mestar hatte ihm gesagt, er solle sich glücklich darüber schätzten, denn es sei selbst unter den Allerreichsten in Forétern nicht üblich, etwas so Kostbares einem ungeschickten Kind anzuvertrauen. Und so trug Osse die Brille, ohne zu klagen und setzte sie hastig gerade noch im rechten Moment auf, bevor der Vater das Schulzimmer betrat.
Der mestar erhob sich eilig beim Anblick seines Herrn und verneigte sich. Aber Alsgör Emberbey beachtete den Gelehrten kaum. Er blieb in der Türöffnung stehen, als erinnere er sich nicht so recht, warum er gekommen sei. Dann schritt er auf das Pult zu, neigte sich über das Buch und überflog die Zeilen.
„Was lernt der Junge gerade?”, fragte er dann, ohne sich dem mestar zuzuwenden.
„Über die Vergangenheit der edlen nördlichen Familien und ihre Allianzen während der Chaoskriege, Herr”, antwortete der mestar eifrig.
„Und wie stellt er sich dabei an?”
„Ich habe keinen Grund, über ihn zu klagen, Herr. Er ist still und gelehrsam.”
Osse wartete. Es war oft so, dass der Vater mit anderen über ihn sprach, obwohl er ihn ebenso gut selbst hätte fragen können. Aber dass der yarl selbst erschien, um sich zu vergewissern, dass er lernte, das war ungewöhnlich.
Nun bewegte sich der Blick des Vaters von dem Verzeichnis weg hin zum Gesicht des Jungen.
„Osse, wer war der yarl von Emberbey in jenem Winter, in dem die Chaoskriege endeten?”
„Herr Thorgar Emberbey”, antwortete Osse, ohne zu zögern. „Der Vater deines Großvaters.”
„War Thorgar Emberbey ein guter Schutzherr seines yarlmálon?”
„Ja, Vater. Er hat die Burg und seine Leute gegen eine Übermacht von Angreifern verteidigt, zu Land und zur See.”
„Wer hatte angegriffen?”
„Der teirand Athgey Hoývant.”
„Wer war der teirand der Herren von Emberbey?”
„Athgey Hoývant”, antwortete Osse verunsichert. Was sollte das? Warum fragte der Vater ihn über so alte Geschichten ab?
„Und nun, Osse, sag mir: Darf ein yarl gegen seinen eigenen teirand aufbegehren?”
Osse schwieg. Was für eine Antwort erwartete der Vater?
„Ich weiß nicht”, gab er dann zu. „So weit bin ich noch nicht mit dem Buch. Davon steht nichts darin.”
„Wollt Ihr, dass ich Euren Sohn über die näheren Umstände jener diffizilen Geschichte aufkläre?”, fragte der mestar eifrig.
„Nein. Es reicht, wenn er weiß, dass das Thorgar Emberbey damals getan hat, was das Beste für das yarlmálon, für seine Schutzbefohlenen war, ganz egal, wie die Umstände sich darstellen mögen.” Der yarl zog das Buch zu sich hinüber und klappte er zu. „Komm mit mir, Osse. Ich habe dir einige Dinge zu sagen.”
Der Junge nickte und ging gehorsam hinter seinem Vater her. Das leichte Eisenzeug, das der yarl angelegt hatte, kaum noch mehr als ein Symbol, eine Andeutung seines Standes als wehrhafter Dienstmann, klirrte sacht. Der mestar war sichtlich verblüfft. Dass man seinen Unterricht unterbrach und ihm seinen Schüler entführte, hatte er noch nicht erlebt. Aber dagegen aufbegehren konnte er nicht.
Alsgör Emberbey führte seinen Sohn schweigend durch das Gebäude und dann im Wehrturm die steile Treppe hinauf. Einen Moment lang befürchtete Osse, der Vater könne durch irgendeinen dummen Zufall die versteckten Bücher gefunden haben und wolle ihn dafür zur Rede stellen. Aber der yarl durchquerte den Raum mit dem alten Zeug schweigend und erklomm dann die Stiege, die durch eine Falltür aufs Dach des Turmes herauf führte.
Dort standen sie dann beide in diesem sonderbaren Mittelding aus Regen und Nebel, neben dem im Wind knatternden, mit roten Bändern versehenen Banner, weiße Fische auf gelbem Grund. In Richtung Meer ausgerichtet stand eine schlecht gewartete, funktionsunfähige Balliste aus morschem Holz. Angeblich, das wusste Osse, war es eben diese Waffe gewesen, mit der Thorgar Emberbey damals die Burg gegen Angreifer in der Bucht verteidigt hatte. Heute war es nicht mehr nötig, Schiffe zu versenken. Das alte Ding stand seit Ewigkeiten hier herum, weil man es wohl aus Respekt vor Herrn Thorgars Andenken nicht entfernen wollte; vielleicht aber auch, weil sich niemand die Mühe machte, die sperrige Wurfmaschine abzubauen. Ein paar Schritte davon entfernt befand sich ein kleiner gemauerter Taubenschlag. Dort kauerten zusammengedrängt und aufgeplustert mehrere Vögel unter dem Dach und warteten auf Sonnenschein.
Aber Alsgör Emberbey schaute nicht aufs Meer. Er führte seinen Sohn zu den nach Osten ausgerichteten Zinnen. Links lag schmutziggrün das Meer, rechts erstrecken sich die Weiden von den schroff abfallenden Klippen bis ins Hinterland herein. Osse erkannte das Dorf in einiger Entfernung von der Burg und dazwischen viele weiße Punkte auf dem Grün, große Schafherden. Doch Regentropfen, die auf den Brillengläsern abperlten, trübten seine Sicht.
Warum, bei den Mächten, standen sie hier im Regen und schwiegen? Was wollte der Vater ihm sagen und brachte es doch nicht heraus?
„Ich werde in ein paar Tagen nach Wijdlant aufbrechen”, sagte der yarl nach einer Weile. „Ich habe mit meinem teirand, gegen den ich niemals mein Schwert erhoben hätte, etwas zu bereden.”
Osse horchte auf. Dass der Vater, wie es Sitte war, immer wieder für einige Monde den Hofdienst versehen musste war nicht ungewöhnlich, aber üblicherweise ritt er nach Spagor, zur Burg seines Herren westlich von Vírhavet, ungeachtet dessen, ob dieser dort vor Ort war . Dass er ins Landesinnere zur Festung der teiranda reiste, war selten und hatte folglich mit Sicherheit gewichtigere Gründe.
„Ich werde artig sein und dir keinen Anlass zum Tadel geben”, sagte der Junge vorsichtig.
„Du wirst mich begleiten.”
„Ich?”
„Du hast mich verstanden.”
„Ja, natürlich. Aber … ich war noch nie am Hof der teiranda.”
„Es gab zuvor noch keinen Grund dazu, dich dort vorzustellen. Aber die teiranday wünschen ausdrücklich deine Anwesenheit.”
„Aber warum?”
„Vielleicht wollen sie sich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass …” Er unterbrach sich, sprach es nicht aus. Osse ahnte indes längst, was seinen Vater so sehr beschäftigte.
„Vielleicht haben sie in Wijdlant etwas, wozu du besser passt”, brachte der yarl schließlich hervor. „Etwas, was ich dir hier nicht einrichten kann.”
„Aber … ich kann hier nicht weg. Ich muss doch …”
„Was?”
„Ich muss auf Truda und Raýneta aufpassen. Ich habe es Mama versprochen!”
Der yarl lächelte freudlos. Ein Lachen wurde nicht daraus. Nein, verspotten würde der Vater ihn nicht.
„Was würdest du machen, wenn die Burg angegriffen würde, Osse? Womit würdest du deine Schwestern verteidigen?”
Der Junge blickte zu Boden. Auf dem flachen Dach hatten sich einige Pfützen gebildet. Manchmal schlug ein größerer Regentropfen auf einem Eisenstück auf, das der Vater am Leib trug. Dann nahm er die Brille ab und steckte sie in den Köcher an seinem Gürtel. Das Glas beschlug und nahm ihm die Sicht.
„Wann brechen wir auf?”, fragte er leise.
„Ich erwarte eine Nachricht. Sobald ich Antwort habe, machen wir uns bereit.”
„Wartest du auf eine Taube? Sind wir deshalb hier oben?”
„Das auch. Aber ich wollte auch nicht, dass der mestar uns dazwischen redet”, erwiderte der yarl. Der Junge fragte sich, ob sie gerade tatsächlich ein richtiges Gespräch miteinander geführt hatten.
„Schau dich um, Osse”, fuhr Herr Alsgör fort. „all das, was du um dich siehst, ist Land, über das die yarlay von Emberbey zu wachen haben. Über das Land, aber auch die Menschen und das Vieh darauf. Wenn ich hinter die Träume gehe, wirst du dafür verantwortlich sein. Aber du wirst es nicht verteidigen können, wenn jemand es dir streitig machen wollte. Jemand anderes muss es für dich tun.”
„Jemand anderes? Aber … wer?”, fragte Osse verwirrt.
„Mögen die Mächte geben, dass ich darauf bald eine Antwort habe.”
Sie standen noch eine Weile länger gemeinsam neben dem Taubenschlag, bis es allmählich zu dunkel wurde, als dass ein Vogel nun noch geflogen wäre. Der Junge war bald durchgefroren und regennass in der klammen Kälte. Dem Vater schien es nichts auszumachen. Er trug einen wetterfesten Wollmantel.
„Danke”, sagte Alsgör Emberbey schließlich leise. „Du musst mir hier nicht länger Gesellschaft leisten. Geh hinein und zieh dir trockene Sachen an. Sieh zu, dass du pünktlich beim Essen bist.”
Osse Emberbey gehorchte seinem Vater, aber nicht sofort. Kaum war der Junge wieder im Haupthaus, stahl er sich hinüber zu den Stuben der Frauen, wo die Amme über Raýneta wachte. Die Frau musterte den Jungen in seinen nassen Hausgewändern verwirrt, ließ ihn aber gewähren, als er leise an die Wiege seiner Schwester herantrat. Der Knabe war so rührend sanft und vorsichtig, dass sie nicht befürchten musste, er könne das friedlich schlummernde Kindlein aufwecken. Sie nickte ihm nur zu und bedeutete ihm, still zu sein.
Sacht schob er einen Zipfel des Kissens, auf dem das Wiegenkind schlief, etwas beiseite, sodass er ihr Gesichtchen sehen konnte. So stand er eine Weile andächtig und lächelte zärtlich.
Dich beschütze ich, dachte Osse Emberbey entschlossen. Ich ganz allein. Egal, womit und gegen wen.
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