
Waýreth Althopian kam zu sich, wie aus einem tiefen, tiefen wirren Traum. Der Ritter versuchte mit Mühe, seine Augen zu öffnen, und als es ihm gelang, war es zunächst, als sei er erblindet, ein milchiger Schleier lag vor seinem Blick. Althopian erschrak und setzte sich auf. Doch mit jedem Wimpernschlag klarte die Umgebung auf, und schließlich erkannte er, dass er auf einem Fußboden lag, einem, der mit kunstvoll arrangierten Steinplatten gepflastert war, die ein hübsches, filigranes Muster bildeten. Weite Teile des Ornaments verschwanden in seiner Nähe unter einem Film von Blut.
Der Fußboden gehörte zu einer Halle mit einem hohen, von dunklen Balken gestützten Dachgewölbe und einer umlaufenden Galerie. Er kannte diesen Ort, hier hatte er schon einmal gestanden. Aber alles war nun so … vertraut. So richtig. Warmes, goldenes Sonnenlicht kam durch die Fenster an der Nordseite hinein, eine friedvolle Beleuchtung, wie sie dieser Saal seit vielen, vielen Sommern nicht gesehen hatte.
An der Stirnseite der Halle stand ein aufwändig geschnitzter hölzerner Thron vor dem Banner des teirandon Wijdlant.
„Was ist passiert?”, fragte jemand heiser. Es war Gundald Lebréoka, sein Kamerad, der ebenfalls zu sich kam und sich nun neben Althopian auf alle viere aufgerichtet hatte. Sein weißer Waffenrock zeigte ein rotes Muster an Stellen, wo es nicht hingehörte. Wo kam der Ritter so plötzlich her?
„Wo sind wir?”, fragte yarl Tjiergroen. Er versuchte, sich aufzustellen. „Wie sind wir … wo ist der Strand?”
Yarl Grootplen saß mit ausgestreckten Beinen mitten im Saal und wandte ihm den Blick zu. Dann zuckte er zusammen, packte sein Schwert und versuchte, in Abwehrstellung zu gehen, was viel zu lange dauerte, so schwerfällig bewegte er sich. „Bei den Mächten! Wer seid Ihr und wie konntet Ihr hier eindringen?”
Etwas klimperte und klingelte heftig. „Frieden!” Ein lächerlich aufgeputzter Gaukler taumelte dem Ritter in den Weg. Erst beim zweiten Blick entsann Althopian sich, dass es Asgaý von Spagor war, sein Herr und teirand, der sie alle in eine weitere Lächerlichkeit geführt hatte. „Wir sind hier in Frieden! Niemand greift jemanden an!”
Er brach wieder in die Knie, schaute zu Grootplen auf und sagte verwirrt: „Lasst uns zueinander kommen. Irgendetwas Wunderliches ist uns allen zugestoßen und warf uns an diesen Ort wie Würfel in einen Becher!”
Jemand zerrte an Althopians Gewand. Isan war über den Boden zu ihm gekrochen.
„Herr”, flüsterte sie. „Herr! Seid Ihr in Ordnung?”
Er griff nach ihr, hob sie auf und drückte sie erleichtert an sich. Das Mädchen errötete, ließ es aber geschehen, dass er es innig umarmte wie eine Tochter. Dann lenkte die Frau sie ab, die wortlos an ihm und zwischen den desorientierten, von allen Kräften verlassenen Rittern vorbeischritt. Zart und gebrechlich war sie, ihr blondes Haar war wirr und ihr kostbares Gewand zerknittert und derangiert. Ihr Gesicht war bleich, ihre Miene so erschöpft, als habe sie eine schwere Anstrengung hinter sich. Sie tappte auf den Thron zu, bückte sich dabei nach einer Krone, die auf ihrem Weg am Boden lag. Während sie weiter und durch einen Haufen Glasscherben schlurfte, setzte sie sich den Reif aufs Haar. Die Schleppe ihres Gewandes verwischte das Blut wie ein Putzfeudel.
Die Ritter ließen sie wortlos gewähren. Die yarlay Grootplen, Altabete und Moréaval versuchten, vor ihrer Herrin Haltung anzunehmen, so gut es ging.
Sie ließ sich auf den Thron fallen, schloss erschöpft ihre hübschen blauen Augen und seufzte tief. Dann warf sie einen milden Blick in die Runde.
„Willkommen, Herr Waýreth. Willkommen Euch und den Herren in Eurer Begleitung.” Sie wandte sich an Tjiergroen und Lebréoka. „Und Ihr seid …”
Tjiergroen verneigte sich und wäre dabei fast gestolpert. Lebréoka versuchte es gar nicht erst und senkte nur höflich den Blick.
„Ich bin yarl Léur Tjiergroen, mynstir des teirand Benjus von Valvivant. Ich bin in Begleitung von Gundald Lebréoka. Aber … ich weiß nicht, wo wir hier sind … und warum. …”
„Das ist einerlei. Als Gesandte meines hochverehrten Nachbarn seid ihr mir herzlich willkommen. Ich bin Kíaná von Wijdlant. Ich bitte Euch, die Unordnung hier zu verzeihen. Es scheint, es ist etwas … Seltsames geschehen. Es wird zügig aufgeräumt werden.”
„Herrin”, meldete sich Alsgör Emberbey zu Wort. „All das Blut am Boden … es scheint, jemand hat großen Schaden genommen. Doch keiner von uns scheint verletzt zu sein …”
„Unsere Schwerter”, sagte Andriér Altabete mit zitternder Stimme, „sie sind besudelt. Was, bei den Mächten, haben wir getan?”
„Möglicherweise”, schlug Asgaý von Spagor vor, „haben wir hier in dieser Halle eine heroische Schlacht geschlagen. Oder ein Monster besiegt. Vielleicht … ist es Wille der Mächte, dass unsere Erinnerung daran verloschen scheint.” Er wandte sich leise klingelnd um und schaute die teiranda an. Die Dame erwiderte seinen Blick. Der teirand stutzte und blickte an sich herab „Ich … ich habe keine Ahnung, wieso ich in einem so … wunderlichen Aufzug vor Euch stehe, edle Dame”, fügte er verlegen hinzu. „Ich bin Asgaý, teirand von Spagor.”
„Sicherlich steckt dahinter eine phantastische Geschichte”, antwortete sie sanft.
„Glaubt Ihr?”
„Ich mag Geschichten,” sagte sie mit mildem Lächeln. „Werdet Ihr mir welche erzählen?”
Isan lächelte entzückt, Althopian sah es aus den Augenwinkeln. Er atmete auf.
***
Wir lauschten, verborgen im Schatten auf der Galerie. Ungesehen dorthin zu gelangen, fiel an Yalomiros Hand nicht schwer. Ein paar Schritte durch den Schatten genügten. Dennoch war es seltsam. Die Burg war menschenleer gewesen, aber nicht unbelebt. Offenbar hatten all ihre Bewohner den Sonnenaufgang schlicht verschlafen. Die Magie, die Wijdlant und Pianmurít verbunden hatte, schmolz nach und nach dahin. Yalomiro hatte gemeint, das sei weitaus angenehmer, als all die unbeteiligten Unkundigen einfach in die Realität zurückzuwerfen. Die Ebenen synchronisierten sich.
„Ist das nun ein glückliches Ende?”, fragte ich leise.
„Ende? Was ist denn beendet? Ist es nicht so, dass es nun erst weiter geht?”
„Und wie geht es weiter?”
Yalomiro zuckte die Schultern. „Das wissen die Mächte. Das ist etwas, das die Unkundigen allein finden müssen. Allerdings … hier ist noch ein wenig aufzuräumen, bevor wir uns um unsere Dinge kümmern können.”
Er trat aus dem Schatten heraus, zog seinen Hut aus Rücksicht auf die teiranda und Isan in die Stirn, räusperte und wartete, bis man ihn bemerkte.
„Ujora!”, rief Isan freudig auf, als ich seinem Beispiel folgte. „Du bist auch hier!”
In den Blicken der Männer waren Emotionen von Erstaunen bis Erleichterung zu lesen, je nachdem, wen ich ansah. Bei dem teirand überwog eine freundliche Neugier. Der junge Mann schien ein netter Kerl zu sein. Er erinnerte mich an einen stets leicht verpeilten Kommilitonen aus einem Literaturseminar. Ohne zu wissen, wie das sein konnte, spürte ich seine Liebenswürdigkeit bis hinauf auf die Galerie, ohne dass er etwas gesagt hätte.
„Wir werden Euch nicht lange behelligen”, sagte Yalomiro ruhig. „Es scheint mir noch nicht die passende Zeit dafür zu sein. Doch wir werden euch jederzeit in Frieden willkommen heißen, wenn ihr unsere Freundschaft sucht und sobald ihr bereit dazu seid, Vergangenes zu verzeihen.”
„Steckt Ihr dahinter?”, fragte Alsgör Emberbey. „Ihr seid ein Schattensänger, ich erinnere mich. Habt Ihr uns mit Magie hierher gebracht?”
„Nein”, antwortete Yalomiro. „Ich war das nicht. Aber das ist im Ergebnis egal. Trotzdem solltet Ihr mir nun gut zuhören und die Worte beherzigen, die ich Euch mit auf den Weg geben will, bevor wir alle uns für den Moment trennen. Yarl Tjiergroen, yarl Lebréoka. Ich gebe Euch eine Botschaft für Benjus von Valvivant. Sagt ihm, dass er von seiner größten Sorge befreit ist. Wenn er das Gespräch mit mir, mit ytra Yalomiro Lagoscyre will, werde ich ihn jederzeit im Boscargén willkommen heißen. Es wäre mir in Anliegen und eine große Ehre, wenn die Dame Verta ihn begleiten würde.”
„Ich … ich spreche mit ihr!”, platzte Isan heraus. „Ich werde ihr berichten, dass … dass niemand sich vor Euch fürchten muss!”
Waýreth Althopian legte ihr rasch die Hand auf den Mund. Das Mädchen errötete.
„Verzeiht Ihr, Meister”, bat er. „Sie redet oft zur Unzeit, aber stets aus reinem Herzen.”
„Du, junge doayra, kannst mir einen anderen großen Dienst erweisen. Ich möchte, dass du zu Majék, Egnar und Kelwa gehst, ihnen meine Grüße überbringst, und meinen innigen Dank. Ich bin sicher, dass wir uns im Weltenspiel noch einmal begegnen werden. Sofern sie mich noch einmal an Bord lassen. – Yarl Althopian. Euch gebührt ebenfalls mein großer Dank. Und ich bedauere, dass gerade Ihr es seid, den ich nun geradezu von hier fortjagen muss. Viel zu lange habt Ihr Eure Herzensqueste durch meine Schuld zurückstellen müssen. Hoheit, wäre es wohl möglich, dem yarl ein Pferd zu überlassen, damit er schleunigst seiner hýardora nach Forétern nacheilen kann?”
Bevor Kíaná von Wijdlant etwas sagen konnte, hob Moréaval bereits die Hand. „Er kann meines nehmen. Es ist das jüngste und schnellste in diesem Stall.”
Althopian nickte ihm dankend zu. „Ich gebe Euch ein Schreiben, dass man Euch zum Tausch in meinem Haus ein Ross ganz nach Eurer Wahl übergeben möge. Sucht Euch das Beste von meinen Herden aus.”
„Auch Ihr, yarl Emberbey, solltet Euch zügig auf den Rückweg begeben. Möglicherweise ist Eure Dame längst in Virhavét eingetroffen. Sicherlich leiht man auch Euch und den Herren aus Valvivant Pferde. Aber noch etwas… Yarl Emberbey, yarl Althopian … Euch beiden muss ich ein Versprechen auf die Zukunft. Es wäre mir wohl, Euer Wort darauf zu haben.”
„Was sollen wir tun?”, fragte Alsgör Emberbey unwirsch. „Mit Versprechen haben wir beide unsere liebe Not gehabt.”
„Es ist einfach. Erzieht Eure Söhne zu gerechten, mutigen und loyalen Männern, was auch immer Euch geschieht. Zu yarlay, die bereit dazu sind, das Weltenspiel im rechten Moment zu verteidigen und die Euch an Tugend, Tapferkeit und Verstand mindestens ebenbürtig sind. Eines Tages wird es nötig sein.”
Ratlosigkeit trat in beider Herren Mienen ob dieser offensichtlichen Selbstverständlichkeit. Mir hingegen wurde bewusst, wie wörtlich Yalomiro das sicherlich meinte. Ich schauderte.
„Und Ihr, edle yarlay von Wijdlant – solltet Ihr Euch nicht um Eure hýardoraé, Söhne und Töchter und Eltern kümmern? Majestät? Gewährt Ihr Euren Getreuen den Urlaub, den sie sich so sehr verdient haben?”
Die teiranda schaute in die Runde.
„Geht”, sagte sie milde zu den Dreien. „Ich habe Euch schon viel zu lange von Euren Pflichten abgehalten. Teilt die Pferde im Stall auf und geht jeder dahin, wohin es Euch zieht, und solange es Euch danach verlangt. Ich denke, wir alle brauchen … Zeit.”
Der Mann im Hofnarrenkostüm räusperte sich. „Emberbey, Althopian … schließt Euch an. Ich wünsche Euch beide erst wieder vor mir zu sehen, wenn Ihr mir Eure Damen vorstellen könnt. Und Ihr, Herren aus Valvivant … denkt an Eure Mission. Sagt Eurem Herrn, dass Waýreth Althopian unter meinem persönlichen Schutz steht und ich alles daran setzen werde, die Sache zu klären … sobald ich begriffen habe, was hier eigentlich los ist. Ich will in Frieden mit ihm darüber reden.”
„Meister”, meldete sich Andríer Altabete zu Wort. „Eines noch. Wo ist der Rotgewandete? Wird er uns nicht an alledem hindern, was Ihr uns gerade aufgetragen habt?”
„Er ist fort, yarl Altabete. Gor Lucegath ist … weitergezogen. Er hat Euch alle freigegeben. Euer Alptraum und Eure Knechtschaft sind gleichermaßen vergangen.”
Jóndere Moréaval betrachtete seine blutigen Hände und blickte entsetzt auf.
„Es ist alles in Ordnung, Herr Jóndere”, rief ich ihm eilig zu, als ich spürte, wie seine Gefühle aufbrandeten, bevor er etwas sagen konnte. „Es ist …il’ay-ra. Genau, wie Eure Mutter er immer sagte!”
„Da nun diese Dinge geregelt sind,” sagte Yalomiro, „verbleibt nur noch eine Formalität. Wenn ich noch einen letzten Moment Eure Aufmerksamkeit bekomme?”
Alle wandten sich ihm fragend zu. Und er hob erneut seine Geige und begann, zu spielen.
Es war ein sehr ähnlicher Zauber wie einst in der Halle von Benjus von Valvivant. Alle Anwesenden erstarrten zuerst verwirrt, dann entzückt unter seiner Melodie, dann schweiften ihre Gedanken ab und suchten nach den Geschichten, die das Lied ihnen erzählte. Jenes über die Reise, die Emberbey und Althopian mit ihrem teirand unternommen hatten, damit er um die teiranda freien konnte. Die, wonach Tjiergroen und Lebréoka sich ihnen angeschlossen hatten, um unverrichteter Dinge, aber mit der Botschaft von Asgaý von Spagor nach Valvivant zurückkehren würden, nachdem sie sich der Partie angeschlossen hatten. Ein Pech nur, dass ihnen die Pferde entsprungen waren. Ein freundlicher Schwarzmantel, der zufällig des Weges gekommen war, hatte ihnen ausgeholfen und eine Abkürzung gezeigt.
All das konnte ich nun hören, verstehen, nachvollziehen. Nun … wahrscheinlich ließ sich Magie mir gegenüber einfach nicht mehr verstecken.
Doch alles, was in Pianmurít selbst geschehen war, das gewaltsame Ende des Rotgewandeten und die Präsenz des Widerweses, verwischte Yalomiro in ihrem Verstand, bis es die Form eines verschwommenen Traumgeschehens gewann. Ich ahnte, dass die Erinnerung zu Alpträumen wurde, die sie alle von Zeit zu Zeit heimsuchen würden, hervorzubrechen versuchten. Aber … es würden Träume bleiben.
Am Ende standen die Männer und Isan verträumt da und blickten sinnend ins Leere. Ein paar Augenblicke blieben uns wohl, bevor sie wieder zu sich kamen. Yalomiro zauberte rasch die Blutspuren fort, die am Boden und die auf den Gewändern und an den Waffen.
Die teiranda hatte still zugehört. Nun erhob sie sich und senkte den Blick vor Yalomiro, sorgfältig darauf bedacht, ihn nicht anzuschauen. Sie allein hatte er von seinem Zauber ausgenommen.
„Ist Euer Geist klar, Kíaná von Wijdlant?”, fragte Yalomiro sanft. „Erinnert Ihr Euch, was geschehen ist? Wer ihr seid? Wer ich bin?”
„Ihr habt uns aus einem endlosen Grauen gerettet. Es ist Menschen nicht möglich, Euch dafür zu danken”, sagte sie leise.
„Dankt es mir einfach mit einer kleinen Gefälligkeit.”
„Was immer Ihr benötigt, so ich es erfüllen kann.”
„Im Turmzimmer liegt die sterbliche Hülle von Gor Lucegath.”
Ein kleiner Schmerz flackerte über ihre Miene. „Er ist … hinter den Träumen?”
„Ja. Es wäre gut, wenn das Geschehene geschehen bleibt. Es mag reichen, wenn Ihr Euren Leuten einfach erzählt, dass er ohne Abschied die Burg verlassen hat, sobald jemand danach fragt..”
„Ich sorge dafür, dass die Erleichterung darüber das Misstrauen überwiegt.”
„Majestät – es ist mir dennoch ein Anliegen, dass Gor Lucegaths Körper und einige Dinge aus seinem Besitz ehrenhaft miteinander bestattet werden. Es muss einen Ort geben, an dem man ihn … finden kann, wenn man weiß, wonach man sucht.”
Was hätte ich darum gegeben, wenn ich Yalomiro nun Fragen hätte stellen können! Aber ich wollte ihn nicht vor den Majestäten unterbrechen. Die teiranda zögerte.
„Es ist nicht so, dass es ein prunkvolles Denkmal geben soll. Nur einen … geheimen Platz, an dem Frieden herrscht. Ich bitte Euch um einen Ort für ein Grab.”
„Selbstverständlich. Entscheidet Ihr nach freiem Willen darüber. Aber ich will nicht wissen, wo es ist.”
Yalomiro lächelte. „Werdet Ihr Asgaý von Spagor in Dinge einweihen, die für Eure Ritter hoffentlich bald verschwommene Schrecken sein werden, über die ein teirand aber zur ewigen Ermahnung Bescheid wissen sollte?”
„Ich … habe lange darauf gewartet, mit jemandem … zu reden.”
„Dann werden wir nun fortgehen. Es ist noch nicht an der Zeit, da unseresgleichen mit allzu viel Anwesenheit glänzen sollte.”
„Auf ein Wort, Meister Yalomiro”, sagte sie rasch, als befürchte sie, er könne vorschnell den Saal verlassen. Sie ließ Asgaý von Spagor stehen und eilte rasch zur Treppe, die zur Galerie hinauf führte. Yalomiro senkte höflich seinen Blick vor ihr.
Kíaná von Wijdlant schaute und einen Moment schüchtern an.
Dann zog sie sich einen ihrer Ringe von der Hand. Unter dem großen Schmuckstein kam eine hauchfeine Narbe auf ihrem Handrücken zum Vorschein.
Ich schauderte. War es das? War das das Geheimnis ihrer ewigen Jugend und des übermenschlichen Alters? Hatte der Rotgewandete sie für sich … markiert?
„Könnt Ihr das heilen?”, fragte sie leise.
„Nein”, sagte Yalomiro. „Meine Magie hat scharfe Grenzen.”
Sie senkte betrübt den Blick. „Ich verstehe.”
„Aber es wird sich fügen, Majestät. Dafür kann ich sorgen.”
Sie nickte. Dann blickte sie mich an. Wie damals, als sie mich unerlaubt in meiner Kammer besucht hatte, hatte ich das befremdliche Gefühl, in einen Spiegel zu schauen. Aber nun … lächelte der Spiegel, von dem die vergiftete Schönheit abgefallen war und der sie nun, in ihrer melancholischen Kränklichkeit, so viel freundlicher und klüger zeigte
„Ich bin Eure Freundin”, versprach ich. „Ich werde immer Eure Freundin sein. Und … Ihr müsst mir unbedingt beibringen, wie das Spiel in der Bibliothek funktioniert.”
Ihre Augen glänzten dankbar. Wir umarmten einander.
So bleiben wir stehen, bis ein zartes Klingeln ertönte. Asgaý Spagor unten im Saal regte sich, erwachte aus seiner Trance. Auch in die übrigen Menschen kam Bewegung. wurde. Die teiranda ließ mich los. Ich lächelte ihr zu und wollte Yalomiro folgen, der taktvoll bereits ein paar Schritte beiseitegetreten war.
„Meister Yalomiro”, hielt die teiranda ihn noch einmal auf. Er blieb stehen, wandte sich aber nicht mehr um.
„Könnt Ihr mir verzeihen, was geschehen ist?”
„Was soll denn geschehen sein, edle teiranda?”
„Ujora!”
Isan war als erste wieder zu sich gekommen. Sie rannte los und respektlos an der teiranda vorbei die Treppe zur Galerie hoch.
„Du findest mich im Turm,” sagte Yalomiro und verschwand rasch im Schatten.
Isan stürzte auf mich. „Ujora! Ich bin so froh, dass du noch da bist! Was ist passiert? Wieso bin ich hier? Wieso sind wir alle hier? Was geht hier vor sich?”
„Isan! Du … erinnerst dich an gar nichts?”
„Gerade noch war Nacht am Strand, und plötzlich bin ich bei Tag in dieser Burg. Wie kann das sein?”
„Na ja”, entgegnete ich. „Kurz gesagt – ich glaube, die Schachteln im Weltenspiel sind heruntergefallen. Die Mächte müssen aufräumen und alles sortieren.”
„Was?”
„Ich weiß es nicht genau. Es ist zu verwirrend. So verwirrend, dass bestimmt eine Menge neue Geschichten und Partien daraus entstehen.”
„Ich verstehe nicht …”
„Komm. Lass uns nach draußen gehen. Ich denke, die teiranda und die Herren haben miteinander zu reden.”
Ich führte sie über die Galerie zu einem anderen Abgang an der Fußseite des Saales, um nicht an den nun langsam wieder zu sich kommenden Rittern vorbei zu müssen. Yalomiro hatte dafür gesorgt, dass alle Menschen, die Zeuge der Ereignisse in Pianmurít gewesen waren, einen Filmriss erlebten. Sicher war das eine für ihren Verstand gnädige Lösung. Mit etwas Glück hätte die teiranda ihren Leuten nur irgendwie eine glaubwürdige Geschichte zu erklären, wo Gor Lucegath hingegangen war.
Draußen auf dem Hof fasste ich Isans Hände und versuchte, ihr ins Gesicht zu blicken. Sie war ganz aufgedreht, ihre Augen waren voller Verwirrung. Ihr Verstand war nicht in der Lage, zu erfassen, was geschehen war.
„Isan”, sagte ich, „du hast geträumt. Du hast ganz einfach so aufregend geträumt als hättest du … gibt es Kräuter, von denen man Halluzinationen und wilde Träume bekommt?”
„Sicher, aber …”
„Stell dir einfach vor, du hattest zu viel davon. Nichts von dem, was du glaubst, gesehen zu haben, ist so geschehen, wie du dich erinnerst. Glaub mir. Es ist besser so.”
Sie schaute mich misstrauisch an. „Aber so war es nicht, nicht wahr?”
„Nein. Aber … es macht keinen Unterschied für euch. Du hast nichts verpasst.”
„Der Schattensänger war gerade hier. Ich hab ihn gesehen. Er war mit uns am Strand.”
„Isan …”
„Bist du jetzt für immer seine hýardora?”
„Ja. Ich glaube schon.”
Ihre Augen leuchteten sensationslüstern auf. Bevor sie auf schräge Ideen kam, fragte ich: „Wirst du mit yarl Althopian auf die Suche nach seiner yarlara gehen?”
Zu meiner Überraschung schüttelte sie energisch den Kopf. „Nein. Das ist nun seine Geschichte. Ich hoffe nur, er findet noch die Zeit, sich ausrüsten zu lassen. Ich weiß gar nicht, ob er überhaupt Geld für die lange Reise bei sich trägt. Bei den Mächten, was für ein Abenteuer!”
„Und du?”
„Ich werde wohl mit dem grantigen yarl Emberbey zurück nach Spagor reisen. Ich muss unbedingt Kelwa erzählen, was passiert ist. Ich will von Egnar hören, was er erlebt hat. Und diesen feschen Majék will ich auch unbedingt kennenlernen. Ich glaube, Kelwa will den Guten unter die Haube bringen.”
„Wer sind eigentlich all diese Leute?”
„Die kennst du noch nicht. Abgesehen davon bin ich neugierig, was es mit der Dame auf sich hat, die dieser alte Griesgram in sein Haus bestellt hat.”
Vielleicht, dachte ich, wäre es gar nicht so schlecht, wenn jemand wie Isan sich dieser Dame annahm, über die ich noch gar nichts wusste. So viele Geschichten um mich herum … eine interessanter als die andere. Ich würde mich sicher nicht langweilen in dieser Welt.
„Und dann?”
„Dann kann ich mich immer noch entscheiden, ob ich zu Herrn Waýreth gehe oder in Spagor bleibe. Die Burg ist ein hässlicher Kasten, aber das Dorf ist schön. Mal schauen.”
Ich beneidete sie. Sie hatte so klare Vorstellungen von dem, was ihre Zukunft anging. Für mich war zu diesem Zeitpunkt nur klar, dass sich der Bürojob in einer Behörde wohl erledigt hatte. Nicht, dass ich traurig darüber war,
Isan schwieg für eine überraschend lange Zeit.
„Der teirand, dieser Asgaý von Spagor, ist ein komischer Kerl”, vertraute sie mir dann an. „Aber ich glaube, die beiden sind ein schönes Paar. Nicht ganz so wie der Smaragdritter und die Rosendame … aber das ist nicht schlimm. Schon seltsam. Wenn der Lichtwächter dem teirand nicht dieses verfluchte Glasbild zugespielt hätte … wer weiß, ob die beiden einander je begegnet wären?”
Ja. Was wäre dann geschehen? Welchen Nutzen hatte Gor Lucegath davon gehabt, die beiden Majestäten auf diese seltsame Weise miteinander bekannt zu machen?
„Isan”, sagte ich. „Ich muss dich jetzt verlassen. Aber ich denke, wir werden uns sehr bald wiedersehen. Ich …”
Sie wartete auffordernd, ließ mir die Zeit, bis ich die passenden Worte hatte.
„Ich danke den Mächten, dass ich dir begegnen durfte”, sagte ich schließlich. „Ich danke den Mächten, dass ich in diese Schachtel gefallen bin.”
Isan lächelte.
„Die nächste Partie”, sagte sie, „wird sicher sehr spannend!”
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