Advon Irísolor tat etwas, das er eigentlich schon seit langer Zeit aufgegeben hatte. Der Moment dafür erschien ihm günstig: Siledaú war seit tags zuvor nicht im Cielástel aufgetaucht und er hatte den ganze Zeit mit seiner Mutter zusammen verbracht. Sie waren in den Gärten spazieren gewesen, sie hatte mit ihm gelacht und gescherzt und hatte ihm neue Lieder gesungen. Die Zeit war verflogen, er hatte es an den Gongschlägen gehört, die von Aurópéa hinüber klangen. Die Nacht hatte er in Elosáls Gemach verbracht, sie hatten so viel und so lange geredet, wie seit Ewigkeiten nicht.

Dann hatte er es gewagt, nach seinem Vater zu fragen. Sie hatte versucht, ihn zu beschwichtigen, zu erklären, dass er mit einer wichtigen Bewandtnis befasst war und bald wieder zurück wäre.

Ob der Vater wohl wieder einmal mit ihm in die Wüste ritte, hatte Advon gefragt. Er sehnte sich nach der Nähe seines Vaters ebenso, wie er die seiner Mutter vermisst hatte und befürchtete instinktiv, dazu sei es nur gekommen, weil einer der beiden Pataghíus Heiligtum verlassen hatte.

Sie wolle dafür sorgen, dass er es täte, hatte die fajía versprochen. Advon hatte gespürt, dass sie es dem Vater verübelte, dass der sie nicht in die Hintergründe seines Alleingangs eingeweiht hatte, aber ihm deswegen keine Vorwürfe machen würde.

Siledaú blieb verschwunden. Elosál erkundigte sich mehrfach danach, ob jemand sie gesehen hatte, aber keiner der arcaval’ay oder einer der wenigen Unkundigen im Cielástel hatte die Alte bemerkt. Niemand schien darüber unglücklich zu sein, aber Elosál schien befremdet.

Nachdem die Alte bis zum Mittag nicht zurückgekehrt war, ging Advon davon aus, dass es auch an diesem wunderbaren, sonnigen Tag nichts werden würde mit dem langweiligen Unterricht. Also hatte er sich in die Halle begeben, inmitten den Glanz und das bunte Funkeln von Kristall und Perlmutt und saß dort nun auf den Stufen, die zum Thron der fajía, seiner Mutter hinauf führten. Das Sonnenlicht des hellen Tages drang durch die Dachfenster, die mit unzähligen Prismen besetzt waren und, in herrliche Regenbögen geordnet, kreuz und quer bunte Muster auf den weißen Steinboden malte.

Eine Handvoll Murmeln hatte Advon im Kreis vor sich ausgelegt, sieben Stück, so geschickt platziert, dass von den weißen Marmorkügelchen jedes eine andere Farbe einfing.

Advon saß still davor und konzentrierte sich. Solange ihm niemand zuschaute, wollte er es wagen. Er war überzeugt, heute würde es ihm gelingen. Eine so große Freude würde er der Mutter und dem Vater damit machen.

Kommt, dachte Advon. Ich will, dass ihr kommt.

Das war das wesentliche Geheimnis der einfachen Magie der arcavala’ay, so hatten sie es ihm bei unzähligen Gelegenheiten erklärt, als er noch ein ganz kleines Kind war, bevor Siledaú aufgetaucht war. Sie hatten den Eindruck vermittelt, dass es buchstäblich ein Kinderspiel war.

Ein Spiel, für das er offenbar zu ungeschickt war. Nun, wenn er nur lange genug üben würde …

Kommt! Ordnet euch! Bringt die Farben mit!

Er runzelte angestrengt die Stirn und sammelte seinen Willen, seine Vorstellungskraft, fokussierte alles auf seine Murmeln. Aber die blieben still liegen.

Ordnet euch, dachte er. In eine Reihe!

Die völlige Stille der Halle rauschte in seinen Ohren. Umso deutlicher und klarer hörte er seine eigenen Gedanken in seinem Kopf.

Bewegt euch! Wenigstens das!

Aber die Murmeln ignorierten seinen bescheidenen Wunsch. Advon konzentrierte sich so fest, dass es fast weh tat.

Eine! Wenigstens eine nur! Nur einen Fingerbreit!

Er versuchte es verbissen eine ganze Weile länger. Dann entwich ihm ein erschöpftes Seufzen. Frustriert sank der Junge in sich zusammen und vergrub das Gesicht in den Händen. Einen Moment lang konnte er sich noch beherrschen. Dann begann er, zu schluchzen und schließlich zu weinen. Darüber bemerkte er nicht, dass er nicht mehr allein war.

„Hier bist du!”, schnappte Siledaú erbost und eilte mit so langen Schritten auf ihn zu, wie man es einer so alten Frau nicht hätte zutrauen sollen.

Advon schrak hoch. „Vorsicht!”, konnte er gerade noch rufen, da war sie bereits auf die im bunten Farbenschein am Boden verborgenen Murmeln getreten und darauf ausgeglitten. Siledaú strauchelte, grabschte noch sinnlos in die Luft und schlug dann mit einem heftigen Aufprall auf den glatten Steinboden auf. Um Haaresbreite verfehlte sie die Stufen und blieb dann reglos liegen.

Der Junge saß erstarrt und starrte die alte Frau zu seinen Füßen entsetzt an. War sie tot? Hatte sie sich etwas gebrochen? Bei den Mächten, dass alte Leute schwache Knochen hatten und sich viel zu leicht verletzten, wenn sie stürzten, war ihm bekannt.

Doch Siledaú war nicht ernsthaft beschadet. Sie gab einen wütenden Schmerzenslaut von sich und versuchte, sich aufzurappeln. Der Junge sprang auf, um ihr zu helfen, aber sie wehrte ihn unwillig mit den Händen fuchtelnd ab. „Bleib mir vom Leib!”

„Kannst du denn aufstehen?”

Sie schnaubte und stemmte sich mit beachtlicher Kraft vom Boden hoch. Dort blieb sie sitzen und starrte Advon wütend an.

„Du unnützer Bengel!”, keifte sie. „Was treibst du hier?”

„Ich hab … geübt.”

„Geübt? Hiermit?” Ihre spinnenartigen Finger hoben eine Murmel auf und schleuderten sie wütend in seine Richtung. „Kindisches Zeug! Was entehrst du Pataghiús Halle mit Spielzeug?”

„Ich … ich dachte, Pataghíu hilft mir vielleicht”, bekannte er.

„Wobei?”

Advon schaute schweigend zu Boden. Er wollte sich nicht noch lächerlicher machen, als es ohnehin schon der Fall war.

„Und was hast du in meiner Stube gemacht? Alles voller Wachs! Die Tafel ruiniert! Soll ich das etwa wegwischen?”

Ihr Gezeter erregte die Aufmerksamkeit der anderen. Der grüne und der violette Regenbogenritter kamen herbei, blieben aber in der Nähe des Portals stehen, wohl um abzuwägen, was am besten zu tun sei. Elosál schritt an ihnen vorbei und auf die am Boden sitzende Alte zu. Hilfreich streckte sie die Hand aus, aber auch diese verschmähte die aufgebrachte Greisin.

„Was ist hier geschehen?”, erkundigte die fajía sich.

„Dein ungeratenes Balg will, dass ich mir den Hals breche!”, schnappte Siledaú und hielt Elosál anklagend eine zweite Murmel hin.

„Advon, das hier ist kein geeigneter Ort zum Murmelspiel”, sagte Elosál sanft und mit einem flüchtigen Ausdruck unangemessener Schadenfreude in ihrem edlen Gesicht.

„Ich hab nicht gespielt. Ich wollte … üben.”

„Üben? Was für eine Dreistigkeit! Meine Tafel hat er ruiniert! Wahrscheinlich hat er mit einer Kerze so lange herum gezündelt, bis alles geschmolzen ist. Mit Feuer in einem Raum voller Papier! Es ist eine Ungeheuerlichkeit! Es …”

„Ich war das”, sagte Elosál kühl.

Die Alte unterbrach sich irritiert und blickte ungläubig in Elsosáls goldene Augen. „Was? Warum?”

„Wo hast du diese Magie gefunden?”, fragte die fajía. „Und wieso hast du sie an diesen Ort gebracht?”

„Gefunden? Gekauft habe ich das Ding, weil es mir nützlich erschien. Ewigkeiten ist das her.”

„Dann weißt du, was es ist?”

„Ja, natürlich. Aber es war definitiv harmlos zu benutzen.”

Elosál schwieg, als warte sie darauf, dass die Alte weiter spräche. Advon blickte überrascht zwischen seiner Mutter und der Alten hin und her.

„Wer verkauft solche Dinge?”, wollte Elosál wissen.

„Wer? Nun, Leute die alles mögliche Alte zusammentragen, das seinem Besitzer nicht mehr nützt. Du würdest staunen, was in Aurópéa noch zu bekommen ist aus … jenen alten Tagen.”

„Nun”, sagte die fajía, „falls sich in deiner Kammer noch mehr davon befinden sollte, so sei es morgen um diese Zeit verschwunden. Solltest du Hilfe beim Tragen benötigen, werden die arcaval’ay dir sicher helfen.”

Siledaú verzog unwillig das Gesicht, wagte aber offenbar nicht zu widersprechen. Sie rappelte sich auf und kam schließlich ohne fremde Hilfe zum Stehen.

„Wo bist du die ganze Zeit gewesen?”, fragte die fajía.

„Ich hatte zu tun, nebenan in der Stadt.”

„Über Nacht?”

„Ja”, antwortete die Alte, in einem Tonfall, der allen weiteren Fragen einen Riegel vorschob. Aber Elosál war nicht zufrieden.

„Und meinen Sohn hast du während der ganzen Zeit unbeaufsichtigt gelassen? Was, wenn er sich in den Stall geschlichen und dort Schaden genommen hätte?”

Advon zuckte zusammen. Warum musste die Mutter die Alte ausgerechnet jetzt an Farbenspiel erinnern?

„Das hätte ich wohl gemerkt”, brummte Siledaú.

Die fajía wandte sich ihrem Sohn zu. „Advon, mein Sohn … sei so gut, nimm deine Murmeln und spiele anderswo damit. Dein Vater wird bald wieder hier sein. Lass uns dann in Ruhe darüber reden, was du geübt hast und wie du es besser machen kannst.”

Er wollte etwas entgegnen, aber etwas an der Art, wie sie es aussprach gab ihm zu erkennen, dass sie ihn nicht in der Nähe wissen wollte, wenn sie weiter mit der alten Frau redete. Zugleich öffnete sie ihm einen Weg, dem gefürchteten Unterricht in Sildeaús Stube vorerst aus dem Weg zu gehen. Schleunigst raffte er die Marmorkügelchen zusammen, verneigte sich der Höflichkeit halber und eilte dann rasch aus dem Saal, ohne sich noch einmal umzusehen.

Von der Halle aus, die sich an der Spitze des zentralen und höchsten Turms des Cielástel wand sich eine Freitreppe hinab; an der Außenseite nur mit einem Mäuerchen gesichert, das etwa auf Kniehöhe eines Erwachsenen verlief. Diese Konstruktion war ein Alptraum für Menschen mit Höhenangst, hatte aber ihren Sinn. Im Bedarfsfall konnten arcaval’ay gleich von hier aus im Flug von den Einhörnern auf- und absitzen. Etwa auf halber Turmhöhe spannten sich Brücken wie Speichen hinüber zu den sieben Ecktürmen an der umlaufenden Mauer. Advon wählte die, die zur Westseite der Burg führte. Von dort konnte er die Weide der Einhörner sehen. Eine Weile stand er dort, den Kopf auf die Hände gestützt und beobachtete die bunten Punkte auf dem grünen Gras. Farbenspiel graste friedlich mit den anderen. Ein paar Steinwürfe südlich begann das Gelände zu versanden und mündete schließlich in die Wüste mit dem strahlend blauen Himmel darüber.

Ich will, dachte Advon sehnsüchtig. Ich will!

Als der nächste Gongschlag von Aurópéa herüber schallte, sah er Siledaú den Turm hinabsteigen. Der violette Ritter ging achtsam neben ihr her, vermutlich, um sich schnell stützen zu können, sollte sie auf den Stufen straucheln. Aber sie benötigte seine Hilfe nicht. Schmerzhaft schwankend, aber energisch stieg die Alte hinab und ging schließlich über die nach Norden ausgerichtete Brücke, wo auch der einfachste Zugang zu ihrem Bücherzimmer war. Mit etwas Glück waren lauter verbotene Bücher darin und morgen verschwunden.

Advon grinste und dachte dann darüber nach, was seine Mutter gemeint haben konnte, als sie unerwünschte Magie erwähnte. Gekauft hatte Siledaú die dumme alte Wachstafel also. In Aurópéa. Dass man magische Gegenstände kaufen konnte, beschäftigte Advon. Natürlich, warum sollte es sich nicht so fügen, dass Unkundige unter irgendwelchen Umständen an magische Dinge gerieten?

Allerdings … wenn Siledaú es fertig brachte, dass so ein vergessenes magisches Werkzeug tatsächlich auch funktionierte, dann war das äußerst bemerkenswert.

Advon tastete nach den Murmeln in seiner Tasche.

Ob er das wohl auch konnte?

***

Yalomiro Lagoscyre vertrieb sich die Zeit, in der er auf die Ankunft der teiranda wartete damit, die kleine Bibliothek in Augenschein zu nehmen. Auch im Etaímalon hatten die Schattensänger über die Zeiten hinweg eine Reihe von Büchern zusammengetragen und natürlich auch selbst eine Unzahl an Werken verfasst, aber dabei handelte es sich fast ausschließlich um Schriften mit berichtendem und beschreibendem Inhalt. Im Besitz der teiranday von Wijdlant befand sich jedoch auch eine stattliche Anzahl von Romanen und Abenteuergeschichten, Begebenheiten, die der bloßen Phantasie der Unkundigen entsprungen waren. Yalomiro fragte sich, ob es Salghíara gefallen würde, solche Dinge zu lesen. Er wusste, dass seine hýardora in ihrem früheren Leben, in jener anderen Welt viele Geschichten gehört hatte. Im Boscargén geschah nicht viel Neues. Vielleicht würde er ihr eine Freude bereiten, indem er sich bei Kíaná von Wijdlant erkundigte, ob sie ihm ein paar Bände ausleihen könne.

Vielleicht gab es hier auch auch das eine oder andere Buch mit Märchen und Geschichten für Kinder. Er hatte keine Ahnung, welche Art von Märchen Unkundige ihren Nachkommen erzählten. Bei denen, die Salghíara aus ihrer Welt mitgebracht hatte hegte er die Befürchtung, sie könne Dýamiree damit übermäßig verwirren. Immerhin hatte sogar yarl Moréaval sich kurz nach ihrem gemeinsamen Aufbruch aus dem Wald ernsthaft erkundet, was es mit der fánjula in dem türlosen Turm auf sich hatte, den ein teirandanjor am Haar der Schönen hinauf geklettert war, anstatt sich einfach eine Spitzhacke zu besorgen und ein Loch in die Wand zu schlagen, um sie zu befreien.

Endlich erschien die teiranda. Der Magier legte das Buch beiseite, das er gerade in Händen hielt, stand auf und verneigte sich höflich vor ihr. Kíaná von Wijdlant erwiderte den Gruß.

„Ich danke Euch von ganzem Herzen, dass Ihr gekommen seid, Meister. Und es tut mir leid, dass ich Euch so lange habe warten lassen. Mein hýardor und ich mussten zunächst den Herren unser Beileid aussprechen. Wir hatten Euch lange nicht so früh erwartet.”

„Wie es scheint, fügt es sich glücklich, dass ich gerade heute zugleich mit den Herren eingetroffen bin. Es tut meinerseits mir leid, dass ich Herrn Jóndere dafür hinter mir gelassen habe. Ich hatte es eilig, hierher zu kommen. Er sollte unbeschadet ein paar Tage nach mir eintreffen. Ihm kann nichts zustoßen.”

„Ich weiß. Deshalb hatte ich ihn geschickt, nicht einen meiner anderen yarlay.”

„Und warum, Majestät, hattet Ihr nun tatsächlich nach mir geschickt?”

Sie schaute auf. Seine Augen hatte er wieder im Schatten seines Hutes verborgen und wich zugleich sorgfältig ihrem Blick aus.

„Ich benötige Euren Rat, Meister.”

„Ein Rat von meinesgleichen ist nicht unbedingt hilfreich,für unkundige Sorgen, Majestät. Das habt Ihr bereits durch den Rotgewandeten am eigenen Leib erfahren.”

„Dann möchte ich einfach gerade heraus wissen, was ihr davon haltet. Denkt Ihr, es sei Zufall, dass Asgáys yarlay fast am selben Tag ihre Damen verloren haben?”

Er setzte sich unaufgefordert. Sie zog sich einen zweiten Stuhl heran. Es traf sich, dass sie nun einander an dem Tisch gegenüber saßen, auf dem ein kostbares Brettspiel mit einem verschlungenen Spielfeld und Figuren aus Kristall stand.

„Ihr habt Dinge gesehen, über die Ihr mit den Männern um Euch nicht reden könnt”, stellte er fest. „Weil sie vergessen haben.”

„Ja, weil jemand ihnen die Erinnerung genommen hat.”

„War das nun grausam oder gnädig von mir?”

Sie lächelte bitter. „Nun, es erschwert es mir jedenfalls, meiner Angst Worte zu geben. Asgaý denkt wohl, es sei eine Art Sentimentalität und unnütze Sorgen. Er sorgt sich darum, dass mein Gemüt Schaden genommen hat, als ich vom Unglück der Herren hörte.”

„Er nimmt es nicht ernst?”

„Oh doch. Aber es macht ihn unruhig, mich besorgt zu sehen und meine Gründe dafür nicht zu kennen. Den Herren geht es ähnlich, aber sie sehen etwas viel Banaleres.” Sie nahm eine der Figuren, die eine teiranda darstellte, zur Hand und betrachtete sie unverwandt. „Ich denke, sie lassen mir meinen Willen, damit ich mich beruhige. Meister, es würde mich nicht überraschen, wenn Asgaý Euch im Geheimen bäte, etwas für meinen verwirrten Geist zu tun.”

„Euren hýardor und seine Dienstmänner treibt die Sorge, was die Zukunft bringt, wenn man euren östlichen yarlmalón Schwäche unterstellen wird.”

Sie nickte. „Das ist die Sprache, die die Männer verstehen werden.”

Er griff seinerseits nach einer der Figuren, dem vendýr [~ Kaufmann]. „Majestät, die Geschäfte von Unkundigen und die Fragen nach Macht und Loyalität sind Dinge, denen meinesgleichen nicht ohne Grund nach Möglichkeit fern geblieben ist. Ich bin mit Sicherheit nicht der Richtige, um Euch einen guten strategischen Rat zu geben. Und schon gar nicht, mich auf eine Seite zu schlagen. Ich weiß nicht recht, was Ihr von mir erwartet.”

Sie seufzte. „Ich erhoffte mir … ja, vielleicht eine Perspektive. Eine Orientierung.”

„Wenn Ihr mich als Person fragt: Ich denke nicht, dass es Zufall war.”

„Was?”

„Das Schicksal Eurer yarlay. Und sicher, aus der Sicht eines Unkundigen heraus betrachtet ist es nichts weiter als ein kurioses Zusammentreffen von Unglücksfällen. Aber wenn es tatsächlich so sein sollte, dass das Widerwesen erneut das Weltenspiel stört, dann ist es sinnlos, in menschlichen Dimensionen von Zeit und Ursächlichkeit zu denken. Alles was heute, morgen oder vor hundert Sommern geschehen ist, kann Teil seiner Strategie sein. Nichts, was sich in Eurer oder meiner Lebensspanne, vielleicht auch mehreren Generationen erfassen oder miteinander in einen Zusammenhang bringen ließe.” Er griff nach dem Buch und legte es quer über das Spielbrett, verdeckte einige Felder. „Wir sehen nur einen kleinen Teil davon. Und wir stehen mitten darin. Es ist Sterblichen unmöglich, von außen alles zugleich zu beobachten und zu bemerken.”

„Dann habe ich umsonst nach Euch geschickt, und wir können nur unser Schicksal abwarten und die Mächte anflehen, das Weltenspiel zu verteidigen?”

Er lächelte und setzte eine andere Figur, einen Magier aus rosa Stein auf das Buch. „Nein. Das, was wir sehen und verstehen können, das geht uns etwas an. Vielleicht werden die Dinge nicht mehr in unserer Lebenszeit offenbar, Majestät. Aber die, die nach uns kommen, werden unser Werk fortsetzen. Eure Tochter, Majestät, ist ein außergewöhnliches Kind. Ihre Seele ist voller Güte, Milde und Stolz. Sie wird eine starke, geliebte teiranda sein, wenn Sie Euch auf den Thron nachfolgt. Vorausgesetzt, es gelingt niemandem, ihr gutes Wesen zu verderben.”

„Das wird nimmer geschehen!”, entfuhr es der teiranda entsetzt, aber er schwieg, anstatt sie zu bestätigen.

„Davor ist niemand gefeit, Majestät. Was das Schicksal am Ende bewirkt, können nicht einmal die Mächte bestimmen.”

Kíaná von Wijdlant seufzte unbehaglich. Er griff nach einer Figur aus grüngelbem Stein, die einen stolzen yarl darstellte.

„Herr Waýreth ist derzeit Eure stärkste Figur. Solange er über das yarlmalón Althopian wacht, wird niemand die Frechheit wagen, Ansprüche auf dieses Gebiet zu erheben. Erzählt mir von seinem Sohn.”

„Ihr könnt Euch selbst ein Bild von ihm machen, Herr Waýreth hat Sorgen. Der Junge versprach, ein ausgezeichneter Kämpfer zu werden, der seinem Vater in allem nacheifert. Der Verlust der Mutter jedoch muss den Knaben völlig durcheinander gebracht haben.”

„Herr Jóndere deutete an, der Junge könne einmal der erste unter den Rittern Eurer Tochter werden? Sähet ihr die beiden gern so nahe beieinander?”

Sie zuckte die Achseln. .

„Und Herr Alsgör?”

„Er ist alt. Die Mächte werden ihm nicht mehr allzu viele Sommer geben. Er … er erbat sich mit Asgaý ein Gespräch unter vier Augen, morgen früh, wenn sie alle sich nach der langen Reise etwas ausgeruht und gesammelt haben.”

„Ich sah seinen Sohn ankommen.”

Sie lächelte. „Ach, der arme Junge. Die Mächte meinten es nicht gut mit ihm. Wir werden schauen, ob wir ihm irgendetwas Gutes zuteil kommen lassen können.”

„Das klingt, als dächtet Ihr über ein Almosen nach,” sagte der Schattensänger überrascht.

Sie zuckte die Achseln. „Es gefällt mir auch nicht recht. Aber was sollen wir anderes tun?”

„Ihn nicht als Bittsteller sehen. Vielleicht ist der Knabe ein großes Geschenk.” Er griff nach einer anderen Figur, die Feder und Buch in ihrer winzigen geschnitzten Hand hielt und stellte sie neben den kristallenen Ritter auf das Buch.

„Wo, Majestät, seht Ihr Eure Tochter in diesem Spiel?”

Kíaná von Wijdlant begriff. Dann setzte sie die Spielfigur, die sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, dem yarl und dem mynstír gegenüber, sodass die Figuren einander anblickten.

Yalomiro Lagoscyre schüttelte den Kopf und verschob die drei Figuren. Die teiranda zwischen die beiden anderen. Nun standen sie Seite an Seite und schauten in dieselbe Richtung.

„Ich glaube, so wäre es richtig”, sagte er und stellte den Magier auf den Tisch, außerhalb des Spielbretts, diesem aber zugewandt.

„Ich weiß nicht”, sagte die teiranda nachdenklich.

„Ich auch nicht”, antwortete der Schattensänger. „Das Spielfeld ist verdeckt.”

Der Magier stellte die Figuren wieder an ihren Platz und stand auf, um das Buch wieder ins Regal zu räumen. Kíaná von Wijdlant wartete ratlos, ohne etwas zu sagen.

„Setzt Euren hýardor und die Herren davon in Kenntnis, dass ich morgen früh eine Unterredung unter acht Augen wünsche. Und zwar, bevor Herr Alsgör Gelegenheit hat, Eurem hýardor irgendwelche aus seiner Furcht geborenen Narreteien anzupreisen. Ich werde schauen, was ich gegen Eure Sorgen unternehmen und ins Lot rücken kann. Allerdings habe ich nur bis zum Nachmittag Zeit, Majestät. Dann muss ich wieder zurück zu meiner Familie.”

„Sicher”, sagte sie kleinlaut. „Es ist schade, dass nur so wenig Zeit bleibt.”

„Ich habe meine hýardora mit einer Bürde zurückgelassen, die zu tragen ich ihr nicht zu lange zumuten will. Es heißt aber nicht, dass ich Eure Sache in Eile abtun werde. Das werdet Ihr mir glauben. Ich bin nur nicht recht glücklich mit den Umständen und möchte Dinge in die Wege leiten, die mich beruhigen würden, bevor ich mich auf ein Abenteuer einlasse.”

Sie nickte. „Manjév erzählte ganz aufgeregt von Eurer Tochter, Meister Yalomiro.”

Er lächelte. „Sie heißt Dýamirée.”

„Meister … Ihr …” Sie zögerte und brachte es dann mutig heraus. „Wie ist es möglich? Wieso haben die Mächte Euch und Eurer hýardora erlaubt, gemeinsam ein Kind zu haben?”

Er wandte sich zu ihr um. Zum ersten Mal schien er unsicher in dem, was er sagte.

„Das mag Noktáma allein wissen.”