Ich hatte die teiranda den ganzen Tag begleitet wie ein Schatten und dabei den einen oder anderen rätselhaften, geradezu feindseligen Blick ihrer Zofe aufgefangen. Ob die Frau dachte, ich sei gekommen, um ihre verstorbene Kameradin zu ersetzten?

Ich fühlte mich unwohl damit und versuchte mich damit abzulenken, jedes Detail der Burg genau zu betrachten, nun, nachdem ich nicht mehr durch die Zaubereien des Rotgewandeten verwirrt wurde.

Das Gebäude war trutziger und wahrscheinlich auch viel älter als die Burg von Valvivant. Die Einrichtung kam mir etwas rustikaler, aber durchaus hochwertig vor. Wahrscheinlich war Wijdlant einmal eine Landmarke mitten in der Ebene gewesen, an der die Kriege abgeprallt waren, von denen ich hier schon so viel gehört hatte. Wahrscheinlich stand die Burg noch, weil die Vorfahren von yarl Altabete, yarl Grootplen und yarl Moréaval sie tapfer von allen Seiten verteidigt hatten.

Die Menschen, die die Festung bewohnten, wirkten nicht glücklicher. Jeder, der unseren Weg kreuzte, schien geistesabwesend, freudlos und schien eine unsichtbare Last mit sich herumzutragen. Wo Leute miteinander im Gespräch waren, redeten sie mit gedämpften Stimmen. Nirgends hörte ich jemanden lachen.

Ich betrachtete Kleider, Schmuck, Möbel, verglaste Fenster, kunstfertige Malereien. Alles kam mir sehr ordentlich und gepflegt vor, aber doch auf eine subtile und deprimierende Weise traurig. Etwa so, als sei etwas verschwunden, was dieser Umgebung und ihren Bewohnern zuvor Kraft und Lebendigkeit verliehen hatte. Auf den Fluren und in den Zimmern, in denen die teiranda mir Dinge zeigte, die sie für interessant hielt, überkam mich eine Stimmung wie auf einem Krankenhausflur oder einer muffigen Behörde in einem Altbau. Ich kann es nicht besser in Worte fassen. Obwohl ich wieder Farben sah, lag alles wie unter einem dünnen Staubfilm, obwohl nirgends Schmutz zu sehen war. Vergilbt. Verblasst. Kraftlos.

Die Burg wirkte wie Kíaná von Wijdlant selbst und ihre Gefolgschaft. Dennoch blieb ich an ihrer Seite und versuchte mir einzureden, ein riesiges Museum zu besuchen. Mochte die Zofe mich anfeinden und die teiranda in ihrer gespenstischen Kränklichkeit in einer Traumwelt umher wandeln … ich war mir sicher, dass Gor Lucegath sich nicht zeigen würde, solange ich mit ihnen gemeinsam unterwegs war.

Gegen Abend entschloss die teiranda sich, ein Bad zu nehmen und ordnete an, man möge ihr warmes Wasser bereiten. In ihre Badestube konnte ich ihr natürlich nicht folgen. Ich nutzte diesen Moment, mich zu verabschieden und zu entfernen. Ich hatte kein Bedürfnis, ihr bei der Körperpflege zu assistieren. Wahrscheinlich tat ich der Kammermagd einen Gefallen damit.

Zurück in meiner Kammer überzeugte ich mich davon, dass die Geige nach wie vor in der Truhe lag und arbeitete dann an der Vase weiter, solange das Tageslicht dazu noch reichte. Dabei gingen mir die verdutzten Blicke der yarlay nicht aus dem Sinn. Offenbar hatte die Nachricht von der baldigen Ankunft des fremden teirand sie überrascht. Zu meinem Erstaunen schienen sie alles andere als begeistert gewesen zu sein. Sie schienen jemand anderen erwartet zu haben.

Zur gewohnten Zeit wurde mir auch mein Abendessen gebracht.

Gor Lucegath stellte das Tablett mitten auf die Scherben, sodass sie darunter noch weiter zerknirschten. Ich war so überrascht und erschrocken, ihn zu sehen, dass ich mich nicht zu bewegen wagte. Mit erhobenem Pinsel saß ich da wie paralysiert und wagte nicht, zu ihm aufzublicken.

Er störte sich nicht daran und schenkte mir aus dem Steingutkrug in einen kristallenen Becher ein. Das war neu. Bisher hatte ich immer einen einfachen Tonbecher gehabt. Für sich selbst hatte er auch ein solches Trinkgefäß mitgebracht. Die Flüssigkeit aus dem Krug war rot und duftete gut.

Dann schob er mir schweigend den Teller zu. Es waren matschig gekochte Nudeln mit Butter und Ketchup. Es duftete unbeschreiblich gut. Es war der Geruch einer längst vergangenen Geborgenheit. Ich schauderte. Wie konnte er nur davon wissen, was dieses Essen für mich repräsentierte?

Er setzte sich zu mir und schien auf etwas zu warten.

„Hast du denn gar keine Fragen?”, fragte er schließlich und trank einen kleinen Schluck.

„Was ist mit dem Küchenmädchen geschehen, das sonst immer kommt?”

„Befürchtest du, ich hätte ihr etwas angetan?” Er lächelte. „Nur, um an diesem einen Abend dein Mundschenk zu sein? Das wäre wohl etwas unverhältnismäßig, nicht wahr?”

„Habt Ihr?”

„Nein. Sie speist heute Abend selbst einmal in der großen Halle. Wenn du willst, kannst du dich anschließen.”

„Dann muss ich nicht mehr hier allein bleiben?”

„Wenn du zu ihnen gehören willst, dann nicht. Dann würde allerdings diese Speise hier kalt. Du musst dich entscheiden, was dir künftig besser mundet.”

Aha. Das, so wurde mir klar, war sehr dünnes Eis.

„Wann werde ich Yalomiro wiedersehen?”, fragte ich.

„Möglicherweise bereits in den nächsten beiden Tagen. Sofern er sich entschließt, hierher zu kommen.”

„Natürlich wird er das tun!”

„Und wenn du dich entschließt, auf ihn zu warten. Trink, Ujora. Ich versichere dir, es ist keine Arglist in dem Wein. Wie du siehst, trinke ich aus derselben Karaffe.”

Ich nippte gehorsam an dem Becher. Es war ein sehr starker Wein.

„Was könnte ich anderes tun als warten?”

„Aufwachen.”

„Wie bitte?”

„Es werden in den nächsten Tagen, vielleicht bis zur Nacht bedeutungsvolle Dinge hier geschehen, Ujora. Dass die teiranda sich verliebt hat, wird dir nicht entgangen sein.”

„Nein. Und ich frage mich, was Ihr damit bezweckt habt, diese seltsame Geschichte zu arrangieren.”

„Es macht mir einige Dinge so viel leichter.”

„Und was für eine Rolle spielen die yarlay dabei? Die Herren waren geradezu verstört.”

„Nun, der teirand wird ohne Zweifel auch seine Ritter mit sich bringen.”

„Und das kommt Euch zupass?”

„Natürlich. Mit etwas Glück habe ich sie alle zugleich beieinander und m uss nicht jedem einzeln alles darlegen.”

Ich stellte die Vase beiseite. Nun, da die restlichen Bruchstücke unter dem Tablett endgültig zermalmt waren, ergab es keinen Sinn mehr, Zeit darauf zu verschwenden.

„Ich wüsste gerne, was Ihr geplant habt. Was all das bringen soll.”

Nun lächelte er nicht mehr. Stattdessen schwenkte er seinen Becher und beobachtete, wie die Flüssigkeit darin die Balance zu halten schien.

„Ujora, was hier im Weltenspiel mit uns, mit mir und der teiranda und den yarlay geschieht, muss dich nicht kümmern. Ich bin gekommen, um dir ein Angebot zu machen. Wie würde es dir gefallen, all das hier hinter dir zu lassen, wie einen bösen wirren Traum?”

„Warum solltet Ihr mir das anbieten? Ihr habt bestimmt etwas vor. War es nicht von Anfang an Euer Plan, mich zu einer Bewohnerin von Pianmurít zu machen?”

„Würde es deine Vorstellung so übersteigen, dass selbst ich zuweilen gnädig sein kann?”

„Ja.”

„Schade.” Er stellte den Becher ab. „Ujora, ich habe einen Pakt mit Yalomiro Lagoscyre geschlossen und ich bin mir sicher, dass du irgendwie davon erfahren hast.”

Oh. Daher wehte der Wind. Nun nichts Falsches sagen…

„Ich habe ihm versprochen, dich nicht anzutasten, und ich habe ihm zugesichert, dich in deine eigene Welt zurückzubringen. Unter genau diesen Bedingungen will er das ay’cha’ree bringen. r will, dass du dich in Sicherheit bringst. Wir mögen uns untereinander mit großem Hass bis aufs Blut bekämpfen, Ujora, aber Magier werden sich immer an die Bedingungen halten, die sie miteinander aushandeln. Allerdings haben wir nicht über den Zeitpunkt geredet. Es steht mir frei, es dir jetzt anzubieten. Noch bevor er hier erscheint.”

„Wer hätte einen Nutzen davon?”

„Du. Du könntest weiter leben wie zuvor, als ob du nie durch einen kindischen Zauber in ein Weltenspiel hineingezogen worden wärest, dessen Regeln du nicht kennst. Wahrscheinlich wäre dein Zeitempfinden für eine Weile etwas konfus. Aber davon solltest du dich schnell erholen.”

Die Nudeln auf dem Teller dufteten einladend. Ich versuchte, es zu ignorieren.

„Ich finde den Haken nicht.”

„Du würdest deinen Schattensänger nicht wiedersehen. Das ist, zugegeben, für dich wahrscheinlich ein kleines Opfer. Aber betrachte es einmal von seiner Warte. Sobald du nicht mehr hier bist, muss er keine Rücksicht mehr auf dich üben. Du würdest ihm eine gewaltige Last nehmen und ihn der Fesseln entbinden, die zurzeit sein Handeln einschränken.”

„Aber bedeutet das nicht zugleich, dass Ihr alle Vorteile aufgebt, die Ihr durch meine Anwesenheit habt?”

„Nein. Im Gegenteil. Auch wenn es so aussehen mag.”

„Er könnte denken, Ihr habet mich aus dem Weg geschafft.”

„Nein. Ich könnte ihm das Gegenteil beweisen.”

„Wenn er mit dem ay’cha’ree hier ankommt und mich nicht mehr antrifft, wird er Euch augenblicklich bekämpfen. Warum sollte er es Euch dann noch freiwillig geben?”

„Ich weiß. Die Gelegenheit, mich anzugreifen, wird er sich in seiner Arroganz, Selbstüberschätzung und unbestreitbar brillanten Magie nicht entgehen lassen.”

Ich zögerte kurz. Kurz streifte mich eine verstörende Idee.

Erwartet Ihr von ihm, dass er Euch angreifen soll?”

„Ich könnte es ihm nicht verdenken.”

„Aber … warum bietet Ihr mir das an? Warum sollte ich gerade jetzt … zurückkehren?”

Der Rotgewandete trank. „Du müsstest dir seinen Untergang nicht anschauen, in deiner sicheren Welt. Und du würdest dort auch nie erfahren, wie es ausgegangen ist. Für dich wäre es ein Traum. Ohne Verantwortung. Ohne Gewissen. Ohne Schmerz. Glaub mir, das ist eine sehr gute Lösung.”

„Wäre das nicht … feige?”

„Nein. Ujora, es dürfte in allen Weltenspielen, die hier und anderswo die Mächte austragen, sehr selten vorkommen, dass jemandem die Möglichkeit geboten wird, an jenen Zeitpunkt zurückzukehren, bevor gewisse Dinge in einem Leben geschehen sind. Und du solltest bedenken: Wenn du jetzt gehst, wirst du nie die Gewissheit, aber stets die Hoffnung haben, dass Yalomiro Lagoscyre möglicherweise gesiegt, mich vernichtet und die Grenzen von Pianmurít eingerissen hat. Mit diesem Opfer könntest du ihm einen entscheidenden Vorteil verschaffen.” Er trank aus und erhob sich. „Einen, für den er dir ewig dankbar sein wird.”

Er wartete. Ich umklammerte meinen Becher mit beiden Händen und starrte auf die Weinoberfläche.

„Wäre es angesichts dessen nicht sehr eigennützig und geradezu abgeschmackt, die Gelegenheit verstreichen zu lassen, nur um einen kurzen, pathetischen Moment des Wiedersehens, der in diesem Spiel niemandem einen Vorteil bringt?”

„Warum sagt Ihr mir all das?”, brachte ich leise hervor.

„Vielleicht, weil ich nicht immer der Schurke sein möchte?”

Ich schaute zu ihm auf und fand keine Spur von Ironie oder Sarkasmus in seiner Miene.

„Bis wann muss ich mich entschieden haben?”, fragte ich.

„Komm zu mir, wenn dir danach ist”, antwortete er, verneigte sich und ließ mich allein. Diesmal verschwanden die Nudeln nicht vom Teller. Der köstliche Duft aus meiner Kindheit erfüllte das Zimmer und machte mich unendlich traurig.

***

Etwa zu dieser Stunde näherten sich Gundald Lebréoka und Léur Tjiergroen der Grenze zwischen dem yarlmálon Althopian und dem Reich von Asgaý von Spagor.

Die beiden Nächte zuvor hatten die Ritter auf Waýreth Althopians Burg verbracht, wo man sie gastfreundlich empfangen hatte. Wo der yarl sich aufhielt, hatte man dort allerdings nicht zu sagen gewusst, was die Herren zunächst misstrauisch gemacht hatte. Sie hatten angenommen, dass Althopian sich in seiner eigenen Festung verschanzt hatte, um sich vor Benjus von Valvivants Zorn in Sicherheit zu bringen. Aber während ihres Aufenthalts erschien ihnen die Ahnungslosigkeit des Burgvolkes aufrichtig zu sein. Tatsächlich hatten sie den Weg des Ritters auf der Hauptstraße entlang der Herbergen noch nachvollziehen können; in seinem eigenen yarlmálon war er allerdings schon seit beinahe vier Monden nicht mehr gesehen worden. Die Herren konnten sich frei in der Burg bewegen, jedes Zimmer betreten und fanden keinen Hinweis darauf, dass Althopian sich hier versteckt hielt. Lebréoka hatte sogar diskret im Stall nach dem auffälligen großen Hengst des Ritters Ausschau gehalten.

Am Vormittag nun war der maedlor, der in Abwesenheit des Herrn die Geschicke des yarlmálon zu verantworten hatte, mit einer Nachricht zu ihnen gekommen, die eine Brieftaube aus der Burg des teirand von Spagor gebracht hatte. Althopian selbst ließ seine Leute wissen, dass er wieder im Hofdienst sei, so die Mächte es wollten, aber bald heimkehren wolle.

Beide, Lebréoka und Tjiergroen hatten gehofft, den Ritt ans Meer vermeiden zu können. Viel einfacher wäre es gewesen, hätte Waýreth Althopian bei seiner Suche nach dem Schattensänger irgendwo unterwegs sein Ende gefunden. Dann hätte sie ihrem Herrn die traurige Nachricht von einer ehrenvollen Niederlage des yarl überbringen können. Die beiden Ritter hatten auf ihrer weiten Reise lange Zeit darüber geredet.

Dass Althopian tatsächlich etwas zu verbergen hatte, lag auf der Hand. Hätte er seinen Auftrag erfolgreich ausgeführt, wäre er selbst nach Valvivant zurückgekehrt. Stattdessen schien er sich in den trügerischen Schutz seines teirand geflüchtet zu haben.

Ob Asgaý von Spagor seinen yarl wohl selbst richten oder Ihnen auf Geheiß von Benjus von Valvivant ausliefern würde?

Wie unangenehm würde es sein, wenn der junge teirand ihnen beides verweigern und möglicherweise auf das yarlpénar bestehen würde, das Althopian selbst eingefordert hatte. Die Anklage stand schließlich auf so wackligen Füßen, dass sich die teirandon auf einer Linie vom Meer bis zum Montazíel zum Gespött machen würden. Und das, ohne dass jemand diesen geheimnisvollen camat’ay jemals zu Gesicht bekommen hatte, von dem Benjus von Valvivant unablässig gefaselt hatte. Möglicherweise würde es zu einer Eskalation, einem Streit zwischen den beiden teiranday kommen, in die die yarlay alle Parteien unrühmlich hineingezogen würden.

Wenn sie keine Rast machten, würden sie noch einen Tag lang unterwegs sein, bevor sie sich entscheiden mussten, wie mit Waýreth Althopian zu verfahren sei.

Ihnen beiden war klar, dass es für alle Seiten am besten wäre, den Tod des Ritters in einem ehrenhaften Kampf zu verkünden. Alles andere würde die Dinge nur … kompliziert machen.