Das Widerwesen prüfte und kontrollierte aufs Genaueste, was es sich als neue Hülle erkoren hatte. Es hatte keinen schlechten Tausch gemacht. Der Schattensängerkörper war jünger und kraftvoller als der des Rotgewandeten, und seine Magie schmeckte anders, frischer, würziger. Vielleicht war sie brauchbarer als das, was der Lichtwächter noch zu bieten gehabt hatte, der nun mit dem Erhalt das ay’cha’ree gänzlich überflüssig geworden war. Es hatte Nóktamas Spielfigur gekapert, und keine der Mächte konnte es daran hindern. Ein Schattenspielstein, ausgestattet mit Kräften des Lichtes! Was für eine spannende, starke und zerstörerische Kombination! Welch ein Chaos ließe sich damit anrichten!

Es war ein wenig lächerlich, mit welcher Verbissenheit der Schattensänger versuchte, seine Seele und sein Herz vor seinem Zugriff zu verschließen, nun, da es seine Magie und seine Glieder bereits gepackt hatte. Aber das hatten sie alle getan, zu Beginn, als ihnen klar wurde, dass sie sich mit etwas eingelassen hatten, das zu groß für sie war. Mit ihm, der Wesenheit, die das Weltenspiel für sich gewinnen würde. Früher oder später hatten sie alle aufgegeben.

Fast spielerisch versuchte es, die Hülle von der Schattensängerseele zu reißen wie die Verpackung von einem Geschenk, aber noch war der Wille von Yalomiro Lagoscyre nicht gebrochen. An seine innersten Gedanken und Gefühle kam es noch nicht heran. Nun, das hatte Zeit. Und es konnte dabei nachhelfen.

***

„Lass mich …”, ächzte Gor Lucegath. „Bitte…”

Er schleppte sich heran und schleifte sein Schwert dabei hinter sich her. Sein Gesicht war aschfahl, seine Augen wieder grau.

„Erschrick nicht!”, flüsterte er, kam taumelnd zu stehen und hob sein Schwert mühsam gerade so hoch, dass er es dem sterbenden Mädchenkörper zu seinen Füßen ins Herz treiben konnte.

Ich kreischte auf und wich fassungslos und entsetzt zurück. Da ich nicht so schnell auf die Füße kam, rutschte ich rückwärts fort.

Er hob den Kopf und schien mit dem Blick etwas zu folgen, das nur er sehen konnte.

Ad’ree,” hauchte er dann verträumt. „Schau, Ujora, schau wie wundervoll es ist, wie es strahlt … selbst an diesem Ort.”

„Was tut Ihr da?”, wimmerte ich.

„Ich will es endlich beenden!” Er zog die Klinge aus Arámaús Leib. „Das ay’cha’ree! Ujora, bitte!”

Ich drückte das Beutelchen mit dem Artefakt an mich und schüttelte in stummer Panik den Kopf.

„Bitte”, wiederholte er, wie benommen. „Schnell! Solange es … abgelenkt ist …”

„Nein!” Ich umklammerte das Artefakt so fest ich konnte. „Niemals. Ich gebe es nicht her!”

„Bitte! Bevor es zu spät ist … es … gut zu machen …”

„Gut machen? Was meint Ihr?”

Von der Spitze seiner schimmernden Klinge perlte ein blutroter Tropfen nieder, so langsam, als bremse etwas die Zeit aus. Vielleicht war er es.

„Bitte!”

„Wie soll ich Euch vertrauen? Ihr habt Arámaú getötet!”

Er sank neben mir auf die Knie, stützte sich auf sein Schwert und sammelte sich. Er wirkte verwirrt und wie … zerschlissen. Ich weiß kein besseres Wort dafür Er hatte zwar weder eine körperliche noch eine magische Wunde an sich. Aber mir war klar, dass er entsetzliche Verletzungen davongetragen hatte. Ich umklammerte den Beutel mit aller Kraft.

„Ich will es nicht anfassen, Ujora. Ich will es nur ein einziges Mal mit eigenen Augen sehen. Bitte … ich flehe dich an! Zeig es mir!”

Ich zögerte. Nicht nur, dass die grässliche Kälte verschwunden war. Er sah so verletzlich aus, so verzweifelt. Ganz offensichtlich blieb ihm auch nicht mehr viel Zeit. Ich hatte … Mitleid mit ihm.

„Habt Ihr denn Euren eigenen Willen zurück?”, fragte ich vorsichtig.

„Ich war nie willenlos.”

„Wie bitte?”

Er verzog die Lippen zu einem bitteren Lächeln.

„Ich bin kein unschuldiges Opfer des Widerwesens, Ujora. Das, was ich wollte, das, wovon ich dir Bruchstücke preisgegeben habe – das war mein eigenes Streben. Aber es konnte es für sich gebrauchen. Es hatte dasselbe Ziel wie ich.”

„Aber …”

„Ich muss wissen, was mir zu tun bleibt. Bitte!”

Hatte es nicht geheißen, das Artefakt enthielte einen Funken dessen, was seine, die Schutzmacht der Lichtwächter war? Welches Recht hatte ich, ihm den Anblick des Höchsten zu verwehren, das er verehrte? Ich entsann mich, wie Gor Lucegath mir das Bildnis der Lichtwächterin an der Zimmerdecke gezeigt hatte, an die Bitternis und Sehnsucht in seinen Worten. Es wäre grausam gewesen, ihm nun seinen letzten Wunsch zu verweigern.

Ich öffnete vorsichtig das Bändchen, das den Beutel schloss und nahm das Artefakt heraus, hielt es ihm auf der Handfläche hin.

Das ay’cha’ree war eine kleine Kugel, wie ein geschliffener, klarer Kristall. Darin glomm, nicht größer als ein Stecknadelkopf, ein winziges, mattes, silbriges Licht. Es sah überraschend unspektakulär aus und erinnerte mich an eine Miniaturversion der kleinen Leuchtzauber, mit denen Yalomiro so oft beiläufig gespielt hatte. Es war nicht einmal warm.

Gor Lucegath starrte das Artefakt an, sein Atem ging flach, in Stößen. Aber dafür, dass er gerade das Allerheiligste, das sein Leben so sehr bestimmt hatte anschaute, reagierte er bemerkenswert leidenschaftslos.

„Danke, Ujora. Es bedeutet mir viel, dass du mir diesen letzten Wunsch gewährt hast.”

„Meister Gor”, wisperte ich, „was soll ich tun?”

„Vertraue ihm. Steh deinem Magier bei. Meister Yalomiro muss siegen, aber er kann es nur, wenn du ihm dabei hilfst. Ich denke, das ist tatsächlich Noktámas Plan. Ich bereite es für euch vor, aber handeln musst du.”

„Aber was soll ich denn machen?”

„Warte den richtigen Moment ab. Du wirst wissen, wenn es soweit ist.” Er erhob sich, sackte dabei wieder etwas zusammen und stützte sich auf dem Schwert ab. Ich ahnte, wie er die letzten Reste körperlicher Kraft zusammenraffte, bis er wieder so beherrscht und selbstbewusst aussah, wie ich ihn kannte.

Er war todwund. Er würde sterben und er wusste das. Was immer ihn jetzt noch antrieb, es war etwas, das er sein Leben lang erstrebt hatte, bevor er diesem … Ding ins Netz gegangen war. Womöglich war es etwas den Mächten Gefälliges gewesen.

„Du hattest recht. Ich war nicht von Anfang an der Schurke. Eines Tages wirst du vielleicht erfahren, was mir zugestoßen ist. Dann wirst du noch mehr hinter der Maske erkennen – und verstehen.”

Diese Worte machten mich beklommen und zugleich … traurig. Dies war offensichtlich ein Abschied.

Ad’ree, Ujora. Ich habe unsere Begegnung sehr … geschätzt.”

„Meister Gor … Ihr …”

Er wartete auffordernd. Ich gab mir einen Ruck.

„Ja. Ich vertraue Euch.”

Er verneigte sich. Dann warf er eine kleine Geste in meine Richtung. Die Seifenblasenaura, die Arámaú um mich erschaffen hatte, zerplatzte. Die Zeit ruckte schmerzhaft wieder an. Das Grauen kehrte zurück. Alles war wieder in Bewegung.

***

Kaum konnten sie sich bewegen, bildeten die yarlay einen schützenden Halbkreis um die beiden Majestäten. Lebréoka und Tjiergroen hatten sich bei den anderen fünfen eingereiht. Es war nun nicht wichtig, wessen Dienstmänner sie waren. Es ging darum, dieses … etwas zu besiegen, das da in schwarzen Gewändern, eine Geige in der Hand, auf diesem angesichts der nebligen Leere so irritierend real wirkenden Tisch stand wie auf einer Bühne, bedrohlich, reglos, und mit leerem Blick vor sich hin starrte.

Isan hatte sich hinter Waýreth Althopian verborgen. Was immer mit dem Schwarzgewandeten gerade vorging, es war etwas, dem sie nicht traute. Waýreth Althopian ging es ähnlich.

Asgaý von Spagor hatte derweil mit linkischer Galanterie die Hand der teiranda ergriffen. Sie konnte den Blick nicht von ihm wenden. Die beiden jungen Leute waren durch die Gegenwart des jeweils anderen gnädig von dem Grauen abgelenkt.

„Was ist das für ein seltsamer Ort?”, flüsterte er.

„Es ist … es ist mein Gefängnis”, hauchte sie. „Ein Ort, an dem ich und mein Gefolge verflucht wurden.”

„Dann werden wir Euch nun befreien”, sagte er entschlossen. „Deshalb bin ich hergekommen!”

„Seid Ihr nicht ebenso gefangen wie ich und die meinen? Wie seid Ihr an diesen Ort gelangt?”

„Er da”, antwortete der teirand und deutete ratlos mit dem Schwert auf den Schattensänger, „hat uns hergebracht.”

„Dann wurdet Ihr in dieselbe Falle gelockt wie ich mit den meinen”, sagte sie. „Es gibt kein Entkommen.”

„Oh.” Asgaý von Spagor schaute sich hilfesuchend nach seinen Rittern um. Aber die Herren waren beide unaufmerksam. „Nun … zumindest vergönnen die Mächte es mir, mit Euch in Gefangenschaft geraten zu sein, edle Dame.”

„Sicherlich hat der Rotgewandete Euch mit meinem Bildnis betrogen.”

„Ich bin kein großer Kämpfer”, gestand er verlegen.

„War Euer Lied für mich echt?”

Er nickte und errötete.

Sie lächelte. „Das reicht.”

Zumindest, dachte Isan in einer wirren Mischung aus Romantik und Todesangst, ist er gut erzogen und höflich. Sie hätte sich unter anderen Umständen in aller Heimlichkeit an dieser zarten Tändelei ergötzt, aber im Gegensatz zu dem verliebten teirand erfasste das Mädchen, dass es hier um etwas ging, was sie alle nicht begreifen konnten, auch die Ritter nicht. Und was man nicht begriff – wie konnte man es bekämpfen?

Auf der anderen Seite des Tisches waren Leute. Die Unkundige war da, das zweite Mädchen lag tot am Boden und der Rotgewandete, der aus seiner Ohnmacht erwacht war, kniete bei ihr. Was dort geschah und vor gesprochen wurde, war nicht zu erkennen und hören.

„Althopian”, fragte yarl Emberbey leise, „was bei allen Mächten ist das hier für ein Ort? Was für ein absurdes Abenteuer, was für einen Albtraum habt Ihr da aufgetrieben?””

„Es heißt Pianmurít”, flüsterte Althopian. „Wo es liegt, was es ist und was uns herbrachte, das wissen vielleicht nicht einmal die Mächte.”

„Waýreth!” Das war Andríer Altabete. „Weshalb bist du tatsächlich zurückgekehrt?”

„Ich habe euch gelobt, dass ich zurück komme, um euch zu helfen! Ich hatte einen Handel …”

„Mit wem?”, fragte Gundald Lebréoka misstrauisch.

„Mit dem Rotgewandeten.”

„Na bestens.”

„Und was tun wir nun?”, fragte Léur Tjiergroen unwirsch. „Sagt uns, was wir zu tun haben, Althopian.”

„Das fragt Ihr mich, der ich ein Verräter und Meuchelmörder bin?”

Der mynstir schnaubte ärgerlich. „Lasst die Spitzfindigkeiten! Ihr seid wohl derjenige, der all das hier am ehesten durchschaut.”

„Wir sollten alle nicht hier sein”, klagte Jóndere Moréaval. Der Blick des jungen Ritters war in größtem Bedauern auf den Leichnam der Schattensängerin fixiert, der unter dem Tisch hindurch zu erahnen war. Vielleicht war sie das erste Mädchen gewesen, das an sein keusches Verlangen geweckt hatte.

„Still jetzt!”, zischte Waýreth Althopian. „Was immer hier vorgeht, die Mächte haben uns wohl nicht ohne Grund an diesem Ort zusammengeführt!”

***

Gor Lucegath schaute zu dem Schattensänger auf. Das Widerwesen hatte von dem jüngeren Magier Besitz ergriffen und war so beschäftigt damit, sein neues Spielzeug zu untersuchen und es auszuprobieren, dass es weder auf ihn noch auf die Unkundige achtete. Offenbar versuchte die Wesenheit gerade, Zugang zu seinem Herzen zu bekommen, um die Magie ausprobieren zu können, die ihm so unverhofft zugefallen war.

Bei den Mächten! Beim Licht selbst! Hatte er selbst das etwa all die Zeit erduldet? Wie lange würde es dauern, bis es Yalomiro Lagoscyre nicht mehr ertrug? Würde die Zeit reichen? Würde die irrsinnige Idee, die dieser Schattensänger offensichtlich ausgeheckt hatte, Früchte tragen?

Und war es den anderen Magiern vor ihm ebenso ergangen? Hatten sie alle, über die Zeiten hinweg, sich arglos, um einer Überzeugung willen oder in maßloser Selbstüberschätzung auf etwas eingelassen, das mächtiger war als ihre eigene Magie? War Yalomiro Lagoscyre nun der erste gewesen, der es als das erkannt hatte, was es war? Und der erste, der es in vollem Bewusstsein der Konsequenzen ohne Not freiwillig auf sich genommen hatte, um ihn zu retten? Glaubte der Schwarzgewandete denn im Ernst, die Macht zu besitzen, das Widerwesen zu bezwingen und ins Chaos zurückzustürzen? Wie viel Anmaßung, wie viel Mut hatten die Mächte diesem außergewöhnlichen Magier nur zuerkannt, als sie ihn auf das Weltenspielbrett setzten?

Gor Lucegath seufzte bedauernd. Auch das war schattensängerische Arroganz, wenn auch aus ehrenhaften Motiven. Da stand er, ein leichtsinniger, ein übermütiger Zauberlehrling mit großer Macht, selbstloser Tapferkeit und einem viel zu großen Herzen. Wie gefährlich Yalomiro Lagoscyre werden konnte, hatte er schon bei ihrer ersten Begegnung gewusst, als er diesen winzigen Rest Liebe gefunden hatte, den Askýn Lagoscyre seinem Schüler einst ab- aber nicht aus der Seele herausgetrennt hatte. Liebe, die neu ausgetrieben hatte, als die Unkundige daran rührte.

Vielleicht hatte das Widerwesen schon damals nach einem neuen Körper Ausschau gehalten. Wahrscheinlich waren all diese Versprechen von Rache und Genugtuung nur leere Lügen gewesen. Vermutlich hatte es nur darauf gewartet, einen mächtigen Rotgewandeten gegen einen noch mächtigeren neuen Schwarzgewandeten zu tauschen.

Der Schattensänger stand da, regungslos, und verwirrte die Menschen, die er, Gor Lucegath, selbst nach Pianmurít, in seine Domäne geholt hatte. In das Reich, das er aus seiner eigenen Traurigkeit, Qual und Verletzlichkeit heraus erschaffen hatte, und in dem sich auch die teiranda so behütet und getröstet gefühlt hatte. Die teiranda, das arme Menschenweib, dem er so übel mitgespielt hatte.

Yalomiro Lagoscyre kämpfte. Wahrscheinlich wartete er auf den richtigen Augenblick. Dass er einen Plan hatte, stand außer Zweifel. Dass er so vermessen war, war aus Wahnsinn oder sehr großer Weisheit geboren.

Gor Lucegath nahm sich zusammen, richtete sich auf. Einen der sieben Ritter würde er opfern müssen. Nicht, dass das noch eine große Rolle spielen würde. Der yarl, den es traf, würde sich seines Schicksals nicht bewusst werden. Es würde für ihn gar nichts ändern.

Der Lichtwächter schritt auf die Herren zu und hob kämpferisch sein Schwert.

„Ich denke”, sagte er, „dass ich es bin, dessentwegen Ihr an diesem Ort seid.”