
Der báchorkor Galéon saß, als Pataghíus Glanz sich auf seinem Höhepunkt befand, auf dem Dach der Herberge und blickte nach Süden. Hier oben hatte er Ruhe. Zwar drang das geschäftige Lärmen vom Marktplatz kaum gemildert auch bis hier hinauf, aber das konnte lenkte ihn kaum ab. Wichtiger war, dass er freie Sicht hatte. Dazu eignete sich das Gasthausdach ausgezeichnet, denn das mehrgeschossige Gebäude war das höchste unter jenen, die am südlichen Rand der Stadt standen. Er konnte über die flachen Dächer der übrigen Häuser von hier bis zur Stadtmauer hinwegblicken. Die Wüste zeigte sich jenseits der Mauern als ein unendlicher, blendend heller Streif unter einem Himmel, der so klar war, dass sein Blau fast massiv wirkte.
Es war heiß, am Mittag und oben auf dem Dach, aber es gab einen Schatten spendenden Baldachin aus Strohmatten, unter dem ein paar Kissen zum Sitzen bereit lagen. Ab und zu nutzten Gäste der Herberge die Ungestörtheit der schmucklosen Dachterrasse, um Geschäfte (je nach Tageszeit, redlicher oder ungesetzlicher Art) zu verhandeln. Doch im Augenblick war hier niemand, und so konnte Galéon sich auf das konzentrieren, was im Süden, in der Wüste vor sich ging.
Allzu viel war es nicht. Der Mörder des Edelsteinhändlers lebte also noch.
Der báchorkor schaute mit leerem Blick in die Ferne und war zunehmend beunruhigt über diesen Umstand. Es bestätigte ihm, was er schon lange vermutet hatte: In der Tiefe der Wüste gingen Dinge vor sich, die so nicht sein sollten.
Er ließ sich in seiner Beobachtung nicht ablenken, als eine Frau durch die schmale Luke im Boden ebenfalls das Dach betrat. Sie hatte einen kleinen Korb bei sich und stutzte, als sie den jungen Mann bemerkte, der da bewegungslos im Schatten saß.
„Was machst du hier oben in der Hitze?”, fragte sie verwundert.
„Ich musste nachdenken”, antwortete er, ohne sich ihr zuzuwenden.
„Hier? Zu dieser Zeit?”
„Hier ist Ruhe.”
„An deiner Stelle würde ich in die Oberstadt gehen, wenn du Ruhe willst”, empfahl sie. „Da ist es viel angenehmer, mit all den Bäumen und Wasserspielen.”
„Vielleicht später”, sagte er geistesabwesend.
„Wen ich die Muße dazu hätte”, redete sie unbeeindruckt weiter, „ich würde jeden Tag dorthin gehen. Da ist noch alles in Ordnung.”
„So?”
„Ich würde gerne da leben. Aber die feinen Leute, die Alten und ihre Wächter passen schon auf, dass unsereiner nicht zu nahe kommt.”
Nun wandte er sich ihr zu. Sie bemerkte es nicht und begann, den Inhalt ihres Korbes in eine Darre zu leeren und ihn auszubreiten. Würzschoten und süße Früchte hatte sie gebracht, die hier in der Sonnenhitze schnell trocken und haltbar gemacht würden.
Er erkannte sie, ohne zu wissen, wer genau sie sein mochte. Offenkundig gehörte sie zum Gasthaus, an den beiden Abenden zuvor war sie als Schankmädchen mit der Bewirtung der Gäste beschäftigt gewesen. Tagsüber, in der Zeit, in der Aurópéa die biedere Maske trug, war sie wahrscheinlich in der Küche beschäftigt. Sehr wahrscheinlich leistete sie in den dunkelsten Stunden ganz andere Dienste, vielleicht auf eigene Rechnung, vielleicht für den Gastwirt. Sicherlich verstand sie es, Begierde zu erwecken, aber die Zeit begann, ihren Liebreiz zu verwischen.
Er beobachtete sie eine Weile nachdenklich, während sie mit den Früchten beschäftigt war. So viele unschuldige Träume, ganz, ganz klein und kostbar im hintersten Winkel ihres Herzens. Wie mochte sie hierhergekommen sein? War sie schon immer hier gewesen?
„Was hattest du mit dem Kerl zu schaffen, der vorgestern den Kerl abgestochen hat?”
Aha. Das war dem Nachtvolk also aufgefallen. Nun, er hatte sich nicht darum bemüht, es geheim zu halten.
„Nichts weiter. Ich bin ihm nie zuvor begegnet.”
„Dafür habt ihr euch aber ziemlich lange unterhalten.”
„Ich wollte probieren, ob ich von ihm etwas zu hören bekomme, was mir für eine neue Geschichte taugt.”
Sie schnaubte. „Zeitverschwendung. Sowas passiert hier alle Tage.”
„Hier vielleicht. In Forétern kann ich daraus eine Schauererzählung machen.”
Sie stellte den Korb ab und wischte sich die von den Früchten klebrigen Hände an ihrer fleckigen Schürze ab. „Ach, Forétern … das ist weit, weit im Osten, nicht wahr?”
„Sehr weit.”
„Bist du dort schon gewesen?”
„Ja”, antwortete er belustigt. Mehrfach sogar.
„Wie ist es da?”, fragte sie begierig und kam näher.
Der báchorkor seufzte lautlos. Um ihn mit ihrer Neugier abzulenken, hatte sie sich einen denkbar schlechten Moment ausgesucht.
„Es ist ein sehr reiches teirandon“, sagte er. „Viele kleine yarlmálon, alle inmitten von immergrünem Wald mit fremdartigen Bäumen und Sträuchern und Blumen, so bunt und prächtig, wie du sie dir kaum vorstellen kannst.”
„Blumen?”, fragte sie, überrascht über eine solche Nebensächlichkeit..
„Wenn sie still sitzen, ist es schwierig, Schmetterlinge von Blüten zu unterscheiden.”
„Stimmt es, dass sie Häuser aus Gold und Edelsteinen bauen?”
Er zögerte und versuchte einzuschätzen, wie wahrscheinlich es war, dass diese Frau jemals das ferne fremdartige Reich südlich des Montaziél zu Gesicht bekommen würde. Benötigte sie einen bunten Traum, ein Märchen, oder eine exakte Ortsbeschreibung?
„Nur die ganz Reichen”, behauptete er dann vage.
„Ich wünschte, ich könnte auch weg von hier”, sagte sie sinnend. „Es geht immer weiter nieder mit dieser Stadt.”
„Das ist wohl wahr. Man ist seines Lebens hier nicht mehr sicher, scheint mir.”
„Ach”, schnaubte sie, als wolle sie zu einer ausführlichen Gegenrede ansetzen. Aber sie besann sich eines Besseren und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Mit dem Dörrobst war sie zum Ende gekommen, aber auf dem Dach hing auch noch Wäsche, ausgeblichene, zerschlissene Laken und ein wenig Kleidung. Offenbar war all das trocken genug, sodass sie es abhängen und den bereitstehenden Wäschekorb legen konnte.
Galéon schaute wieder in die Wüste. Der Blick des Raubmörders, der dort auf sein Ende wartete, vermengte sich wieder mit dem, was der junge Mann auf dem Dach sah, nämlich Sand, Sonne und diesem unwirklich blauen Himmel.
Der báchokor faltete die Hände und stützte das Kinn darauf. Worauf warteten sie? Warum hatten sie den Unglücklichen nicht längst hinter die Träume gebracht? Was geschah in der Wüste mit denen, die Aurópéa auslöschen wollte?
Für einen Moment ärgerte er sich, dass er mit dem Verbrecher nur um dessen Blick gehandelt hatte, nicht gleich um dessen Geist. Davor war der junge Mann zurückgeschreckt; nicht, weil er es nicht vermocht hätte, eine mentale Verbindung mit dem Delinquenten herzustellen. Vielmehr wäre es ihm taktlos vorgekommen, in jenem Moment die Gedanken und Gefühle zu erspüren. Dieser Moment war eine Sache zwischen dem Sterblichen und dem Licht, etwas, das keinen Außenstehenden etwas anging, was nicht gestört werden durfte.
Nun aber, das erkannte er mit jedem Atemzug, der verging, begriff Galéon, dass er so in seiner Suche nach der Wahrheit nicht weiter kam. So, wie es aussah, würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als abzuwarten und an einem der nächsten Tage ein neues Opfer auszumachen, das mit dem Gesetz in der Stadt in Konflikt geriet und in die Wüste gebracht würde. Dann würde er um etwas noch kostbareres handeln müssen. Bei den Mächten, warum war das alles so kompliziert?
„Mich lässt die Geschichte dieses armen unglücklichen Kerls nicht los”, begann er.
„Der hat sich doch selbst zuzuschreiben, was geschehen ist”, antwortete sie verächtlich. „Hätte sich eben nicht erwischen lassen dürfen.”
Vielleicht hätte er einfach auch niemanden aus Gier ermorden dürfen, dachte Galéon. Aber die fragwürdigen Moralvorstellungen der Bewohner von Aurópéa irritierten ihn schon lange nicht mehr. Doch das war jetzt nicht wichtig.
„Wann ist der konsej dazu übergegangen, Hinrichtungen in die Wüste zu verlegen?”, fragte er beiläufig.
Sie hielt einen Augenblick mit ihrer Wäsche inne und dachte nach. „Das muss so acht, neun Sommer her sein”, sagte sie dann. „Seit der sínor [~ Ratsälteste] Úldaise im Amt ist. Wenn du mich fragst … es war keine gute Entscheidung. Aber er hat sich wohl durchgesetzt.”
„Was war seine Begründung?”
„Ach … da musst du jemand anderen fragen. Ich war damals noch ein kleines Mädchen.”
Du warst ungefähr fünfundzwanzig Sommer alt, dachte Galéon amüsiert. „Und warum war es keine gute Entscheidung?”
„Na ja. Wenn es zu unruhig in der Stadt wurde und der konsej vor allen Augen durchgegriffen hat, war es anschließend eine Weile ruhig. Es …” Sie zögerte, suchte nach Worten. „Wenn in der Küche Suppe im Topf siedet, muss man rechtzeitig den Deckel herunter nehmen.”
„Das ist ein überaus seltsamer Vergleich.”
„Jedenfalls hat der Alte Úldaise dafür gesorgt, dass die fýntaray ihre Sache jetzt in der Wüste tun. Vielleicht war denen in der Oberstadt der Trubel zu groß geworden, den es an jenen Tagen sonst immer gegeben hat.”
Trubel. Was für ein niedliches Wort für das, was Galéon vorgefunden hatte, als er bei früheren Reisen in Aurópéa verweilt hatte. In der Tat hatten in früheren Zeiten die Vollstreckungen in einer seltsamen Atmosphäre stattgefunden, einer Gemengelage aus Sensationsgier, Abscheu, Faszination und Volksfeststimmung . Der konsej hatte damals für lange, lange Zeit auf die abschreckende Wirkung gesetzt und tatsächlich erreicht, dass sich aufgestaute Emotionen der Bewohner der Stadt hatten entladen können, ja, vielleicht tatsächlich wie der Druck, der sich im Suppentopf aufbaute. Es hatte Klarheit geschaffen. Jene, die Opfer von Verbrechen gewesen waren, hatten eine schale Vergeltung bekommen, etwas, was sie für Gerechtigkeit halten mochten, was aber letztlich nichts ungeschehen machte. Andere mochten Widersacher und Konkurrenten der eigenen Sache aus dem Weg geräumt gesehen haben, und Machtpositionen im Nachtvolk waren neu vergeben worden. Eine in irgendeiner Weise abschreckende oder lindernde Wirkung hatte es jedoch nie gehabt.
Galéon hatte niemals verstanden, warum Menschen sich aus niederen Motiven diesem Risiko aussetzten. Aber so schien es überall im Weltenspiel zu sein, wenn auch nirgends in einem solchen Extrem wie in Aurópéa.
Was war mit dieser Stadt geschehen? Und was geschah in der Wüste? Oder vielmehr: Warum geschah dort offenbar überhaupt nichts? Der Mörder sah genau dasselbe, wie der junge báchokor auf dem Dach: Sand. Sonne. Harten blauen Himmel. Und die Zeit verging.
Seine Gedanken schweiften ab, während die Frau mit ihrer Wäsche wieder ins Haus hinabkletterte. Ob er hier seine Zeit verschwendete? Oder vielmehr … ob er in einer falschen Richtung suchte?
Eigentlich, so versuchte er es sich einreden, spielte es überhaupt keine Rolle, auf welche Art und Weise der Mörder in der Wüste dem Licht begegnen würde. Seine eigene, persönliche Suche hatte ein gänzlich anderes Ziel, und dass er sich nun mit der neuen Methode auseinandersetzte, mit der der konsej von Aurópéa sich seiner Missetäter entledigte, war nur ein Detail, das ihm an Rande seiner eigenen Geschäfte ins Auge gefallen war.
Als der báchorkor erstmals davon gehört hatte, hatte er noch angenommen, es sei eine Erwägung von Sittlichkeit, von Respekt, vielleicht auch von Mitleid gewesen. Dann hatte ihn die Neugier gepackt. Er hatte versucht, mehr herauszufinden, das Wie und Warum zu ergründen. Etwas hatte sein Interesse an Aurópéa neu entfacht, was umso erstaunlicher war, da Galéon sich zu einer Vielzahl anderer Orte auf der Welt instinktiv weitaus mehr hingezogen fühlte als zu dieser seltsamen Stadt am Rande von Soldesér.
Das, wonach er suchte, das spürte der weitgereiste báchokor, befand sich nicht annähernd an diesem Ort. Und doch … etwas, eine Ahnung, eine Überzeugung, vielleicht auch nur eine Einbildung sagte ihm, dass er hier etwas finden würde, das ihn vielleicht an sein Ziel führen konnte.
Vielleicht war es der Umstand, dass niemand, wirklich niemand zu wissen schien, was in der Wüste geschah. Es gab keinen winzigen Hinweis, aus dem sich etwas machen ließ, sobald weitere Teile hinzukamen.
Galéon hielt sich schon eine geraume Zeit in der Stadt auf, hatte in jedem der Stadtteile einige Tage verbracht und sich unter dem Nachtvolk umgehört. Zu seiner Beunruhigung hatte er auch jeden Tag Menschen in den Zellen an den Marktplätzen gesehen, die am nächsten Morgen verschwunden und in kurzer Zeit durch andere ersetzt wurden. Er hatte zunächst unverbindlich, dann direkt gefragt, sich peinlich berührte Blicke ebenso zugezogen wie offenen Unmut (und in letzterem Fall schnell seine Herberge gewechselt), aber immer hatte seine Frage dieselbe Antwort ergeben: Stadtwächter brachten die Verurteilten in die Wüste und überantworteten sie dort den fýntaray. Wer diese fýntaray seien, hatte er gefragt, mit der Arglosigkeit, die nur ein Fremder, und noch dazu ein báchorkor auf der Suche nach Geschichten haben durfte.
Man wisse es nicht. Seit der neue konsej im Amt war, seien die Wächter mit den Verurteilten allein losgezogen. Die fýntaray, deren Identität niemand kannte, würden erst in der Wüste hinzukommen.
Daraufhin hatte Galéon versucht, mit Stadtwächtern ins Gespräch zu kommen, ohne Erfolg, denn die meisten dieser Männer hatten keine Ahnung, waren noch nie auf einer solchen Mission gewesen. Höchste Geheimhaltung, so hatte man sie angewiesen. Und einer hatte auf beunruhigende Weise angefangen, Galéon auszufragen, wie in der Hoffnung, den jungen Mann selbst irgendeiner Untat überführen zu können, sodass er mit eigenen Augen schauen könne, wie der konsej richtete.
Einmal hatte Galéon in einer dunklen Gasse fürchterliche Prügel bezogen, von einem Mann, der sich selbst als ehemaliger fýntar des konsej entpuppte, der entlassen worden war, kurz nachdem der Alte Úldaise ins Amt gekommen war. Galéon konnte sich gerade noch entsinnen, den vierschrötigen Mann kurz zuvor in einer besonders schmuddeligen Taverne gesehen zu haben, wo er offensichtlich nun dafür zu sorgen hatte, dass Handgreiflichkeiten unter den Gästen nicht allzu sehr ausuferten. Das war interessant gewesen, denn offensichtlich hatte Galéon mit seinen Nachforschungen an etwas gerührt, das nicht jedem in Aurópéa gefiel. Also der báchorkor mehr tot als lebendig wieder zu sich gekommen war, stand für ihn außer Frage, dass das Schicksal der Verbrecher von Aurópéa ein Mysterium oder zumindest ein sehr undurchsichtiger Plan sein musste. Vorsichtshalber hatte er sich daraufhin einige Tage außerhalb der Stadt aufgehalten und bei dieser Gelegenheit selbst beobachtet, wie ein Trupp Verurteilter in die Wüste gebracht worden war. Die Wächter waren nach einigen Stunden wieder zurückgekehrt, nicht weit nach Pataghiús höchster Pracht. Dieser Zeitpunkt war bereits verstrichen, wie Galéon an den Gongschlägen hören konnte, mit denen die Stadtbewohner sich den Tag einteilten.
Warum hatte der Mörder das Licht noch nicht erblickt?
Galéon schaute hinüber zum Cielástel, der Burg direkt neben der Stadt, die mächtige Festung, die aus Gold, Perlmutt, Kristall und Regenbögen erbaut zu sein schien und unter der Sonne schimmerte und schillerte.
Ob die arcaval’ay davon wussten? Ob es sie interessierte? Wie weit reichte das Gelöbnis, sich niemals mit Magie in die Belange der Menschen einzumischen? Nahmen die fajía und ihre Getreuen überhaupt noch Anteil am Weltenspiel? Wer konnte das wissen? Nur sehr wenigen ujoray war der Zugang zum Cielástel überhaupt gestattet, den Mitgliedern des konsej natürlich und einigen ausgewählten Unkundigen. Umgekehrt war sah man niemals Regenbogenritter innerhalb der Stadtmauern. Dass die Burg unmittelbar neben der Festung von Pataghíus Dienern entstanden war, hatte vor langer, langer Zeit, weit bevor die Magischen Kriege ausgebrochen waren, gute Gründe gehabt. Die Unkundigen hatten damals den Schutz der Hellen Magier gesucht, und diese, sowohl die fajíaé als auch die geheimnisvollen Krieger, hatten ihn gern gewährt. In den Magischen Kriegen war Aurópéa ein Zufluchtsort gewesen. In den Chaoskriegen indes, lange danach, war die Ordnung ins Wanken geraten. Die arcaval’ay hatten damals gesiegt, aber in den Augen der Unkundigen ebenso versagt. Sicher waren die Dinge, die damals geschehen waren, weit komplizierter als das, was man ihm, Galéon, darüber erzählt hatte.
Ob man ihn, den fahrenden Geschichtenerzähler, einlassen würde? Ob die fajía ihn anhören würde?
Der báchorkor wischte den Gedanken beiseite. Was wollte er den Hellen Magiern denn schon sagen? Dass es in Aurópéa immer hemmungs- und skrupelloser zuging? Das war ihnen wahrscheinlich längst bekannt. Dass sie eingreifen müssten, die Stadt davor bewahren, selbst immer weiter auf den Abgrund hineinzustolpern? Was sollten sie tun? Was ging sie das an? Solange die Menschen nicht gegen den Cielástel und seine geheimnisvollen Bewohner aufrührerisch wurden, gab es keinen Grund dazu. Aurópéa war eine freie, unabhängige Stadt, die den Schutz der Magier weder benötigte noch wollte. Und wenn es den Unkundigen einfiele, aus Übermut gegen die Magier aufzustehen, die nichts anderes mehr taten, als in einem (zugegeben, sehr eindrucksvollen) Gebäude in Sichtweite der Stadt zu leben … nun, sachlich betrachtet wäre das ein Frevel gegen Pataghíu. Und das wäre eine Sache, vor der selbst die übelsten Schurken Aurópeás zurückschrecken würden. Vorläufig.
Der Mörder, der jetzt, in diesem Moment, irgendwo in der Wüste auf seine Begegnung mit dem Licht wartete, sah Sand, Sonne und den blauen Himmel, strahlend blau noch für eine Weile, bis dass harte Blau aufweichen und mit samtigem Violett und später dunklem Nachtblau verschmelzen würde, bis in die tiefe Nacht. Dann wäre der Himmel über Soldesér überreich geschmückt mit Noktámas funkelndem Geschmeide, kaltem, klarem Sternenglanz angenehmer Kühle, unter der die Welt aufatmen konnte.
Und dann? Was würde weiter geschehen?
Der báchorkor schaute mit starrem Blick ins Leere, in den Süden. Dorthin, wo hinter dem Horizont das Feuer vor dem Chaos ohne Flammen und Rauch loderte und die Welt zu Ende war. Forscoray [~ Wissenschaftler] hatten zu allen Zeiten versucht, sich dem Chaos von dieser Seite zu nähern. Aber die, die tatsächlich zurückkehrten, um von ihrer Reise zu berichten, hatten nicht viel zu sagen, abgesehen davon, dass es im Süden immer heißer wurde, so heiß, dass es Menschen und Tieren unmöglich war, sich den Grenzen der Welt noch weiter zu nähern. So heiß, dass der Sand zu flüssigem Glas wurde. Die südliche Grenze war somit weit weniger erforscht als die nördliche, wo das Chaos das Meer begrenzte.
Ob dem Unglücklichen, der immer noch auf denjenigen wartete, der sein Leben zu einem Ende führen sollte, wer immer das letztlich sein mochte, bewusst war, dass sich buchstäblich am äußersten Bereich der Welt befand?
„Ich hoffe, meine Worte haben dir die Kraft gegeben, Freund”, murmelte Galéon. „Was immer dir Schreckliches geschehen mag, sei unbesorgt. Das Licht …”
Der báchorkor stockte und kniff die Augen zusammen. Da war etwas. Etwas bewegte sich in dem überlagernden Bild. Der Blick des Mörders, der vor seinem eigenen lag wie ein leicht rauchiges Glas, nahm etwas wahr. Etwas, das noch weit entfernt war, so gerade eben in den Bereich des Erkennbaren rückte.
Der báchorkor stand auf und hob verwirrt die Brauen. Was war das?
Es war … groß. Nein, eigentlich nicht groß, nicht übermäßig. Und es war nicht nur eines. Und es war schnell. Es war absurd schnell, so wie es herankam, nein, geradezu heran schoss wie ein Pfeil, der von einer Bogensehne schnellte.
Es war …stark. Es war … zerstörerisch.
Und es war ganz gewiss kein fýntar mit einem Beil oder einer Schlinge.
Galéons Herz begann, schneller zu schlagen. Bei den Mächten! Was war das?
Das Bild vor seinen Augen begann, zu springen und zu zittern. Der, dessen Augen es sahen, versuchte panisch, seinen Blick davon abzuwenden, aber es gelang ihm nicht. Schon war es da, hatte ihn fast erreicht, war plötzlich überall und um ihn herum, oben, unten, es griff nach ihm, es war in ihm und es war viel und stark und grässlich.
Der báchorkor griff nach den Stangen, die den Strohmattenbaldachin hielten und ächzte. Seine Finger umkrampften das Holz so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sein Köper wehrte sich dagegen, stemmte sich dem Irrsinn, den wild aufflackernden Farben, Lichtern und Bildern entgegen, die durch die Wahrnehmung des Mörders zuckten und mit denen er, der junge Mann, der einen Vierteltag des Weges entfernt auf einem Dach stand, untrennbar verbunden war.
Galéon sah, fühlte und litt. Er wollte sein Entsetzen herausschreien, wie es wohl sein Medium, alle jene, die heute in der Wüste den Tod finden sollten gerade in diesem Moment taten. Ihre Schreie verhallten ungehört in der Weite unter der heißen Sonne. Seiner Kehle entfuhr kein Laut, denn seine Kiefer waren verkrampft, so fest, dass seine Zähne zu brechen drohten. Was immer die Unglücklichen in der Wüste anfiel, es traf auch ihn und warf ihn zu Boden.
Und dann sah er es vor sich und ihm war, als zerspringe sein Herz, wie ein Schlauch, in den man zu viel Wasser zwängte.
Als das Schankmädchen kurz darauf mit einem weiteren Korb feuchter Wäsche auf das Dach zurückkehrte, fand sie den báchorkor unter dem niedergerissenen Mattendach begraben auf den Kissen. Seine Augen waren blank, fast gläsern, und starrten ohne zu blinzeln in die Sonne. Vor seinem Mund stand weißer Schaum, mit etwas Blut vermischt. Seine rechte Hand war so verkrampft, dass er damit die Baldachinstange durchgebrochen hatte wie einen dünnen Stock. Holzsplitter hatten sich fest in seine Hand gebohrt, es blutete
Die Frau betrachtete ihn einen Moment erschrocken und entschied sich dann, einen Blick in die Gürteltasche des báchorkor zu tun. Ein paar Kupfermünzen waren darin, die steckte sie ein. Dann rief sie durch die Dachluke nach jemandem, der ihr zur Hilfe kommen sollte, ihn fortzuräumen.
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