
Pianmurít war nun wie das Innere einer Regenwolke; ein grauer Nebel, innerhalb dessen der Blick nur einige Schritte weit reichte. Es war völlig still. Nur das Metall am Rüstzeug der yarlay klimperte ab und zu leise. Arámaú übertönte es mit ihrem Fauchen und Zischen. Aber gegen Moréavals gepanzerte Finger und Arme konnten ihre Krallen nichts ausrichten.
Im selben Moment kam yarl Grootplen uns entgegen. Er schleppte den kleineren Spiegel der teiranda und sie folgte ihm so dicht, dass sie fast seinen Mantel berührte. Er warf seinen Kameraden einen verlegenen, matten, erschöpften Blick zu. Die teiranda hingegen schien weder wahrzunehmen noch zu interessieren, wo sie sich befand. Ihre Aufmerksamkeit war auf das Spiegelglas fixiert, in dem nicht zu sehen war; nicht einmal die Reflektionen der Umstehenden, die es eigentlich hätte einfangen müssen.
Und so standen wir schließlich beieinander: Arámaú, die teiranda und ich, jede mit einem seinem Schicksal ergebenen ritterlichen Bewacher im Rücken.
Zwischen uns stand ein Tisch, auf dessen Rand Gor Lucegath sich seitlich niedergelassen hatte. Das hölzerne, grob gefertigte Möbelstück hatte in der grauen Leere eine geradezu beängstigende Wirkung, so massiv und körperlich wirkte es, so als ob es alles um sich herum anzog wie ein Schwerkraftpol. Ich fragte mich, ob es der Tisch aus seinem Gemach war.
Er schaute nicht einmal auf, als wir in seine Nähe kamen.
„Was soll der Spiegel hier, Grootplen?”, fragte er stattdessen, wie in Gedanken.
„Sie war nicht dazu zu bewegen, ohne ihn mitzukommen”, sagte der Ritter verlegen.
Der Rotgewandete seufzte. „Es ist ein Jammer, dass man Unkundigen keine Werkzeuge zur Hand geben kann, ohne dass sie über kurz oder lang besessen davon werden. Nicht wahr, Ujora?”
Er erhob sich, nahm mir den Bogen aus der Hand und gab die Sicht auf die Geige frei. Sie lag mitten auf dem Tisch. Er legte den Bogen daneben.
Arámaú fauchte. Der Rotgewandete warf ihr einen flüchtigen Blick zu und lehnte sich nun so an die Tischkante, dass ich das Instrument genau im Blick hatte. Erwartete er eine Antwort von mir?
„Yarl Altabete”, wandte der Lichtwächter sich höflich an meinen Bewacher, „dieses penetrant schreiende Bündel, mit dem Moréaval da seine liebe Not zu haben scheint… das ist doch nicht zufällig dieses mysteriöse kleine Tier, das Euch seinerzeit zu diesem törichten Brief verleitet hat?”
„Möglicherweise”, gab Altabete zögerlich zu. „Eine kleine Katze, ja. Ich erinnere mich. Aber ob es diese war … es war nachts. Sie sehen alle gleich aus.”
„Nun, wie auch immer. Ihr Gekreisch ist kaum zu ertragen. Tut mir den Gefallen, Moréaval, und bringt sie zum Schweigen.”
Arámaú schrie so markerschütternd, dass der junge Ritter zusammenzuckte. Mir blieb fast das Herz stehen vor Schreck.
„Nein!”, rief ich aus wandte mich hilfesuchend der teiranda zu. Aber Kíaná von Wijdlant schien weder zu hören noch zu sehen, was jenseits des Spiegels geschah.
„Meister?”, fragte Moréaval zweifelnd.
„Nur zu, edler Herr. Keine Scheu. Zerschmettert das Vieh.” Der Rotgewandete deutete einladend auf die Tischkante neben sich. Der junge Mann tat zögernd einen Schritt näher.
„Ich … ich will das nicht tun”, sagte er tonlos.
„Nein, natürlich wollt Ihr das nicht. Schon als Knabe war Euch jedes Leid, das einem Tier geschah, zuwider. Also, worauf wartet Ihr?”
Der Ritter wimmerte auf. Sein Arm, mit dem er Arámaú gepackt hielt, bewegte sich wie gegen seinen Willen in die Höhe. Die Katze kreischte gellend.
Ich riss mich von Andriér Altabete los und stellte mich, ohne nachzudenken, in den Weg. „Herr Jóndere, hört nicht auf ihn! Das dürft Ihr nicht!”
Arámaú strampelte in Panik. Der Rotgewandete hob die Hand und Moréaval hielt inne.
„Was liegt dir so viel an einer streunenden Katze, Ujora?”
„Das … sie ist …”
Gor Lucegath wartete. Hatte es Sinn, wenn ich mich dumm stellte? Ich versuchte es.
„Was muss ich tun, damit Ihr die Katze in Ruhe lasst?”
Er lächelte. „Du könntest jetzt diese alberne Bastelei vollenden, die uns alle so in Unruhe und Heimlichtuereien versetzt hat.”
„Wenn ich das mache, tut Ihr der Katze nichts zuleide?”
„Sofern sie zugleich endlich mit dem Gejaule aufhört, können wir darüber nachdenken.”
Arámaú verstummte. Nein! Tu es nicht!
„Es ist nur Holz”, murmelte ich resigniert. „Nur kaputtes Holz.”
Ich drehte mich so, dass ich halbwegs diskret die Scherbe aus meinem Ausschnitt hervorholen konnte. Mir war bewusst, dass ich nun keine andere Wahl hatte. Natürlich war es unangenehm und beschämend, dass es auf diese Weise geschah. Aber hatte Arámaú nicht selbst immer wieder gesagt, es sei nichts als Scherben? Ein bis zur Unbrauchbarkeit zerstörter Gegenstand, den ich mit viel zu viel unnützer Emotion aufgeladen hatte?
Ich kam unter den wachsamen Augen des Rotgewandeten näher und beugte mich über das Instrument mit der klaffenden Lücke an der Seite.
Die Tischplatte um die Geige her war seltsam gesprenkelt. Es sah aus, als hätten sich Spritzer und Rinnsale von kochendem, mattsilbernem Blei regelrecht in das Holz eingeätzt. Dort, von wo dieses Muster auszugehen schien, sah es aus, als habe sich immer wieder etwas Schmales durch den Tisch gebohrt. Ich zögerte entsetzt, als mir klar wurde, was das tatsächlich sein musste.
Er wartete geduldig. Es blieb mir nichts anderes übrig. Die Scherbe rastete in der Lücke ein.
Weiter geschah nichts. Das Instrument lag vervollständigt, aber stumm vor mir. Es waren alle Bruchteile beisammen, und doch sah die Geige entsetzlich aus. Die Leimstellen wirkten wie Fäden von Schleim, und der Korpus war auf eine verstörende Weise deformiert. Ein wenig wie ein gekochtes Ei, das jemand mit einem Hammer bearbeitet hatte. Die Saiten hingen durch.
Was hatte ich erwartet?
Ich trat einen Schritt zurück. Das Katzengeschrei war verstummt. Arámaú hing in Moréavals Griff, wie resigniert.
„Da liegt es also, das Werkzeug von Yalomiro Lagoscyre”, sagte der Rotgewandete. „In Trümmer geschlagen und mit zugegeben viel Geduld und enttäuschend wenig Fertigkeit zusammengekleistert. Es hat etwas sehr Trauriges, ein so mächtiges Ding so zu sehen, nicht wahr, Ujora? Ist das wohl alles, was von dem Schattensänger übrig geblieben ist, den du kanntest?”
„Ich habe getan, was ich konnte.”
„Und warum”, fragte er sanft, „hast du es getan?”
„Ich weiß nicht. Ich denke, ich wollte es ungeschehen machen.”
„Manche Dinge, Ujora, bleiben besser zerschlagen. Die hier ist würdelos.”
„Bitte”, brachte ich tonlos hervor. „Ihr dürft der Katze trotzdem nichts zuleide tun.”
Er richtete seine Aufmerksamkeit nun auf das Tier in Moréavals verkrampften Händen.
„Und du, Arámaú Boscargén? Bist du das Versteckspiel nicht langsam leid? Wann, wenn nicht jetzt, wäre es der geeignete Moment, endlich Tapferkeit zu beweisen und die Scharade aufzugeben?”
Arámaú fauchte und wand sich in Moréavals Hand. Dann verwandelte sie sich.
Der Ritter ließ sie erschrocken fallen. Arámaú schüttelte sich und wandte sich mit einem ärgerlichen Fauchen zu ihm um. Dann schaute sie mir stumm mit grünsilbernem Blick in die Augen.
Ich blickte sie verstört an. Sie sank in sich zusammen, als senke sich eine Last auf ihre Schultern. Jóndere Moréaval starrte sie an und verneigte sich plötzlich tief. Grootplen und Altabete folgten seinem Beispiel und schlugen ihre Augen nieder. Nur die teiranda schien von alledem nichts zu bemerken. Sie liebkoste mit leerem Blick und zärtlichen Händen den Spiegel.
Ich benötigte einen Moment, um zu begreifen, dass die drei Männer vor der wilden, wütenden Schönheit des Mädchens erschraken, das aus dem Katzenkörper hervorgekommen war. Zugleich schienen sie instinktiv der Gefahr gewahr zu sein, die von ihrem puren Anblick ausging.
Aber bevor irgendjemand etwas sagte, bevor etwas geschah, warf der Rotgewandete einen Zauber in die Leere, und alles erstarrte.
Alles, außer ihm und mir.
***
Vier Reiter waren es, die auf sie zugesprengt kamen, quer durch den Sand und das salzige Gras kämpften sich die Pferde. Die Berittenen nahmen keine Rücksicht auf den Bohlenweg. Natürlich hatten sie Althopians Pferd aus der Entfernung erspäht.
Yalomiro trat in den Weg von Asgaý von Spagor, der ein ziemlich albernes Kostüm trug. Das Reittier des teirand, ein scheckiges, wohlgenährtes großes Pony, scheute. Sein Herr hatte Mühe, im Sattel zu bleiben.
Der ältere Ritter zerrte sein zähes größeres Pferd herum. Mit erstaunlicher Behändigkeit riss er sein Schwert aus der Scheide und hielt auf den Magier zu, der aus seiner Perspektive gesehen seinen Herrn zu bedrohen schien. Aber die Klinge verfehlte ihn, denn das Pferd wich aus. Den beiden yarlay auf den großen Rössern ging es ähnlich. Keines kam nahe genug an den Magier heran, als dass sein Reiter ihn mit der Waffe erreicht hätte.
Der Schattensänger stand schützend vor Waýreth Althopian, der sich gekrümmt auf den Beinen hielt, eine Hand am Sattel seines Rosses. Isan hatte es schwer, ihn zu stützen. Sie waren umringt von drei – nein – tatsächlich besann sich der teirand seiner Fähigkeiten – vier gezogenen Klingen.
„Da ist er, der Verräter”, brachte yarl Tjiergroen schließlich hervor. „Gleich zusammen mit dem Unhold, den er dem teirand bringen sollte.”
Yalomiro ließ die Hände sinken.
„Ich suche keinen Streit mit Euch, ihr Herren”, sagte er. „Also sucht auch Ihr besser keinen mit mir.”
„Bist du der, der unseren Herrn angriff?”, fragte yarl Tjiergroen grimmig. Seine Hand umklammerte sein Schwert, als suche er Schutz daran.
„Nein. Ich habe sein Haus verlassen, ohne irgendeinen Schaden anzurichten.”
„Wir jagen den da, den unser Herr angeklagt hat!”, sagte yarl Lebréoka verunsichert.
„Ihr wisst, dass ich mit alledem nichts zu tun habe!”, zischte Althopian verärgert.
„Und was macht Ihr dann hier, in Gesellschaft des … Scheusals?”
„Falls ihr damit mich meinen solltet, edle Herren – Waýreth Althopian hat soeben in einem heldenhaften Kampf versucht, mich hinter die Träume zu befördern. Unglücklicherweise ist er an meiner unüberwindbaren dunklen Magie gescheitert. Deshalb steht er dort auch so unglücklich und demoliert.”
Das schien die Ritter und den absurd kostümierten Mann, der mit ihnen gekommen war, tatsächlich zu beeindrucken. Althopian wirkte etwas irritiert und wollte etwas sagen, aber Isan kam ihm zuvor.
„Ich habe es selbst gesehen, yarl Emberbey! Mit einem gewaltigen Streich hat Herr Waýreth gekämpft! Kein sterblicher Mensch hätte dem widerstehen können! Seid gewarnt, edle Herren! Mit den Schwarzmänteln solltet Ihr Frieden halten, wenn Euer Leben Euch lieb ist!”
„Was die fánjula sagen möchte”, unterbrach Yalomiro streng, „ist dass es in dieser Runde niemand wagen sollte, zu Unrecht sein Schwert gegen diesen redlichen Mann hier zu erheben, solange er es nicht seinerseits kann. Alles, was sich nun so sonderbar ausnimmt, soll sich klären. Ihr da, in dem vielfarbigen Gewand – Ihr seid Asgaý von Spagor, der teirand?”
Der junge Mann hatte mit fast kindlichem Staunen das Gespräch verfolgt. Nun, direkt angesprochen, nahm er unwillkürlich Haltung an, als rede ein Ranghöherer zu ihm. „Ja. Ja, ich bin der teirand von Spagor.”
Der Magier verneigte sich höflich. „Aber Ihr habt Euch nicht so … verkleidet, um Euren abtrünnigen yarl zur Strecke zu bringen, nehme ich an”, sagte er.
„Nein”, sagte der junge teirand eilig.. „Natürlich nicht. Es geht um … die Dame.”
„Welche Dame?”
„Es heißt, die teiranda von Wijdlant sei in Gefahr. Ich werde sie retten!”
Der Schattensänger strich sich erschöpft über die Augen. „Bei den Mächten …”
„Wisst Ihr etwas über die teiranda?”, fragte Asgaý von Spagor begierig.
„Mehr, als Euch lieb sein wird. Was ich nicht weiß, ist was Ihr damit zu schaffen habt.”
„Er hat sich in ein gläsernes Bild verliebt”, wisperte Isan hinter Yalomiros Rücken. „Völlig verrückt!”
„Ein Bild? Ihr habt ein Bild aus Glas von der teiranda?”
„Ich kann nicht mehr davon ablassen”, schwärmte der teirand, so als säße er in einem romantischen Rosengarten und nicht mitten in der Nacht im Sattel, während ringsum die Ritter einen mutmaßlichen Attentäter und einen Magier umringten. „Schaut es Euch an!”
„Herr, bitte! Wir haben Ernsteres zu tun!”, rief Waýreth Althopian aus.
„Ernsteres, als die Schönheit der teiranda zu preisen und sie aus höchster Not zu erretten? Althopian, gerade Ihr habt keinen Sinn für die Liebe!”
„Herr, der yarl hat Recht! Was soll denn nun weiter werden?” Tjiergroen warf einen ungeduldigen Blick auf den Mann, den zu ergreifen er hierhergekommen war. „Wir haben unmissverständlichen Befehl, Euren Gefolgsmann gefangen zu nehmen.”
„Wozu? Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen! Und ich stehe auf dem Grund meines Herrn, der über mich Recht sprechen muss, der meine Fürsprecher anhören muss …”
„Und außerdem hat er im Sinne von Benjus von Valvivant gehandelt!”, fügte Isan hinzu. „Zumindest hat er es versucht!”
„Isan, halt endlich dein vorlautes Plappermaul!”, rief Gundald Lebréoka aus. Alsgör Emberbey schwieg. Aber der freudlose Ausdruck seiner Augen sprach Bände. Dem alten Ritter war dies alles zutiefst peinlich.
Yalomiro interessierte das alles nicht. Erschrocken sah er, wie Asgaý von Spagor etwas unter seinem Wams hervor zerrte, was alles andere war als ein steinernes Abbild von Kíaná von Wijdlant, es sich vom Hals nahm und voller Stolz zu ihm hinab reichte, um ihn, den Fremden, an der Schönheit der Dame teilhaben zu lassen.
Das war kein Glas.
Es war eine Scherbe. Ein Spiegel. Es war ein Portal nach Pianmurít.
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