
Gor Lucegath rappelte sich auf. Was immer ihn von den Füßen gerissen und mit Wucht von mir weg und vom Tisch heruntergestoßen hatte – es war wütend gewesen. Es hatte Ähnlichkeit mit jenem Zauber, durch den einst ein toter Baum im Boscargén umgestürzt wurde, um mich von Pianmurít fernzuhalten. Aber … es fühlte sich ganz anders an. Es war keine dunkle Magie, es ähnelte nicht dem, was mir zwischenzeitlich so vertraut geworden war. Es war … unbegreiflich. Es war durch Schrecken und Zorn hochpotenziert und so gefährlich, dass alle ringsum verstummten. Sogar das wahnsinnige Kreischen der teiranda verebbte abrupt.
Die plötzliche Stille war zu viel für meine Nerven. Ich schluchzte hysterisch auf.
„Yalomiro”, hörte ich mich flüstern. Aber ich wagte nicht, aufzublicken. Zu groß war meine Angst, dass all dies nicht wahr, eine weitere Täuschung sein könnte.
Seine Hand legte sich sacht über meine, die immer noch auf der Geige ruhte. Eine Welle aus Geborgenheit erfasste mich.
Yalomiro sang. Ganz, ganz leise. Er zauberte. Doch diesmal war es Schattensängermagie. Er heilte.
Durch den Tränenfilm vor meinen Augen hindurch sah ich verschwommen, wie der Leim aufschimmerte. Ich spürte, wie das Holz massiv wurde.
Die Geige lebte wieder.
…
Asgaý von Spagor konnte sich nicht erklären, wie er an diesen seltsamen Ort gekommen war. Eben noch hatte er in der klaren Nacht unter dem Sternenhimmel am Strand das verstörende Gefühl gehabt, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Nun stand er in einem flimmernden, farblosen … Nebel oder Zwielicht und wusste nicht, was er tun sollte.
Zumindest hatten Althopian und Emberbey ihn nicht verlassen. Auf die beiden war Verlass. Niemals würden sie ihn im Stich lassen. Das hatten sie geschworen. Aber auch die beiden Ritter aus Valvivant hatte es irgendwie hierher verschlagen.
Die fünf Männer, die gemeinsam in einen Alptraum gestürzt waren, rappelten sich auf. Auch das Mädchen, diese vorlaute junge doayra war bei ihnen. Sie starrte erschreckt ins Leere und hielt Waýreth Althopians Arm umklammert.
Sie waren nicht allein.
Drei weitere Ritter, deren Farben und Wappen er nicht zuordnen konnte, stierten sie ebenso verstört, aber mit weitaus geringerer Überraschung an. Sie alle hatten ihre Hände an einer zierlichen, bleichen Frau mit zerrissenen, kostbaren Gewändern und blutigen Schrammen auf den weißen Armen. Die Dame wimmerte vor Angst. Sie hatte wunderschöne wasserblaue Augen.
Asgaý von Spagor gab sich einen Ruck und tappte unsicher einen Schritt auf sie zu. Dieser sonderbare Raum hatte zumindest so etwas wie ein solides Oben und Unten. Die Glöckchen an seinem Gauklergewand klingelten munter durch die Leere.
„Edle Dame?”, fragte er besorgt. „Seid Ihr die teiranda in Not?”
Die junge Frau schaute ihn entgeistert an. Dann erhellte sich ihr Blick. Sie erkannte ihn. Und er erkannte sie. Die Mächte hatten sie einander begegnen lassen, hier, mitten in der Unwirklichkeit. Was für ein unfähiger Künstler ihr Abbild erschaffen hatte!
„Ja”, brachte sie hervor. „Bitte rettet mich, edler Herr!”
…
Waýreth Althopian entschied sich dafür, fürs erste einfach davon auszugehen, dass er erneut betrunken oder berauscht von Isans Arznei war und noch angeschlagen von der Auseinandersetzung mit dem Schattensänger. Als er Altabete, Grootplen und Moréaval sah, war er beinahe erleichtert.
Aber nur für einen Augenblick. Dann zog er sein Schwert. Man konnte nicht wissen, was Lebréoka und Tjiergroen in den Sinn kommen mochte.
„Waýreth! Wo kommst du her? Wer sind diese Leute?”, fragte yarl Altabete und ließ die teiranda los.
„Ich bin yarl Léur Tjiergroen, mynstir von Benjus von Valvivant”, stellte der mit dem grünen Waffenrock sich vor. Auch er war kampfbereit, wusste wohl ebenso wenig, was er von den drei Rittern zu halten hatte, vor deren Füßen sie so unverhofft gelandet waren.
„Mein Name ist Gundald Lebréoka” schloss der rot-weiß gewappnete Mann sich an. „Wo sind wir?”
„Ihr seid in Pianmurít, edle Herren.”, mischte sich der Rotgewandete ein. Der Lichtwächter war bei ihnen, zum Greifen nah und zugleich außerhalb ihrer Reichweite, hinter einem Tisch. Die fánjula lag darauf, und der Schattensänger stand davor, kehrte ihnen den Rücken zu und etwas silbriges flimmerte um ihn herum, wie ein Wetterleuchten. Besorgt hatte er sich über sie gebeugt. Er kümmerte sich nicht um die yarlay und das Kind.
„Welch ein Fest. die edelsten Ritter diesseits des Montazíel in meiner Domäne versammelt zu sehen”, sagte der Rotgewandete. „Ich werde mich gleich um Euch kümmern.”
„Der Lichtwächter!”, rief Isan erschrocken.
„Noch mehr Zauberei!”
„Magie, Herr Alsgör, macht vieles um Einiges einfacher. Aber es ist noch nicht an der Zeit, dass Ihr etwas dazu beitragen könntet. Von Euch ist noch Geduld gefordert. Eines nach dem anderen.” Der Rotgewandete warf einen Zauber nach der Gruppe, so als wolle er etwas verscheuchen und ließ die Unkundigen, so wie sie gerade standen, in der Bewegung erstarren …
…
„Und nun zu dir, Yalomiro Lagoscyre”, sagte Gor Lucegath. „Du bist also doch noch zurückgekommen.”
„Natürlich. Wir hatten einen Pakt, Meister Gor.”
„Du hast dir Zeit gelassen.”
„Ich bin ein Schattensänger. Meinesgleichen hat einen Hang zu überraschenden Auftritten.”
„Ich hatte dich früher erwartet.”
„Ich bin wohl gerade noch im rechten Moment gekommen, bevor Ihr Euer Wort brechen konntet. – Steh auf, Ujora. Komm herunter von diesem grässlichen Möbel.”
Ich setzte mich auf und bebte immer noch am ganzen Leib. So schnell ich konnte rutschte von der Tischkante herab. Meine Knie gaben nach, so heftig zitterte ich. Er fing mich auf und schloss mich in die Arme. Ich tauchte unter seine maghiscal, schnappte gierig nach seinem wunderbaren Duft und klammerte mich an ihn. Er war bei mir. Nun würde alles gut werden! Alles!
„Bist du unversehrt?”, fragte er leise. „Hat er dich verletzt?”
Ich schüttelte den Kopf. „Arámaú”, brachte ich sinnlos heraus. „Arámaú ist … sie ist …”
„Ruhig”, wisperte er und drückte mich fest an sich. „Ich weiß. Ich weiß es. Es ist alles in Ordnung.”
Meine Nerven waren am Ende. Und dass er da war, dass er lebte und mich in seinen Armen hielt, machte mich so glücklich und entsetzte mich zugleich so sehr, dass ich einfach nicht wusste, wohin mit meinen Gefühlen. Eine erlösende, dumpfe Leere breitete sich in meinen Gedanken aus. Ich konnte nicht aufhören, zu weinen.
„Du bist wieder da”, stammelte ich. „Du bist zurückgekommen …”
„Ich würde niemals einfach … weggehen”, sagte er schlicht und schmiegte seine Wange an meine Stirn. Aus der Leere wurde Wärme, wurde Frieden, wurde Glück und breitete sich über mein Denken aus.
„Wenn mir nicht Euer eigener Plan in Gestalt von yarl Althopian so viel Zeit geraubt hätte, Meister Gor, wäre ich schon früher hier gewesen. So musste ich mitsamt der unglücklichen ujoray den Umweg über Euren zugegeben meisterlichen Spiegelzauber nehmen.”
„Ich danke dir aufrichtig für dieses Lob. Aber hätte der Ritter dich nicht aufgehalten, hättest du mir nicht genau im richtigen Moment die yarlay gebracht, die ich just jetzt und hier an dieser Stelle haben wollte. Gut gemacht, Yalomiro Lagoscyre.”
„Es muss äußerst kompliziert gewesen sein, all diese Dinge so exakt aufeinander abzustimmen. Meine Hochachtung, Meister Gor. Eure Kunst und Euer Bestreben sind über alle Maßen beeindruckend.”
Der Rotgewandete wartete. Draußen, jenseits des Glücks, das Yalomiros Gegenwart schützend um mich herum wob wie eine warme, Decke, wie ein Schild, strömte erneut etwas von Gor Lucegath aus. Es kristallisierte um ihn herum; eine Magie, die nach und nach frei wurde und sich aufstaute, wie eine ungeheuerliche, eine mächtige und nahezu massive maghiscal. Und wieder war da der seltsame Doppelklang in seiner Stimme. Offenbar sammelte er Kraft für einen ungeheuerlichen Zauber. Ungeachtet der Geborgenheit um mich herum wurde mir angst und bange.
„Ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt, Yalomiro Lagoscyre. Ich habe ihr den Rückweg in ihre Welt geöffnet.” Er nahm den Weltenschlüssel vom Tisch und warf ihn Yalomiro zu. „Sie hat abgelehnt. Nur deshalb ist sie noch hier. Aus freien Stücken.”
„Ist das wahr, Ujora?”, fragte Yalomiro und schnappte das Werkzeug beiläufig auf.
Ich nickte.
„Warum? Du hättest dich retten können!”
Ich umklammerte ihn fester. Ich konnte nicht sprechen.
Ich will bei dir bleiben! Bitte, lass mich bei dir bleiben! Und wenn ich hier sterbe, ich will bei dir bleiben!
Einen Augenblick lang regte er sich nicht. Für einen viel zu langen, schrecklichen Moment fürchtete ich, er sei verärgert, oder enttäuscht. Dann umarmte er mich noch einmal fest. Seine maghiscal umspielte mich mit einer sonderbaren Zärtlichkeit und Kraft, eine Empfindung, die mich irritierte. Es fühlte sich bestürzend an. Fast wie … wie ein Abschiedsgruß.
„Vertrau mir. Sei stark. Sei weise. Und misstrauisch”, wisperte er, steckte den Schlüssel ein und schob mich dann sanft von sich, hinaus aus seiner maghiscal. Schneidend griff die Kälte nach mir. Ich stöhnte auf.
„Wenn du dich verabschieden möchtest, Yalomiro Lagoscyre”, sagte der Rotgewandete, zwischenzeitlich völlig unnahbar und unerträglich anzuschauen, „es könnte sein, dass Arámaú Boscargén noch für ein paar Atemzüge Leben in sich hat.”
Yalomiro senkte den Blick. Dann schritt er durch die diffuse Leere hinüber zu dem reglosen Körper, der etwas abseits vom Tisch auf dem Nichts lag. Er neigte sich darüber, ließ sich dann auf ein Knie nieder, drehte sie auf den Rücken und richtete ihren Oberkörper auf, lehnte sie an sein gebeugtes Bein.
Ich konnte seine Emotionen spüren, auch wenn ich bis heute nicht weiß, wie das möglich war. Trauer warf sich der Kälte entgegen. Arámaú lag schlaff in seinen Armen. Ihr Kopf lehnte an seiner Schulter. Einen Augenblick lang hockte er Stirn an Stirn mit ihr schweigend, vertraut, innig. Ich weiß nicht, wie lange er so verharrte, wahrscheinlich nur einen kurzen Augenblick. Mir erschien es wie eine Ewigkeit.
Es lag eine seltsame Intimität in der Art, wie er sie festhielt. Aber diesmal regte sich keine Eifersucht in mir. Ich begriff ohne jede Erklärung, dass die beiden in einer Art miteinander vereint waren, die voller Unschuld und Wärme gewesen sein musste. Etwas, das sie verbunden hatte wie Seelenverwandte. Wie Geschwister.
Wahrscheinlich tauschten sie untereinander Gedanken aus. Möglicherweise ersetzten die wenigen Augenblicke eine lange Zwiesprache, zu der Arámaú nicht mehr fähig gewesen wäre. Dann griff er an seinen Kragen und zog etwas hervor, das er um den Hals unter seinem Hemd getragen hatte. Es sah aus, als wolle er der Schattensängerin zeigen, was er mitgebracht hatte. Aber er kam nicht mehr dazu. Arámaús Haupt hatte keinen Halt mehr und kippte zur Seite.
Yalomiro verharrte noch einen Augenblick still. Dann legte er den Körper sacht ab und verneigte sich. Einen Moment kniete er neben ihr, die Schultern gebeugt, die Hände gramvoll vor seinem Gesicht.
Es gibt keine Worte, um das zu beschreiben, was ich angesichts dieser stillen Szene empfand. Zu meiner Bestürzung war Erleichterung dabei. Arámaú hatte das Weltenspiel also hinter sich. Sie musste keine Angst mehr haben. Nie wieder.
In das erdrückende Gemenge von Kälte und Trauer mischte sich Ungeduld. Der Rotgewandete setzte sich in Bewegung, aber Yalomiro stand bereits wieder und kam zurück an den Tisch. In der Hand hatte er nun einen kleinen Beutel.
„Gib es mir”, forderte Gor Lucegath kalt.
„Ich weiß nicht, ob ich das wirklich tun sollte”, sagte Yalomiro ruhig.
„Wir hatten eine Abmachung”, erinnerte der Rotgewandete ebenso gelassen.
„Die habe ich erfüllt. Ich habe Euch gelobt, das ay’cha’ree herzubringen. Ich habe nie gesagt, dass ich es Euch aushändigen würde.”
„Was soll das heißen?”
„Nimm du das hier.”
Ich benötigte einen Moment, um zu begreifen, dass er mit mir sprach. Verständnislos blickte ich auf den kleinen Lederbeutel an einer Schnur, den er mir entgegenstreckte.
„Was soll das?”, fragte der goala’ay.
„Sie kann es nicht verwenden. Bei ihr ist es sicher, solange wir reden.”
„Reden? Du willst reden?”
„Ja. Ich will das vollenden, was Ihr damals, im Etaímalon, mit meinem Meister hättet bereden sollen.”
„Es gibt nichts weiter zu sagen, Schattensänger!”
„Dann wird es Euch erst recht nichts ausmachen, wenn sie es einen Augenblick lang an meiner Stelle festhält. Vielleicht wird es für Euch hernach sogar bequemer, denn sie kann Euch nichts entgegensetzen, um es zu verteidigen.”
Beide schauten mich an.
„Nimm es, Ujora. Ich bitte dich. Es wird mir zu schwer. Nun bist du an der Reihe.”
Ich streckte meine Hand nach dem Beutel aus, aber ich zögerte. Wenn in diesem Säckchen tatsächlich das ay’cha’ree steckte, das mächtigste magische Artefakt aller Zeiten – konnte ich es gefahrlos anfassen? Das war etwas so Eindrucksvolles, so Gewaltiges, viel Kostbareres, als ich es mir überhaupt vorstellen konnte. Und vielleicht gerade aus diesem Grund – harmlos.
Ich griff danach und hielt das Artefakt in meiner Hand. Im Beutel ertastete ich etwas kleines, hartes, ungefähr so groß wie eine Haselnuss oder eine große Murmel. Es wog praktisch nichts und strahlte auch keine Energie oder dergleichen ab. Es fühlte sich genauso an wie eine Nuss in einem Lederbeutelchen. Ich hatte mit etwas Eindrucksvollerem gerechnet.
„Was versprichst du dir davon, nun alberne Spiele mit mir zu spielen?”, fragte der Rotgewandete. „Ist nicht alles gesagt zwischen uns? Was willst du?”
Yalomiro ging um den Tisch herum und trat zwischen die in der Bewegung erstarrten Menschen.
„Was habt Ihr mit diesen unglücklichen Unkundigen vor? Warum habt Ihr den Aufwand betrieben, sie so lange an Euch zu fesseln? Warum all die Mühe, sie an diesem Ort zusammenzuführen?”
„Glaubst du an das Weltenspiel der Mächte, Yalomiro Lagoscyre?”
„Selbstverständlich.”
Gor Lucegath deutete mit seinem Schwert auf die sieben Ritter, den fremden Hofnarren, die teiranda und Isan, alle starr und steif, aber offenbar jeder bei klarem Bewusstsein. Was machte Isan eigentlich hier? Ich schaute das Mädchen an und fühlte mich betroffen. Sie sollte nicht in Pianmurít sein. Isan hätte niemals einen so furchtbaren Ort erfahren sollen! Wenn sie sich schon so sehr vor Schattensängern fürchtete, wie sehr würde sie das hier traumatisieren!
„Was würdest du sagen, wenn all diese jämmerlichen Unkundigen mir dazu nützlich wären, das Weltenspiel … nun, zu meinen Gunsten zu beeinflussen? Eine Gruppe von Figuren zur Verfügung zu haben, die meine Strategie festigen”
„Nun, das klingt mir nach einem fantasievolleren und fruchtbringenderen Plan, als sie einfach nur umzubringen. Aber warum hier und jetzt? Was ist Euer Ziel?”
„Pianmurít zu erschaffen, camat’ay, war eine sehr langwierige und mühsame Aufgabe. Dank dem ay’cha’ree kann meine Domäne sich nun ausweiten wie eine Welle, die durch die Wirklichkeit brandet. Es wird sich nicht mehr aufhalten lassen, nicht einmal mehr von den arcaval’ay.”
„Dann soll die ganze Welt so werden wie … das hier? Eine Leere? Ein Nichts?”
„Das ist der Plan.”
„Erzählt mir mehr darüber.”
„Warum sollte ich?”
„Nun, ich möchte nicht neugierig sterben. Oder wollt Ihr mich doch nicht hinter die Träume zu bringen?”
„Du verschwendest meine Zeit, Yalomiro Lagoscyre!”
„Welche Zeit? Steht die Zeit hier nicht still in Eurer Domäne?”
Meister Gor seufzte. „Du bist unverschämt und lästig, Yalomiro Lagoscyre. Wann wirst du begreifen, dass du nicht mehr bist als Noktámas Schoßhündchen, das einen gewaltigen Bären ankläfft?”
„Immerhin hat das brave Schoßhündchen Euch das Artefakt apportiert. Gönnt ihm eine kleines Häppchen und lasst es nicht unwissend, bevor der Bär es verschlingt.”
Ich hörte mit wachsender Verwirrung zu. Dass Yalomiro etwas vorhatte, war offensichtlich. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass er Gor Lucegath zu einem Schurkenmonolog provozieren wollte, damit er seine Pläne offenlegte.
„Ich frage mich bei alledem, was ein goala’ay daran finden kann, das Weltenspiel zum Stillstand zu bringen. Woher allein die Anmaßung kommen kann, als sterbliches Wesen die Mächte in ihrem Spiel stören zu wollen wie … wie ein ungezogenes Kind, das den Erwachsenen die Figuren vom Brett stibitzt. Die Mächte schätzen es nicht, gestört zu werden.”
„Ich habe keine Geduld mehr mit dir, Yalomiro Lagoscyre. Und du, Unkundige: Gib mir das ay’cha’ree!”
Der Rotgewandete streckte fordernd die Hand über den Tisch. Ich wich zurück.
„Wenn du es nun tust, Ujora, werde ich dich vielleicht am Leben lassen. Das ist ein großzügiges Angebot.”
Ich warf Yalomiro einen flehentlichen Blick zu. Aber er zuckte nur die Achseln. „Ujora, ich habe genug von Gor Lucegath gehört. Wir können es nicht ändern. Wir werden seinen furchtbaren Plan wohl nicht mehr aufhalten können. Aber wir können den Mächten gegenüber ohne Scham und Schuld Rechenschaft ablegen, dass wir es nach Kräften versucht habe. Ich frage mich nur, ob dem ehrenhaften Meister nicht doch noch ein Letztes zu seinem wahren Triumph fehlt.”
„Und was soll das sein, Schattensänger?”
Yalomiro setzte sich auf die Tischkante nieder, schob die Geige ein Stück beiseite und öffnete sein Hemd. Der Rotgewandete beobachtete ihn mit sichtlicher Verwirrung.
„Yalomiro!” Entsetzen packte mich, als er sich auf dem grausig gesprenkelten Holz ausstreckte. Die Narbe auf seinem Brustkorb hatte er entblößt.
„Was soll das, Schattensänger?”
„Ich kenne die Regeln, Gor Lucegath. Jeder camat’ay kennt die Geschichten von Schattensängern, die von Euresgleichen dem Licht geopfert wurden. Nun, offenbar haben all Eure Opfer Euch nichts eingebracht. Wollt Ihr nicht den letzten Versuch wagen, der Euch bleibt? Vielleicht ist es ausgerechnet mein Seelenfunke, der das Feuer entfacht, mit dem Ihr das Weltenspiel niederbrennen könnt?”
„Hast du den Verstand verloren?”
„Meister Gor, ich bitte Euch. Ziert Euch nicht. Ich weiß, was es bedeutet, von einem Schwert wie dem Euren gezeichnet zu sein. Ich weiß, dass Ihr damals, als Ihr uns im Montazíel gestellt habt, mich als Euer Opfer markiert habt. Ich muss und werde durch Euer Schwert sterben, wie das Licht es zur unauflöslichen Regel des Weltenspiels erklärt hat. Lasst es uns hinter uns bringen.”
„Yalomiro!”
„Es ist unabwendbar, Ujora. Es ist eine Spielregel, die weder er noch ich gemacht haben. Es ist Teil seiner dem Licht geweihten Magie, so wie es zu der meinen gehört, in den Schatten gehen zu können. Ich weiß, dass lange vor meiner und seiner Zeit dies bereits ein Opfertisch war, auf dem viele, viele camat’ay den Weg hinter die Träume gefunden haben. Es ist imponierend, dass er es irgendwie geschafft hat, dieses erhabene Werkzeug zu finden und in seinen privaten Besitz zu bringen. Und ich verstehe nicht, warum er jetzt, am Ziel seines Treibens, so zaudert, seine Taten zu vollenden. Ob er wohl … Angst hat?”
„Aber …”
„Kommt nur, Gor Lucegath. Es ist Eure die letzte Gelegenheit, Eure sehnlichste Begierde zu erfüllen. Vielleicht wurde die Belohnung für Euer unermüdliches Streben bis zum Ende aufgespart. Wer weiß?”
Der Lichtwächter stand starr da und wirkte auf eine beunruhigende Weise fassungslos.
„Nur zu, Meister Gor. Erfüllt an mir endlich das, was Ihr tatsächlich wollt.”
Ein seltsamer Ausdruck trat in Gor Lucegaths maskiertes Gesicht. Es war nicht wirklich Misstrauen, eher … Betroffenheit.
„Kommt! Nehmt es Euch, das letzte noch schlagende Schattensängerherz. Den Seelenfunken, nach dem Ihr so lange gesucht habt! Den, der möglicherweise endlich das Licht zu Euch lockt! Nutzt die Gelegenheit. Vielleicht hört das Licht Euch dieses eine Mal zu, wenn Ihr um Vergebung fleht. An mir soll es nicht scheitern.”
Gor Lucegath zögerte. Dann erklomm er erneut den Tisch, stand über dem Schattensänger und packte mit beiden Händen den Griff seiner schimmernden Waffe. Die Spitze des Schwertes berührte die Narbe. Diesmal bebte die Hand, die es hielt.
Yalomiro lag mit gespenstischer Gelassenheit da, als sei der Tisch eine Matratze. Ich sah dies alles mit Grausen und hatte keine Ahnung, was ich nun noch unternehmen konnte und sollte. Ein Alptraum, flehte ich. Meine Hand umkrampfte das Artefakt. Das konnte nur ein Alptraum sein! Bitte, ihr Mächte, lasst mich das alles diesmal wirklich nur träumen!
Der Rotgewandete hob das Schwert an, hielt es, beide Händen am Griff über seinem Kopf bereit, es mit Wucht durch den Körper und den Tisch zu stoßen.
„Haltet ein!” Yalomiro hob die Hand.
„Was nun noch? Ich dir doch noch eine letzte Frechheit eingefallen, Yalomiro Lagoscyre?”
„Nein. Nur ein allerletzter Wunsch. Das ist nur recht und billig, nachdem ich Euch das ay’cha’ree gebracht habe, das Ihr der Unkundigen hernach nur noch aus der Hand zu pflücken braucht.”
„Sprich.”
Die Gelassenheit schwand aus Yalomiros Miene. Seine Augen leuchteten auf wie Mondlicht auf blankem Glas.
„Lass ihn los, Weltenspielverderber. Gib Gor Lucegath frei!”
Hinterlasse einen Kommentar