
„Mama?”
„Jetzt nicht, Dýamirée. Ich muss mich konzentrieren!”
„Immer noch?” Sie seufzte und tappte in den Saal, wo ich auf dem Thron des Großmeisters saß und der Verzweiflung nahe war.
Ich versuchte, sie zu ignorieren. Wenn ich mich jetzt ablenken ließ, könnte ich wieder von vorne beginnen. Das, was ich bis jetzt zuwege gebracht hatte, war ohnehin äußerst instabil und flimmerte.
Sie schaute sich um und begann dann, mit kritischem Blick den Lichtfäden nachzugehen, die ich bereits gewoben hatte. Ich hatte damit schon in der Dämmerung begonnen, denn das Werk musste vollendet sein, wenn die Sonne im Norden hinter dem Chaos versank. Da ich wesentlich länger Zeit dafür benötigte als Yalomiro, hatte ich früh angefangen und war doch noch lange nicht fertig geworden mit dem Einzigen, was mir als Stellvertreterin des Großmeisters aufgetragen war.
Yalomiro hatte mich gelehrt, wie ich das Lichtgespinst selbst heraufbeschwören konnte. Das war im Grunde verhältnismäßig einfach und ließ sich intuitiv vollbringen. Viel schwieriger war es, den Faden so im Raum zu verspannen, dass er sich an den richtigen Punkten kreuzte und verwob.
Auf meinem Schoß lag ein Blatt Papier, auf dem Yalomiro mir schließlich aufgezeichnet und illustriert hatte, was ich mit dem Licht anzustellen hatte. Wenn ich mich Schritt für Schritt an diese Anleitung hielt, hatte er mir versichert, würde ich seinen Zauber nachbilden können, zumindest ausreichend, um den Schutzzauber um den Etaímalon eine Weile aufrecht zu erhalten.
Ich war einerseits gerührt, von dem Vertrauen, das er in meine Fertigkeiten legte. Trotzdem fühlte ich mich überfordert. Ich saß vor der Zeichnung wie eine Erstklässlerin vor einer Aufgabe zur Abschlussprüfung und verstand nicht annähernd, was ich da eigentlich tat und wozu es letztlich diente. Er hatte es mir ausführlich und in allen Details erklärt. Aber mehr, als dass es eine Methode war, das Heiligtum zu sichern, solange sich Schattensänger im Wald aufhielten, hatte ich davon nicht verstanden.
Seltsam. Ich hatte ihm jahrelang dabei zugesehen, wie er mit diesem Zauber dafür sorgte, dass wir in Sicherheit waren. Rächte es sich nun, dass ich mich nie näher damit beschäftigt hatte, weil ich ohnehin davon ausging, dass ich es selbst nicht konnte?
Dýamirée war mir keine Hilfe. Sie hatte einen zu tief über den Boden verlaufenden Lichtfaden entdeckt und hüpfte spielerisch darüber hinweg.
„Dýamirée, bitte!”
„Aber mir ist langweilig.”
Ich seufzte und holte die letzten fünf Teilstücke wieder ein. „Ich kann es gerade nicht ändern.”
„Warum musst du das machen?”
„Weil dein Vater nicht hier ist.”
„Wozu ist es gut?”
„Damit niemand in den Boscargén eindringt.”
Sie hielt in ihrem Hüpfspiel inne. „Wer sollte denn eindringen?”
„Keine Ahnung. Ich denke, dein Vater ist mit dem Ritter fortgegangen, um das herauszufinden.”
„Müssen wir uns fürchten?”, fragte sie verwirrt.
„Nein. Nicht, wenn du mich einen Moment in Ruhe lässt. Ich muss das hier richtig machen.”
Sie sprang mit beiden Füßen zugleich über das Licht und stieg die Estrade hinauf. Dabei warf sie einen neugierigen Blick auf Yalomiros Gebrauchsanweisung für den Schutzzauber.
„Wann Papa das macht, dauert es nie so lange.”
„Er kann ja auch wesentlich besser zaubern als ich. Ich übe noch.”
Sie setzte sich zu meinen Füßen auf die Stufen und schaute dem Licht hinterher, das ich auf einen gewissen Punkt an der Saalkuppel zu lenken versuchte.
„Wenigstens kannst du ein wenig zaubern”, kam es dann betrübt von ihr.
Ich versuchte, mich zu sammeln. Mir war klar, dass Dýamirée gerade meinen Zuspruch und Trost gebraucht hätte. Ich wusste allzu gut, wie traurig es sie machte, dass Noktáma ihr offenbar jegliche Magiefähigkeit vorenthalten hatte, wenn auch Yalomiro die Hoffnung nicht aufgab, dass unsere Tochter ihre Gabe vielleicht erst in einem passenden Moment entdecken würde. Nicht, dass es für ihn oder mich eine Rolle gespielt hätte, ob Dýamirée unkundig war oder nicht, nie im Leben! Was das betraf, nahm sie selbst ihr Los schwerer, als wir es taten. Irgendwie konnte ich das gut verstehen. Sicher war es für Dýamirée schwer zu ertragen, dass selbst ihre unkundig geborene Mutter, so stümperhaft sie auch damit umging, etwas beherrschte, was ihr unzugänglich war.
Ich schaute auf meinen Mogelzettel und grübelte über den nächsten Schritt. Dýamirée schaute hinauf zur Dachkuppel, über der sich der Himmel violett zu färben begann.
„Der Ritter, mit dem Papa weggegangen ist, sagt, seine Tochter ist fast den ganzen Tag mit der teirandanja zusammen. Die beiden spielen immerzu miteinander.”
„Das ist sicher sehr anstrengend für die teirandanja“, meinte ich und versuchte, mir nicht gerade jetzt vorzustellen wie die Tochter von Kíaná von Wijdlant und Asgaý von Spagor wohl aussehen mochte. Ich stellte mir ein zartes, zierliches Mädchen mit blassem Gesicht vor, das sich sittsam und zerbrechlich durch die große Burg bewegte.
„Wieso?”
„Das Töchterchen von Herrn Jóndere ist ein paar Sommer jünger. Vielleicht spielen die beiden nicht gern dieselben Spiele.”
Dýamirée dachte einen Moment nach. „Ob die teirandanja dann wohl mit mir spielen wollen würde?”
„Sicher”, antwortete ich zerstreut.
„Kann ich denn dann nicht auf Besuch nach Wijdlant gehen?”
Ich zuckte zusammen und verlor den Lichtfaden. Die letzten Maschen fielen nieder, bevor es mir gelang, das Gewebe zu stabilisieren. Bevor ich lautlos darüber fluchen konnte, ergänzte sie: „Ich kann doch nicht hier im Wald bleiben, bis ich so alt bin wie du.”
„Dýamirée, können wir bitte später darüber reden? Ich habe hier eine sehr schwierige Arbeit zu tun.”
„Und wenn gar niemand in den Wald hinein will?”
„Und wenn doch?”
„Dann”, sagte Dýamirée arglos, „hält ihn das hier auch nicht ab.”
Manchmal, grollte ich im Stillen, war dieses Kind einfach zu ehrlich.
„Dýamirée, bitte sei so lieb und tu mir einen Gefallen.”
Sie ahnte, was ich wollte und nickte seufzend. Dann erhob sie sich, stieg die Stufen wieder herab, hüpfte demonstrativ über die Trümmer meines mühsamen Banngewebes hinweg und verließ den Saal. Ich hörte, wie ihre Schritte im Dunklen verhallten. Sie klangen langsamer und zögerlicher als zuvor. Offenbar war sie enttäuscht, natürlich war sie das, aber doch so verständig, um zu wissen, dass ich mich ihren Anliegen gerade nicht widmen konnte, sie ausnahmsweise einmal zurückstehen musste. Das kam selten, sehr selten vor und war ungewohnt für sie. In aller Regel waren immer, wenn sie etwas auf dem Herzen hatten, entweder ich oder Yalomiro zur Stelle, egal ob sie gerade eine neue Blume oder einen Pilz entdeckt hatte, sie sich langweilte oder beim Spielen weh getan hatte und eine Schramme oder eine Prellung zu heilen waren.
Ich entschloss mich, es wieder gut zu machen und ihr später, wenn ich hier alles notdürftig erledigt hatte (denn mehr konnte ich beim besten Willen nicht wirken), ein neues Märchen zu erzählen. So wie früher, als sie noch viel jünger war und bei meinen Gute-Nacht-Geschichten eingeschlafen war, vielleicht, weil sie im Vergleich zu Yalomiros Gruselgeschichten zu langweilig waren, vielleicht aber auch, weil der Klang meiner Stimme sie eingelullt hatte. Wie auch immer … ich nahm mir vor, den Schlaf auch heute mit ihr im selben Raum zu verbringen.
Dýamirée schlief bereits seit einigen Jahren auf eigenen Wunsch allein in ihrer eigenen Kammer im Etaímalon, aber sicher würde sie nicht ablehnen, wenn ich bei ihr blieb.
Vorgestern hatte ich meinerseits das erste Mal seit zehn Jahren allein im Bett gelegen und war außerstande gewesen, zur Ruhe zu finden. Yalomiros Abwesenheit machte mich unruhig. Mir war durchaus klar, dass ich es übertrieb, denn immerhin war er weder in Gefahr, noch würde er längere Zeit unterwegs sein. Er hatte mir versprochen, dass er Jóndere Moréaval nur soweit begleiten würde, bis er den Ritter auf einer sicheren Straße wusste. Dann würde er seinen eigenen Weg nach Wijdlant abkürzen, indem er sich als Rabe in der Luft oder durch die Schatten bewegte, was seine Reise erheblich abkürzen würde. Je nachdem, was er in Wijdlant vorfinden würde, schätzte Yalomiro, dass er vielleicht fünf, möglicherweise allerhöchstens neun Tage unterwegs sein würde. Diesmal, hatte er gescherzt, müsse ich auch nicht befürchten, dass man ihn in eine unerreichbare Domäne abseits des Weltenspiels verschleppte. Außerdem, das hatte er mir versprochen, wollte er Verbindung zu mir halten, indem er nach meinen Träumen suchte.
Nun, solange ich nicht schlafen konnte, war das müßig. Zehn Jahre lang waren Yalomiro und ich Tag um Tag Hand in Hand eingeschlafen und eng ineinander verschlungen wieder erwacht, so fest aneinandergeschmiegt, als könne der eine ohne die Wärme und Gegenwart des anderen nie wieder Ruhe finden.
Dýamirée hatte keine Angst vor der Dunkelheit. Sie schlief ruhig und vertrauensvoll unter dem Noktáma geweihten Dach und hatte keine Ahnung von dem Schrecken, den ihre Eltern erlebt hatten. Sie ahnte nichts von dem, was das Weltenspiel verderben wollte und wovor wir sie beschützten.
Ich riss mich zusammen und fuhr damit fort, mit ungelenker Hand das Licht zu weben. Vielleicht würde es heute glücken. Es musste glücken!
**
Jóndere Moréaval gab auf. Es hatte keinen Zweck mehr, nicht jetzt, da es schon wieder dunkelte. Der Ritter warf einen wütenden Blick gen Norden, dem Magier hinterher, der ihn so unvermittelt allein gelassen hatte, und dann nach Süden, wo er in der Ferne den dunklen Streifen erahnte, den der Boscargén unter den immer schwerer und dunkler werdenden Schatten bildete. Die ersten Sterne leuchteten bereits in der dunkelblauen Abenddämmerung auf. Und er, er stand hier mitten in der Heide von Hethrom, fröstelte und wusste nicht, wie ihm geschah.
Einen Moment lang haderte er mit seinem Ross, das friedlich begonnen hatte, am Heidekraut zu zupfen. Aber es brachte nichts, dem Tier zu zürnen. Es tat genau das, was sein Herr von ihm verlangte, und doch waren sie genau hier wieder ausgekommen. Moréaval stand kopfschüttelnd vor den Überresten des kleinen Lagerfeuers, das, an dem er vorgestern noch mit dem Schattensänger gesessen und die weitere Reise besprochen hatte. Wie wahrscheinlich war es, dass er in der großen weitläufigen Heide immer wieder zu dieser Stelle zurückkehrte, die nicht größer war als der Schild eines Bogenschützen? Bereits gestern hatte er vor der kalten Asche gestanden und begonnen, sich zu fürchten. Noch nicht allzu sehr, denn er hatte damit gerechnet, dass ihm hier wunderliche Dinge widerfahren würden. Aber nun, nun glaubte er nicht mehr an einen Zufall.
Der Ritter seufzte. Zumindest musste er sich nicht die Mühe machen, einen neuen Steinring um die Feuerstelle anzulegen. In seiner Ausrüstung führte er zum Glück auch noch eine Handvoll Kohlen mit sich, die er bei der Hinreise aus dem Eisendorf mitgenommen und mit denen er das Feuer nähren konnte.
Und wenn er in der nächsten Nacht wieder hier landete?
Er verstand nicht, wie sein Irrweg zustande gekommen war. Er war, kaum dass der Magier ihn verlassen hatte, geradewegs auf das wolkenhohe, unübersehbare Tafelgebirge in der Ferne zugeritten, geradewegs auf die Felswände zu, mit dem Ziel, eine Schlucht zu finden, die er als Passage benutzen konnte. Sein Weg führte ihn über eine weitläufige, nach allen Seiten offene Fläche mit nur wenigen Baumgruppen und höchstens mannshohem Buschwerk hier und da. Es war kein unwegsames Gelände, kein undurchdringlicher Wald, in dem er der Weg oder die Richtung hätte verlieren können.
Bis der Nebel aufzog. Nun, das war nichts Ungewöhnliches in dieser Jahreszeit und an der Südseite des Gebirges. Solange er geradeaus ritt, immer nur geradeaus über diese platte Weite, würde er früher oder später am Fuß des Montazíel auskommen.
Stattdessen hatte er plötzlich vor der alten Feuerstelle gestanden, die unzweifelhaft als seine eigene zu erkennen war, denn wie es Brauch war, hatte er auf einem der Steine, die sie als Einfassung verwendet hatte, mit Kreide sein Wappen und seinen Namen niedergemalt. Das war eine alte Tradition, die den Besitzer eines Feuers kenntlich machen sollte, für den Fall, dass eine schlecht gelöschte Stelle einen Brandschaden auslöste, für den ein unachtsamer Herr aufzukommen hatte. Der Schattensänger hatte sich beeindruckt gezeigt, dass er dieser Sitte so viel Beachtung schenkte.
Wann, bei den Mächten, hatte sein Ross kehrtgemacht? Wie konnte es, obwohl es einfach nur geradeaus gelaufen war, wieder an diesen Ausgangspunkt zurückgekehrt sein? Als der Nebel sich verzog, ragte der Montazíel hinter des Ritters Rücken auf, wie um ihn zu verspotten.
„Gib es zu”, schalt er das Pferd, während er mit Feuerstein und Zunder aus den letzten Kohlen ein Feuer für die Nacht entfachte. „Du bekommst deinen gefräßigen Schlund nicht voll genug von dem Kräuterzeug aus dem magischen Wald!”
Das Pferd schnaubte nichtssagend und wanderte ein paar Schritte weiter. Das Heidekraut schien ihm auch nicht zu verachten zu sein. Moréavals eigener Magen knurrte. Seine eigenen Vorräte waren fast gänzlich aufgebraucht; es war nicht nötig gewesen, viel Proviant mitzunehmen. Im Abstand von Halbtagesritten waren auch auf der großen Fernroute durch das Gebirge kleine Raststationen angelegt, deren Betreiber am Reiseverkehr zwischen Vírhavet und Aurópéa gut verdienten.
Wenn er sich aber am nächsten Tag erneut auf so eine sinnlose Rundreise begab, würde auch sein Wasservorrat zur Neige gehen.
War es Zauberei? Zweifellos. Aber warum? Was hätte der Schattensänger davon, den Ritter auf diese Weise irrelaufen zu lassen?
Der Magier hatte dem Ritter ruhig erklärt, dass sie auf getrennten Wegen nach Wijdlant reisen würden. Es sei unnötig, hatte er erläutert dass sie Zeit verlören, indem sie sich an den Weg hielten. Er, Moréaval, habe seine Mission erfüllt. Für ihn, den Magier, sei es keine Schwierigkeit, den Montazíel auf Pfaden zu überqueren, auf die er den Unkundigen jedoch nicht führen konnte.
Der Schattensänger war sogar so weit gegangen, ihm eine Passage etwas weiter östlich von ihrem Ausgangspunkt zu empfehlen, die vielleicht einen halben Tagesritt mehr Zeit kosten, aber wesentlich komfortabler und reizvoller sei. Es läge eine Klamm darin, wo zwischen dem Kies wertlose, aber hübsche schillernde Steine zu finden seien, aus denen er originelles Geschmeide für seine hýardora und das kleine Mädchen fertigen lassen konnte.
Moréaval hatte sich einverstanden erklärt. Er hatte keinen Anlass, dem Magier zu misstrauen. Yalomiro Lagoscyre, das hatte Kíaná von Wijdlant ihm versichert, sei ein ehrenhafter, den Unkundigen wohlgesonnener Mann, dem sie bedingungslos vertraue. Und so hatte er der Trennung zugestimmt. Am kommenden Morgen war der Schattensänger verschwunden gewesen.
Yarl Moréaval schaute hinüber zum Waldrand in der Ferne. Er konnte sich nicht erklären, warum der Magier, der sein Verbündeter hätte sein sollen, ein Interesse daran hätte, ihn auf seinem Heimweg derart aufzuhalten. Das jedoch führte ihn zu einer beunruhigenden Erkenntnis. Wenn es Zauberei war (und daran gab es keinen Zweifel!), war es keine, die der Magier selbst gewirkt oder von der er auch nur gewusst hatte. Jemand oder etwas anderes trieb Schabernack oder Übleres mit ihm.
Der Ritter wärmte sich die Hände am Feuer. Hier in der Heide, auf der Südseite der Berge, wurde es in der Nacht empfindlich kalt.
Was immer ihm den Weg verwirrte, es zog ihn südwärts. Zurück zum Boscargén. Nun, vielleicht wusste die hýardora des Schattensängers, was von der Sache zu halten war. Sobald Pataghius Glanz sich zeigte, würde er probieren, ob der Wald ihn erneut einließ.
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