
Zur gleichen Zeit stand Advon Irísolor an einem Fenster an der Westseite des Cielástel und beobachtete die Unkundigen, die Aurópéa durch das südliche Tor verließen. Ein kleiner Tross war es, einige Männer zu Pferd. Advon zählte insgesamt acht Personen, die nach Süden wollten.
Der Junge fragte sich, was die Unkundigen dort vorhatten. Eigentlich gab es keinen Grund für Menschen, in die Wüste zu reiten, zumindest nicht in dieser Richtung. Die tiefen kühlen Minen, wo das unzerstörbare Gold unter dem Sand lag und seit vielen, unzählbar vielen Sommern gefördert wurde, befanden sich in einer ganz anderen Richtung. Der Knabe hatte vor einiger Zeit zufällig einmal gegen Abend die Rückkunft einer solchen Reisegruppe aus Soldesér bemerkt und sich über die vielen ledigen Pferde gewundert, die sie bei sich gehabt hatten. Das hatte ihn neugierig gemacht und er hatte begonnen, darauf zu achten.
Es gab alle paar Tage solche mysteriösen Ausritte. Die Gruppen waren mal mehr, mal weniger groß, aber in der Regel kamen die Unkundigen mit derselben Anzahl von Pferden, aber mit weniger Berittenen zurück. Leider spielte sich all das in zu weiter Entfernung ab. Der Cielástel erhob sich zwar nur ein paar Steinwürfe von der Stadtmauer von Aurópéa entfernt, überragte die Stadt aber höher als deren Wachtürme. Mehr als zählen und Pferde mit und ohne Reiter zu unterscheiden, war von hier aus kaum möglich.
Ob die Unkundigen weiter im Süden eine neue Mine anlegten? Oder eine weitere Stadt gründeten? Advon ließ seine Gedanken treiben, schickte sie den Unkundigen in die Wüste hinterher. Was hätte er darum gegeben, mit ihnen zu reiten, einmal etwas anderes zu sehen als die Räume des Cielástel, mit anderen Erwachsenen zu reden als mit der gemeinen alten Siledaú. Vielleicht sogar mit anderen Kindern.
Er schaute wieder hinüber zur Stadt, auf die weißen hohen Mauern, die bunten und mit Gold geschmückten Häuser, die sich in der Mitte der Stadt an einer Anhöhe erhoben. Wenn Pataghíus Glanz verlosch, begann die Stadt von unzähligen Lichtern zu leuchten. Das sah er sich gern an, wenn er nachts wach lag, aber er hütete sich, das laut zu erwähnen. Wenn Sildeaú von dieser kleinen Freude erfuhr, würde sie vielleicht dafür sorgen, dass er in ein anderes Gemach an der der Stadt abgewandten Seite der Festung umziehen musste.
Jemand betrat leise seine Stube. Advon wandte sich um und erkannte zu seinem größten Erstaunen, dass es seine Mutter war, die ihn besuchte.
„Mama!”, rief der Junge erfreut aus und stürmte auf sie zu.
Elosál, die letzte der uralten fajiáe [Feen], trat ein, beugte sich zu ihm nieder und schloss ihn zärtlich in ihre Arme.
„Wo warst du so lange, Mama?”, fragte er aufgeregt. „Seit Tagen hab ich dich und Papa nicht gesehen!”
„Wir hatten zu tun”, antwortete sie. „Wir waren beim Feuer im Osten. Und kaum komme ich zurück in den Cielástel, muss ich hören, wie leichtsinnig du warst!”
„Ach, Mama …”
Elosál fasste ihn sacht an den Schultern und schob ihn so weit zurück, dass sie ihm ins Gesicht schauen konnte. Ihre Augen glänzten golden wie die Sonne auf dem schimmernden Sand. Ihre Miene war so ernst, dass Advon verlegen wurde.
„Ich wollte dir keinen Kummer machen. Und Papa auch nicht”, brachte er kleinlaut hervor.
„Mein Kind!” Sie schaute ihn noch einen kurzen Moment an und umarmte ihn dann wieder. Ihre Berührung war sacht wie ein Strahl der Morgensonne, ihre Stimme leise wie der linde Wind am Abend. „Mein Einziges. Meine Welt. Nie könnte ich es ertragen, dich zu verlieren.”
Er schmiegte sich an sie. Sie duftete süß wie eine Blume. Ihre goldene maghiscal umfloss ihn und ließ ihn die Geborgenheit spüren, die er immer öfter vermisste. Sie war so oft beschäftigt. Mit wichtigen Dingen.
„Ich passe gut auf, Mama. Farbenspiel ist nicht gefährlich. Er tut mir nichts an.”
„Ich weiß. Farbenspiel ist ein braves Tier, und du bist gut zu ihm. Aber er ist groß und schwer. Wie leicht könnte er dich absichtslos verletzen. Du darfst nicht allein zu den Tieren in den Stall.”
„Ja, Mama.” Advon schaute bedrückt zu Boden. „Aber mit wem soll ich denn gehen?”
Elosál seufzte und ließ ihn los. „Komm”, sagte die fajiá. „Setz dich zu mir.”
Sie ließ sich auf Advons Bettstatt nieder. Er nahm neben ihr Platz.
„Wir haben viel zu wenig Zeit für dich, Advon. Das gefällt weder mir noch deinem Vater. Aber es lässt sich nicht ändern. Die arcaval’ay berichten von seltsamen Dingen. Und im Norden … nein, Advon. Hier kann dir nichts geschehen. Nur hier bist du sicher.”
Er seufzte. Dann zog er die Beine an und legte seinen Kopf in ihren Schoß, wie er es als viel kleinerer Junge getan hatte. Die fajía lächelte und streichelte ihn.
„Ich vermisse euch so sehr”, gestand er. „Weißt du noch, wie wir nachts zusammen in die Wüste geritten sind? Wie wir in den Gärten gespielt haben, und wie Papa uns diese seltsamen und lustigen Geschichten erzählt hat?”
„Ja, Advon. Ich habe all das nicht vergessen Es war eine schöne Zeit.”
„Ich will dass es wieder so wird!”
„Ich will das auch, Advon. Aber es geht nicht. Nicht jetzt. Es ist zu gefährlich.”
„Aber warum?”
„Advon.” Sie strich ihm sanft über das Haar. „Verstehst du nicht, dass wir all das nur tun, um dich zu beschützen?”
„Vor der Gefahr im Norden, nicht wahr?”
Sie nickte.
„Ich will mich selbst beschützen können. Dann müsst ihr das nicht tun und wir können wieder in den Garten und in die Wüste.”
Elosál lachte, aber es klang eher bitter als erheitert. „Ach, Advon …”
„Wirklich!” Er setzte sich auf und sprudelte eifrig hinaus: „Ich bin doch kein Wiegenkind mehr, Mama. Ich bin fast elf Sommer alt.”
„Fast”, sagte Elosál mit leiser Belustigung.
„Jedenfalls alt genug. Ich bin sehr vorsichtig. Ich bringe mich nicht in Gefahr. Na gut”, korrigierte er sich selbst. „Ich gehe nicht mehr allein zu den Einhörnern. Aber ich kann doch nicht mein ganzes Leben hier in der Burg sitzen und gar nichts mehr tun!”
„Advon, es ist zu gefährlich! Du weißt, warum. Wenn die Gefahr aus dem Norden kommt, kannst du dich nicht wehren! Dein Vater und die arcaval’ay tun alles, damit es so weit nicht kommt.”
„Aber … dann sollen sie mir doch wenigstens beibringen, wie ich kämpfen kann! Ich will doch selbst einmal ein arcvaval’ay sein! Genau wie die anderen. Wie Papa!”
„Du weißt, dass das nicht möglich ist”, sagte sie sanft.
„Dann lasst es mich doch wenigstens versuchen”, brachte er leise hervor. „Bitte.”
Die fajiá schüttelte den Kopf. „Nein, Advon. Solange die Bedrohung aus dem Norden nicht abgewendet ist, hieße das, Pataghíu zu erzürnen.
Advon versetzte der Matratze einen wütenden Fausthieb. Dann begann er, zu weinen. Wie ein kleines Wiegenkind, trotzig und in die Enge getrieben zugleich.
Elosál liebkoste ihn und ließ ihn weinen. Ihn zu trösten, wäre müßig gewesen.
„Du bist zornig”, sagte sie leise. „Dazu hast du jedes Recht. Es ist unrecht, dass wir dir so viel nehmen. Aber es ist nicht unsere Schuld und nur zu deinem besten.”
Er schniefte und schaute verheult hoch zu ihr.
„Sildeaú ist gemein zu mir”, wisperte er. „Sie lässt mich sinnlose Dinge tun und redet mir alles schlecht, was mir gefällt. Bitte, ich will auch immer brav sein. Aber ich mag sie nicht.”
„Und du willst, dass wir sie fortschicken?”
Er nickte, besann sich und sagte: „Von mir aus kann sie auch bleiben. Aber ich will ihr nicht mehr gehorchen müssen.”
Die fajía nickte. „Ich werde es mit deinem Vater besprechen.”
Das würde sie tun, Advon wusste, dass seine Mutter keine leeren Versprechungen machte. Aber zugleich hatte er keine Hoffnungen, dass eine solche Aussprache etwas ändern würde. Siledaú würde einen Weg finden, ihre Ansichten zu verteidigen, und nichts würde sich ändern.
„Singst du mir etwas vor, Mama?”, fragte Advon leise.
„Ist das nicht etwas für Wiegenkinder?”
„Ja. Aber jetzt gerade will ich ein Wiegenkind sein.”
Sie lächelte, zog ihn zärtlich an sich und koste ihn. Und sie sang für ihn, das Lied von dem goldenen Hund, der versuchte, die Sonne zu fangen. Genau wie früher am Abend in den Gärten, wenn er in ihren Armen einschlief und wusste, dass der Vater die bösen Chaosgeister fernhielt.
**
Während die fajía Elosál sich um ihren Sohn kümmerten, hatte Cýelú, sein Vater ein offenes Ohr für Siledaús Klagen. Es blieb ihm nichts anderes übrig.
Nicht, dass es dem obersten Diener Pataghíus und Anführer der arcavala’ay gefallen hätte, was er zu hören bekam. Die Gegenwart der alten Frau war ihm unbehaglich, eine Regung, die er sich allein mit mangelnder Sympathie nicht erklären konnte. Sicher, dass Advon sich vorsätzlich aus der Sicherheit des Cielástel entfernt und bei dem Einhorn versteckt hatte, war eine Ungeheuerlichkeit. Dem Goldenen war jetzt noch übel bei dem Gedanken, was hätte geschehen können, wenn das Tier sich in seinem Verschlag frei hätte bewegen können. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie die Einhörner erwachsene Menschen erschlagen, zertrampeln und mit ihrem Horn aufspießen könnten, wenn sie angriffen oder im Kampf ihren Meistern gehorchten. Advon war noch viele Sommer davon entfernt, der Meister eines solchen Tieres zu sein. Möglicherweise würde es niemals so weit kommen.
Was denke ich da, rief der Goldene sich zur Ordnung, während der Siledaús Beschwerden nur mit einem Ohr zuhörte. Advon wird niemals mit uns in irgendeinen Kampf ziehen. Der Kampf ist vorbei! Nie wieder wird einer von uns in eine Schlacht ziehen!
Auf der anderen Seite konnte Cýelú gut nachvollziehen, was in seinem Sohn vorgehen mochte. Als Junge hatte er selbst einen Hund besessen, der weit mehr für ihn gewesen war als nur ein Haustier. Unzählige Male hatte der Hund ihn getröstet und begleitet, wenn er selbst eigene Wege, Auswege gesucht hatte.
Cýelú erinnerte sich liebevoll an seinen vierbeinigen Kindheitskumpan. Und egal, wie sehr Sildeaú ihm damit in den Ohren lag – das Einhorn würde er seinem Sohn nie und nimmer wegnehmen. Elosál und er hatten dem Jungen das Tier geschenkt, um ihn zu trösten. Um ihn dafür zu entschädigen, dass sie so viel Zeit anderen Dingen widmen mussten als ihm. Wenigstens ein angemessenes Reittier, einen Gefährten sollte der Junge haben, wenn Pataghiú ihm schon die Magie vorenthalten hatte, mochten die Mächte wissen, aus welchem Grund.
„Ich will nichts davon hören”, sagte der Goldene energisch.
„Meinetwegen”, sagte Sildeaú gekränkt. „Wir reden darüber, wenn Euer Sohn mit gebrochenen Gliedern eines Tages im Stall liegt. Dann wird das Wehgeschrei hier groß sein, und ihr alle werdet sagen, ach, hätten wir doch auf die verrückte Alte mit ihren Schauermärchen gehört.”
Cýelú warf den Regenbogenrittern einen hilfesuchenden Blick zu. Aber keiner der Hellen Magier machte Anstalten, etwas einzuwenden. Das stand ihnen nicht zu. Sildeaú hatte schon kurz nachdem sie im Cielástel ihr Quartier bezogen hatte, äußerst deutlich klar gemacht, dass sie allein mit der fajía und dem Goldenen reden würde. Regenbogenritter, hatte sie gesagt, hätten schon ihrer Natur nach überhaupt nichts über die Erziehung sterblicher Kinder zu vermelden.
Das stimmte – irgendwie. Denn die Regenbogenritter waren keine gewöhnlichen Männer, nicht in dem Sinne wie die Unkundigen, und ebenso wenig wie Elosál eine Frau war. Auf ihre Weise waren sie so sonderbar und unwirklich, wie es die Einhörner waren, um die es hier gerade ging. Wie sie da standen und zuhörten, alle sieben, groß, erhaben, alterslos und so … rein, (ja, rein war das richtige Wort), dass sie von einem ätherischen Schimmer umgeben waren, einer für das bloße Auge sichtbaren maghiscal, kamen sie ihm unendlich weit entfernt vor. Der Anblick der dürren Alten in ihren strengen dunklen Gewändern verstärkte diesen Kontrast noch.
Regenbogenritter waren immer da gewesen, immer! Sie waren die Nachkommen eines magischen Volkes, das vor undenkbaren Zeiten ins Weltenspiel gekommen war, sie und die fajiaé. Arcaval’ay waren uralt und ohne Alter zugleich, hatten niemals Familien oder gar Nachkommen. Also hatten sie sich aus Fragen der Erziehung gänzlich herauszuhalten.
„Wir alle”, sagte Cýelú und nahm damit die arcaval’ay, auch wenn sie schwiegen, mit in die Verantwortung, „achten darauf, dass ihm nichts geschieht. Und du solltest dafür sorgen, dass er nicht unbeaufsichtigt umher läuft.”
„Ich nehme das sehr ernst. Aber ich kann nichts dagegen unternehmen, wenn er in seiner Widerspenstigkeit noch Unterstützung findet!”
Der Goldene seufzte und ließ die Schultern hängen. Auch der Thronsessel an seiner Seite war leer. Elosál hatte ihm energisch mitgeteilt, dass sie keine Lust habe, sich Siledaús ewig gleiches Genörgel und die Vorwürfe anzuhören. Elosál war eine sanfte, eine gütige Frau. Umso schwerer wog es für Cýelù, dass sie über Siledaús Lamentieren drohten, miteinander in Streit zu geraten. Das sollte nicht sein.
Cýelú hätte sich auch gern mit etwas anderem beschäftigt, aber es war nur wenig Zeit dafür. Die Gefahr, die Siledaú in anschaulichen Bildern schilderte, musste abgewendet werden, nicht nur für den Sohn, nicht nur für die Menschen in Aurópéa, die davon nichts ahnten und nichts wissen wollen würden.. Das gesamte Weltenspiel war in Gefahr.
Und so, wie es aussah, lag die Verantwortung dafür allein auf seinen Schultern und denen der Regenbogenritter. Das war nicht abzusehen gewesen. Natürlich, in all den Sommern, nach den Ewigkeiten, die sie hier im Cielástel, außerhalb der Zeit und unter Pataghiús Schutz gelebt und gewirkt hatten, war ihnen klar gewesen, dass es damals, bei der großen Schlacht gegen die Chaosgeister, keinen Sieg für die Ewigkeit gegeben hatte.
Als die Mächte Ihnen vor – fast – elfSommern völlig unerwartet Advon geschenkt hatten, war ihre Freude und Dankbarkeit unendlich groß gewesen. Elosál und er hatten nicht damit gerechnet, dass es ihnen überhaupt möglich wäre, leibliche Nachkommen zu zeugen. Das war nicht die Art, in der die arcaval’ay ins Weltenspiel gekommen waren.
Es war Pataghiús erster Zug seit Generationen. Dass eine fajía ein Kind gebar, war nie zuvor geschehen, etwas so Unfassbares, dass es eine Bewandtnis damit haben musste. Sie waren alarmiert gewesen. Doch nichts geschah. Im Cielástel wachten sie am Rand der Wüste, bereit, zu bekämpfen und zurückzuschlagen, was sich aus der Wüste nähern mochte. Das hatten sie nicht zum ersten Mal getan. Die fajiaé und die arcaval’ay hatten die Unkundigen bereits beschützt, bevor Aurópéa errichtet worden war.
Dann war Siledaú aufgetaucht, hatte eine Audienz beim Goldenen und der fajia verlangt und war dabei so beharrlich und eindringlich gewesen, dass sie die unkundige Alte neugierig vorgelassen hatten. Hier in der vor Perlmutt und Gold schimmernden und glänzenden, kristallenen Halle hatte Siledaú gestanden, eine vom Alter gebeugte Menschenfrau mit glasklarem Verstand, und von der Vision berichtet, die die Mächte ihr offenbart und sie damit beauftragt hatten, die Hellen Magier zu warnen.
Von dem, was im Norden erwachte. Nicht im Süden, nicht in der Wüste, wie sie es all die Zeit erwartet hatten.
„Niemand stellt deine Gabe in Abrede”, versuchte der Goldene zu beschwichtigen. „Wir sind dir dankbar für all deine Ermahnungen.”
Siledaú schnaubte. „Dann besinnt Euch doch auf das einzige, was zählt. Haltet ihr, ihr Magier, ihr Kämpfer, euch bereit das Grauen aus dem Norden aufzuhalten. Wenn das Grauen euren Sohn erst in die Finger bekommt, werden die Grenzen brechen und das Weltenspiel endgültig in Stücke gehen. Aber macht es gern selbst. Ich dränge mich nicht auf.”
„Wenn wir dir nicht vertrauten”, sagte Cýelú müde, „hätten wir dich dann wohl nicht mit der Aufgabe betraut, ihn hier in Pataghiús Schutz zu behüten?”
„Das ist mir weiterhin eine große Ehre, Meister. Ich helfe gern mit meinen bescheidenen Fähigkeiten, dem Jungen zumindest etwas Bildung und Manieren beizubringen. So müsst Ihr Euch nicht damit abmühen und Eure Künste vergeuden.”
Das war eine Spitze, die nicht nur ihn, den Vater, sondern jeden der anwesenden Magier stach wie ein winziges, aber scharfes Messer. Advon war ein guter, ein kluger und braver Junge, der mit Sicherheit zu einem redlichen und ehrenwerten Mann heranwachsen würde. Zu einem unkundigen Mann.
Man brauche sich darüber nicht zu grämen, hatte Siledaú ihn und Elosál getröstet, als sie der Seherin von ihrem Geheimnis berichteten. Es sei doch nicht anzunehmen, dass sich Magie durch fleischliche Unzüchtigkeiten weitergeben ließe. Dennoch, hatte sie im selben Atemzug hinzugefügt, sei Advon, das Wunder, das Geschenk Pataghíus, der Schlüssel zum Fortbestand, zum Erhalt der Grenzen zwischen Weltenspiel und Chaos.
Wenn das Grauen aus dem Norden seiner habhaft würde, betonte sie, dann wäre das, als zöge man den untersten Stein aus der Mauer heraus, die locker gebaut und von den arcaval’ay nur mit zarter Magie zusammengehalten wurde. Die Mauer würde zusammenbrechen, dem Ansturm nicht standhalten.
Woher sie diese Visionen nähme, hatte Elosál gefragt, misstrauisch, alarmiert. Dass Unkundige Visionen hatten, war mehr als ungewöhnlich.
Pataghíu habe sie nach seinem unergründlichen Ratschluss zur Botin erwählt, hatte Sildeaú bescheiden, demütig geantwortet. Wenn man ihr nicht glaube, so erlaube sie den arcaval’ay, dem Goldenen und der fajija selbst, ihren Geist zu schauen und sich die Vision selbst anzuschauen.
Und das hatten sie getan.
Sildeaú durfte bleiben. Mehr noch, man wollte sie nicht mehr gehen lassen. Das, was sie in ihrer Vision gesehen hatte, war so echt, so wirklich, so lebendig, dass ein Unkundiger es sich nicht hätte ausdenken können. Was sie in der Vision gesehen hatte, konnte ein Unkundiger nicht wissen. Die Vision war echt.
„Es ist gut, Sileaú. Wir vertrauen dir.”
Sildeaú lächelte säuerlich. „Dann möchte ich Euch um ein privates Wort bitten, Meister. Unter vier Augen.”
Die sieben Regenbogenritter verstanden. Ohne weitere Aufforderung verneigten sie sich vor ihrem Anführer und verließen die Halle ebenso schweigend, wie sie die ganze Zeit gestanden und gewartet hatten. Sie gingen gemeinsam, und Cýelù fragte sich, was sie untereinander wohl über Siledaús Auftritt reden würden. Die arcaval’ay waren Advon sehr zugetan. Bei mehr als einer Gelegenheit hatte einer von ihnen ihn angesprochen und gefragt, ob es nicht langsam so weit wäre, Advon in dem zu unterweisen, was ihm zustand. In der Kunst. Im Kampf. In der Magie, und sei es nur in der Theorie.
Zu gefährlich. Und nutzlos. Was sollte Advon mit Buchmagie? Wie leicht könnte er sich daran verletzen? Das Einhorn, das war – unter Aufsicht – in Ordnung. Das Einhorn war so etwas Ähnliches wie der getreue Hund aus seiner Kindheit, der ihn niemals, kein einziges Mal gebissen hatte.
„Die Last wird Euch zu schwer, Euren Sohn zu beschützen, nicht wahr?”, fragte die Alte.
„Ich will nicht viel”, sagte der Goldene matt. „Ich will ihm nur ein guter Vater sein.”
„Das seid Ihr”, tröstete sie ihn und legte ihm vertraut die runzeligen alten Finger auf seine Schulter, auf die Panzerung aus glänzendem Gold. „Und vielleicht habe ich eine Lösung. Allerdings … es wäre wohl nicht gut, wenn die anderen davon erführen.”
Cýelú blickte überrascht auf. „Auch Elosál nicht?”
„Gerade Eure hýardora nicht. Sie könnte versuchen, es Euch aus Sorge auszureden.”
„Ich habe keine Geheimnisse vor Elosál!”
„Für dieses wird sie Euch danken.”
Er zögerte. Dann konnte er sein Interesse nicht mehr verleugnen. „Sprich.”
„Das Grauen, das den Cielástel und das Weltenspiel bedroht”, sagte die Alte, lässt sich vielleicht mit den eigenen Waffen gefügig machen. Sofern Ihr schnell genug seid. Der Moment könnte günstig sein.”
Er horchte auf. Sie blickte ihm tief in seine goldenen Augen und lächelte ihn aufmunternd an.
„Was soll ich tun?”
„Durchkreuzt Noktámas falsches Spiel. Reist in den Boscargén. Beseitigt, was dort nicht sein darf.”
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