Die Nacht war hereingebrochen. Nichts war geschehen. Weder war ein großer Held mit seinem Tross aufgetaucht, noch war Yalomiro zurückgekehrt. Der geschmückte Burghof lag in gespenstischer Stille da. Ab und zu knatterte ein Banner, wenn ein Windzug vorbeifegte. Niemand war zu sehen, nicht einmal die sinnlos ihre Runden ziehenden Wachposten, die sonst um diese Zeit ihren Dienst taten. Auch oben in Meister Gors Turmzimmer war es finster.

Ich hatte keinen Grund, zu schleichen oder in Heimlichkeit herumzustreifen. Es war egal, ob mich jemand sah. Unheimlich war es auf dem menschenleeren, nächtlichen Burghof. Wo waren sie alle? Musste ich vorsichtig sein? Oder war es mittlerweile egal, was ich unternahm?

Ich hatte keine Ahnung, wann und wie Gor Lucegath es getan hatte. Aber ich hatte keinen Zweifel daran, dass der Rotgewandete die Geige an sich genommen hatte. Und wenn das der Fall war, dann hatte er sie sicherlich längst zerstört. Warum sonst sollte er sich die Mühe machen?

Alles, was mir von Yalomiro geblieben war, waren nun also nur noch die einzelne Holzscherbe und der zerbrochene Bogen. Ich trug beides in der Hand, entschlossen, es nie wieder herzugeben, egal, was passieren würde. Mit dieser wunderlichen Ausrüstung und einer Öllaterne an einem Tragegriff streifte ich durch die nächtliche Burg und fragte mich, wo all die Menschen waren. Sicher, die meisten würden nach einem langen Tag voller nutzloser Arbeit schlafen gegangen sei. Doch auch im Schlaf war es nicht denkbar, dass sie alle sich in Luft auflösten.

Zaghaft hatte ich auf gut Glück begonnen, Türen zu öffnen. Ich stieß auf komfortabel ausgestattete Kemenaten ebenso wie auf Gesindequartiere und sogar eine Art Wachstube voller stumpf aussehender Waffen. Ich fand aufwändige Holzbetten und Strohmatratzen am Boden. Aber niemanden, der darin schlafen würde.

Sie konnten doch nicht alle verschwunden sein! Irgendetwas stimmte hier nicht!

Doch je länger ich mich auf der Suche befand, desto unwirklicher begann mein nächtlicher Rundgang zu werden. Es lässt sich schwer in Worte fassen, aber je mehr Zeit verstrich, desto schemenhafter und verschwommener wurde die Burg. Die Gänge und Korridore kamen mir zunehmend vor, als setzten sie sich endlos in die Ferne fort und wandelten sich von Fluren zu schnurgeraden, schmucklosen Tunneln. Und es ging abwärts, das konnte ich unter den Füßen spüren.

Vielleicht träumte ich meinerseits? Oder war es eine Magie, die mich einlullen sollte? Es war im Grunde egal. Ich tappte voran und meine Gedanken drifteten von mir weg. Es war ein verstörend angenehmes Gefühl, eine Art betäubende Sorglosigkeit, die von mir Besitz ergriff und mein Bewusstsein langsam verdrängte. So, als fiele ich langsam in eine Narkose.

Bis zu dem Moment, als mich ein scharfer Schmerz traf und zusammenzucken ließ, heiß wie Feuer und so hart, als führe er glatt durch meinen Körper hindurch.

***

Waýreth Althopian hatte in seinem Leben noch keinen Streich mit so viel Kraft und Verzweiflung geführt wie in diesem Moment. Mit der flachen Klinge hatte er ausgeholt, um den Magier niederzuschlagen.

Das Schwert traf die Schultern des Magiers und wurde in der Hand des Ritters zu einem Blitz, zu einem Schmerz, der ihm von den Fingern, die das Schwert führten, durch den ganzen Körper zuckte, bis in seine Zehenspitzen und so gewaltig war, dass er in seinem Kopf keinen Platz hatte.

Ohne einen Laut sank Waýreth Althopian in sich zusammen, das Schwert nun untrennbar mit seinen verkrampften Fingern verbunden. Zu keiner Bewegung war der yarl fähig. Das Pferd scheute, aber da es angebunden war, konnte es nicht weglaufen. Es wieherte schrill auf und riss an seinem Strick.

Der Schattensänger drehte sich langsam zu dem wehrlosen Ritter um. Seine Augen leuchteten in so grellem Silber, als scheine Sonne auf einen Spiegel.

„Ich habe mich wohl geirrt”, sagte er ruhig und neigte sich über ihn. „Ich hatte gedacht, unter den yarlay im Weltenspiel gebe es keinen würdigeren als Waýreth Althopian, kein reineres Herz, keine größere Ehre und keinen größeren Mut. Wie schade, dass mir nun ein feiger, ehrloser und verdorbener Mann begegnet, nun, da das Weltenspiel so nahe vor einer Entscheidung steht. Einer, der mir buchstäblich in den Rücken fällt. Herr Waýreth, ist bin enttäuscht von Euch. Und über alle Maßen verärgert.”

Der Ritter zuckte unkontrolliert. Etwas antworten, sich verteidigen konnte er nicht. Selbst seine Zähne pressten so schmerzhaft aufeinander, dass sie zu zerspringen drohten.

„Wie gerne hätte ich mit Euch zusammen einen Weg gefunden, Eure Kumpane aus Pianmurít herauszuholen. Mit großem Gefallen hätte ich es gesehen, wenn Ihr Euer Glück mit der yarlara gefunden hättet. Nun aber muss ich erkennen, dass ich mich in Euch getäuscht habe. Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als den Pakt der camat’ay mit dem Haus Althopian an dieser Stelle zu beenden.”

Er kniete neben dem Ritter nieder. „Schaut mir in die Augen, Waýreth Althopian. Es wird bei weitem nicht so schmerzhaft sein wie das, was der Rotgewandete womöglich mit Euch anstellt, wenn er von Eurem Versagen erfährt.”

Ein Zucken lief in Wellen über Althopians Körper. Er war außerstande, sich zu bewegen.

„Gnade”, kam es mühsam über seine zusammengepressten Lippen.

„Wofür? Ihr wolltet mich hinterrücks erschlagen. Ich werde Euch töten, indem ich Euch offen ins Gesicht schaue.”

„Eure … Unschuld“, wisperte der Ritter.

Der Magier lächelte müde. „Vielleicht muss ich die dahingeben, um noch mehr Schrecken zu verhindern.”

Waýreth Althopian wimmerte auf. Sein Körper war immer noch gelähmt.

„Wirklich bedauerlich”, sagte der Schattensänger und drehte den Ritter auf den Rücken.

„Nein! Nicht!”

Aus der dunkelblauen Dämmerung hastete jemand durch die Dünen herbei, kämpfte sich keuchend durch den Sand und stürzte an dem nervös tänzelnden Pferd herbei. Mit einem Satz hechtete Isan vor und warf sich über Waýreth Althopians Körper.

Der Schattensänger wich verblüfft zurück.

„Bitte”, stieß das Mädchen atemlos hervor. Beide Augen hatte es fest zugekniffen und das Gesicht von dem Magier abgewendet. „Bitte, tut ihm nichts zuleide. Er … er steht unter einem furchtbaren Zauber! Er hat das alles … bitte. Es ist ein Missverständnis!”

„Natürlich ist es ein Missverständnis”, sagte der Magier und zog seinen Hut in die Stirn. „Nichtsdestoweniger hat er gerade versucht, mich zu erschlagen, um mich zu berauben.”

„Das ist nicht wahr!”

„Ich war dabei.”

„Aber … nein. Wie immer es sich darstellt, es ist konfus. Nie im Leben hätte mein Herr Euch ernsthaft verletzt oder Schlimmeres getan. Was immer er versucht hat, Euch fortzunehmen … bitte. Hört mich an! Ich glaube, ich kann das alles erklären.”

„Würde eine Erklärung es bessern?”

„Lasst es mich wenigstens versuchen. Wenn … wenn Ihr ihn tötet, ist das vielleicht genau das, was der Rotgewandete erreichen will.”

Der Schattensänger hob die Brauen. „Was weißt du vom Rotgewandeten?”

„Er hat Schlimmes vor. Mit ihm hier … und sicher auch mit Euch! Und niemand kann sich dagegen wehren”

Der Magier schwieg. Isan ließ zaghaft von dem yarl ab und kniete zitternd im Sand.

„Die Fremde aus dem anderen Weltenspiel, die sich Ujora nennt, hat Euch so lieb! Und Kelwa sagt auch, dass Ihr ein … ein guter Magier seid. Ihr habt ihre Rosen zum Blühen gebracht. Ihr habt ein reines Herz!”

Er hockte sich ihr gegenüber hin. Zwischen ihnen zuckte der Ritter am Boden.

„Kind, mein Herz ist nahe daran zu zerbersten vor übergroßem Zorn.”

„Bezähmt das, was in Euch die Wut entfacht! Ihr könnt das ganz bestimmt! Verta sagt .. ich … es …”

Sie verhaspelte sich, wimmerte und ihre Hände gestikulierten hilflos.

„Was sagt Verta”, fragte der Magier. „Sprich nur zu.”

„Immer wenn ich wütend war”, wisperte das Mädchen, „so wütend, dass ich Sachen kaputthauen hätte mögen, hat Verta gesagt, ich solle damit über Nacht warten. Bevor ich nachher über Scherben jammere.”

„Du meinst also, dass ich im Morgengrauen immer noch die Gelegenheit hätte, ihm hier seinen Verrat zu vergelten?”

„Ja! Nein … ich … oh, bei den Mächten.”

Der Schattensänger schwieg eine Weile über dem, panischen Mädchen und dem gelähmten yarl. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit ergriff er wieder das Wort.

„Du bist die doayra, die in Wijdlant meine Wunden geheilt hat, nicht wahr? Das hast du meisterhaft gemacht. Wirklich ausgezeichnet.”

Sie schaute überrascht auf, besann sich und senkte den Blick schnell wieder. „Danke. Woher wisst Ihr davon?”

„Ich war nicht ganz so besinnungslos, wie du gedacht hast. Ich konnte hören und spüren, was du gesagt, getan und gedacht hast.”

Isan schluckte. „Bei den Mächten”, brachte sie kleinlaut vor und errötete schuldbewusst.

„Du warst es also auch, die der ujora in Valvivant Gesellschaft geleistet hat.”

„Ja, schon. Aber es geht doch jetzt um meinen Herrn hier. Bitte tötet ihn nicht!”

„Aber ich kann ihm nicht mehr vertrauen. Er ist zu einem Gefolgsmann von Gor Lucegath geworden. Das Weltenspiel hängt davon ab, dass ich den Rotgewandeten besiege. Für dich und Kelwa und Verta und all die Leute, die unschuldig an alledem sind.”

„Er ist kein Knecht des goala’ay. Er ist sein Opfer. Er wird erpresst.”

„Womit?”

„Ich … ich denke mit demselben, womit der Rotgewandete auch Euch in der Hand hat.”

„Und das wäre?”

„Liebe.”

Der Magier schwieg auffordernd.

„Bitte … ich weiß nicht, wie es in Eurem Herzen aussieht. Aber ich habe doch gesehen, was der Rotgewandete Euch angetan hat, und wie sehr Ujora Euch liebt. Für wen, wenn nicht für sie, würdet Ihr es auf Euch nehmen, zum Mörder zu werden?”

„Vielleicht hänge ich auch einfach sehr an meinem eigenen Leben?”

„Gerade eben sagtet Ihr, es ginge um das Weltenspiel.”

„Schließt sich das aus? Ich wäre nicht der erste Schattensänger, der Geschmack an … Macht gefunden hätte. Nicht der erste, aus dem die Macht ein Monster gemacht hat.”

„Wenn dem so wäre … dann hättet Ihr keine Zeit verschwendet, mir zuzuhören. Ihr habt nicht vor, ein Monster zu werden.”

„Das stimmt.”

„Dann hört nicht auf das, was Eure Wut befeuert. Erweist Euch der Liebe Eurer hýardora als würdig! Vergebt meinem Herrn. Befreit ihn von dem Fluch, den der Rotgewandete auf ihn geladen hat. Nutzt Eure Macht um … gütig und gerecht zu sein!”

„Das würde dir also besser gefallen? Ein gütiger und gerechter Schwarzmantel würde dir keine Angst machen?”

Sie nickte lebhaft. „Ich weiß, dass die Mächte Euch nicht grausam und kalt sehen wollen. Sonst hätten sie Euch nicht die Gunst geschenkt, geliebt zu werden. “

Er musterte sie nachdenklich, wie sie da über ihren besiegten Herrn gekauert saß und vor ihrem eigenen Mut zu beben schien.

Das Artefakt, das gerade eben noch seinen Zorn absorbiert und ins Unermessliche verstärkt hatte, fühlte sich nun wieder ganz anders aus. Er legte die Hand darauf und erschauerte vor der Macht und dem, wie sie seinen Verstand aus der Bahn gerissen hatte. Bei den Mächten, was für eine Energie!

„Ist dir denn bekannt, womit der Rotgewandete ihn verzaubert haben könnte? Es ist mit ziemlicher Sicherheit etwas, das er immer bei sich hat.”

„Warum?”

„Weil ein Zauber über eine solch weite Distanz und Zeit nicht ohne ein Hilfsmittel aufrecht zu erhalten ist.”

„Er hat nichts bei sich, nicht, dass ich wüsste. Aber … könnte es das hier sein?”

Sie griff in ihre Tasche und förderte die Kalebasse hervor. Mit zitternden Händen hielt sie sie dem Schattensänger hin. Der Magier entkorkte das Gefäß und roch daran.

„Was hat es damit auf sich?”

„Ich muss ihm täglich davon zu trinken geben. Sonst wird ihm so übel, dass er nicht mehr aufrecht stehen kann.”

„Hast du denn die Taublütensamen nicht in deiner Arzneitasche, die der Lichtwächter dir dafür gegeben hat, dass du mich verarztet hast?”

„Ich … oh.” Sie schaute überrascht ins Leere.

„Du bist gar nicht mehr auf den Gedanken gekommen, dass ihm das helfen könnte, nachdem der Rotgewandete selbst dir diesen Wundertrank gegeben hat, nicht wahr?”

Sie vergrub das Gesicht in den Händen. „Taublüten! Natürlich! Ich bin eine solche Idiotin!”

Der Schattensänger erhob sich. Zwischenzeitlich hatte Waýreth Althopian die Gewalt über seine Stimme zurückgewonnen.

„Isan”, krächzte er. „Du solltest … genau deshalb hatte ich dich einsperren lassen …”

„Aber ich musste Euch doch warnen, Herr! Yarl Tjiergroen und yarl Lebréoka sind hier. Sie wollen, dass Euer teirand Euch ausliefert. Ihr müsst fliehen!”

„In diesem Zustand”, sagte der Schattensänger sachlich, „flieht er nirgendwohin.”

„Bitte …”, wisperte Althopian. „die yarlara … ich muss sie beschützen …”

Der Schattensänger goss die Kalebasse aus, restlos. Über den nassen Fleck am Boden schob er mit dem Fuß trockenen Sand.

„Verliere keine Zeit. Diesen Zauber kann nur Gor Lucegaths eigene Arznei brechen. Beeile dich damit. Ich fürchte, es bleibt sonst kaum noch genug Zeit, all das zu erledigen, was in dieser Nacht geschehen muss.”