Er hat es getan.

Gor Lucegath schloss die Augen. Endlich.

Noch ist er nicht hier.

Aber der Schattensänger würde alles daran setzen, das ay’cha’ree herzubringen. Aus welcher Motivation heraus mochte dahingestellt bleiben. Der goala’ay vermutete, dass es diese unglückselige, giftige Liebe sein würde. Dieses verdammenswerte Gefühl, dieser unerträgliche Schmerz, der ihn dazu bringen würde, das Weltenspiel für das Wohl der Unkundigen zu opfern.

Der Rotgewandete setzte die Maske ab und rieb sich müde über die Augen. Finster betrachtete er das metallene Objekt in seiner Hand.

Vielleicht würde der Ritter ihm die Entscheidung abnehmen. Auch der Edelmann war motiviert, und auch ihn trieb letztlich die Liebe. Und die Freundschaft. Bei den … Mächten, woher kam sie, diese Selbstlosigkeit? Dieses Bestreben, andere glücklich zu machen oder zumindest dafür zu sorgen, dass niemand litt?

Wieso machten sie sich selbst so verletzlich? Begriffen sie nicht, wohin all das letztlich führte?

Vielleicht wird er dich vernichten.

Würde er das? Nun, es war nicht auszuschließen. Würde es einen Unterschied machen?

Seine Augen schmerzten. Er seufzte und setzte die Maske wieder auf. Das war besser.

Natürlich hatte er bemerkt, dass die Scherbe aus ihrem Versteck fort war. Er konnte sich sogar denken, wer sie an sich genommen hatte, wenn auch nicht, wann und wie das geschehen sein konnte. Nun, es war Diebsgesindel.

Und im Grunde war diese sinnfreie Sentimentalität geradezu drollig. Sollte die Unkundige doch ihre Hoffnung an ein bisschen Holz hängen, wenn es ihr das Warten auf ihren Untergang erträglicher machte. Sie würde wohl noch früh genug feststellen, dass sich Zerbrochenes nicht einfach wieder reparieren ließ. Zerbrochene Magie schon gar nicht.

Er nahm seinen roten Bilderstein zur Hand und beschwor hinauf, was er sehen wollte. Einen Moment lang betrachtete er die Szene missfällig. Dann stellte er das Spielzeug zurück ins Regal und machte sich auf die Suche nach den yarlay.

Er fand die drei Ritter verkatert und übermüdet im großen Saal. Sie saßen bei trockenem Brot und einem heißen Getränk an einem Tisch nahe der Treppe zur Galerie und sahen erschöpft und traurig drein. Sie schienen so in ihr Schicksal ergeben, dass sie sich nicht dagegen wehrten, als er sich zu ihnen setzte.

„Sagt, edle Herren”, fragte er und griff nach der Kanne, „ist einer von Euch schon einmal einem der yarlay von Benjus von Valvivant begegnet?”

Die drei schauten ihn an, Erstaunen in ihren müden Minen. Mit einer solchen Frage hatte wohl niemand gerechnet.

„Ich bin einmal Gundald Lebréoka begegnet”, sagte Andriér Altabete schließlich. „Als ich noch zu Turnieren geritten bin.”

„Habt Ihr ihn besiegt?”

„Mit der Lanze schon. Aber er ist wirklich gut mit dem Schwert.”

„Was ist mit yarl Tjiergroen?”

„Das ist mein Nachbar.”

„Das weiß ich, yarl Grootplen. Aber das habe ich nicht gefragt.”

„Vergebt mir. Ich habe keine Ahnung von seinen Kampfeskünsten. Seit Generationen gab es keinen Streit zwischen meinem und seinem Haus. Mein Großvater und der seine hatten wohl einst eine kleine Reiberei über einen Streifen Land an der Grenze. Ich glaube, sie haben am Ende eine Blumenwiese draus gemacht.”

„Eine Blumenwiese?”

„Für die Imker auf beiden Seiten. Sollten sich doch die Bienen um die Grenze scheren, hatte mein Vater mir erzählt, als ich ein Knabe war. Er fand das sehr … witzig.” Grootplen stellte seinen Becher ab und starrte leer. Eine wehe Erinnerung an den alten, teilnahmslosen Mann in seiner Burg übermannte ihn.

Der Rotgewandete roch an der Kanne. Es war unfassbar, was die Unkundigen zusammenbrauten, um die Trunkenheit zu bekämpfen.

„Ihr seht aus, als hättet Ihr etwas auf dem Herzen, Moréaval?”

Der jüngste der Ritter zuckte zusammen.

„Ich halte es Euch übrigens zugute, dass ich Euch wohlbehalten mit Euren Kumpanen hier antreffe und man nicht Euren kalten Leib aus dem Burggraben fischen musste. Also, fürchtet Euch nicht und fragt, was Euch auf der Zunge liegt.”

Moréaval schluckte. Dann brachte er todesmutig hervor: „Erwartet Ihr, dass wir gegeneinander unsere Waffen erheben?”

„Ich erwarte, dass Ihr Eure Waffen einsetzt, wenn es nötig wird. Und ich wage es, Euch daran zu erinnern, dass das der ursprüngliche Zweck der yarlay im Weltenspiel ist.” Er erhob sich. „Und vielleicht würde es Euch allen wohl anstehen, Euch ein wenig im Kampf zu üben, sobald Ihr den Schlaf abgeschüttelt habt. Ich behalte Euch im Blick. Ich habe übrigens auch gesehen, was Ihr gestern Nacht vor dem Thron der teiranda getrieben habt. Ich habe Euch nur nicht unterbrochen, weil es doch gar zu niedlich war, Euch dort zu sehen wie die jungen Knappen vor dem ersten Kampf.” Gor Lucegath lächelte und setzte hinzu: „Wem immer Ihr versucht habt, Euch anzubefehlen, es hat Euch nicht angehört. Nicht solange Ihr hier mit mir in denselben Mauern seid. Hier hört Euch keine der Mächte zu.”

Nun stand Abscheu in ihren Gesichtern. Sie schienen also zu spüren, dass es ernst wurde. Gut. Als Nächstes würden sie frech werden wie kleine Kinder, denen die Argumente ausgehen.

„Meister”, sagte Grootplen, „im Weltenspiel ist es der teirand, der den yarlay befiehlt. Nicht Euersgleichen.”

Die beiden anderen Ritter waren schreckstarr unter dieser Verwegenheit. Der Rotgewandte seufzte und ließ Grootplen einen wohldosierten Schmerz spüren, der ihn keuchend auf die Knie sinken ließ.

„Manchmal, edler Herr, ändern sich die Spielregeln zum Besseren. Fragt nur Eure Herrin, wenn sie heute zur Audienz ruft.”

Er nickte den Männern zu und ging an ihnen vorbei, die Treppe hinauf. Den Krug nahm er mit.

***

„Nicht!” Egnar fiel Majék in den Arm. „Was machst du denn da?”

„Na was wohl? Dieses Ding zieht uns ins Chaos!”

Der Fischer entwand seinem Gehilfen den Hammer. „Bist du bei Sinnen? Wer weiß, was geschieht, wenn das Ding zu Bruch geht!”

„Und was soll geschehen? Willst du, dass wir hier absaufen?”

„Ich glaube nicht, dass das passiert!”

„Was?”

„Schau doch!”

Majék zog sich an der Reling hoch. Das Boot schlingerte und rollte auf den Wellen, Gischt peitschte ihnen von allen Seiten entgegen. Es war aussichtslos, sich auf den Beinen zu halten.

Im Stundenglas wirbelte der Sand nun schwerelos umher wie Schneeflocken im Wind.

Recht voraus flimmerte silbriges Licht in der Wasserwand.

Dann nickte das Schiff beiseite und die Sanduhr kullerte gegen die Neigung des Decks fort. Augenblicklich zog die sonderbare Kraft das Schiff querab steuerbord auf das Chaos zu. Das Deck neigte sich bedrohlich.

„Wir kentern!”, rief Majék panisch aus.

„Halt das Ding fest!” Egnar kämpfte sich hinüber zum Steuerrad. „Bring’s her! Wir müssen lenken!”

„Lenken? Wohin?”

„Wohin der Sand will! Mach schon!”

Der junge Mann schnaubte resigniert und hechtete dann nach der Uhr, die jetzt entgegen der Schwerkraft gen Heck kugelte. Das Schiff drehte sich wie auf einem Strudel. Als es Majék gelang, das Stundenglas aufzuheben und er wieder aufblickte, rollte eine monströse Welle auf ihn zu, dreimal so hoch wie der Mast.

„Nein!” Der junge Bursche hob abwehrend die Hände.

Silbriges Wetterleuchten drang von hinten durch die Wogen, teilte sie mitten durch. Je eine Hälfte schlug steuerbord und backbord neben dem Boot auf. Der Aufprall hob es in die Höhe, und einen Moment lang schien es, als schwebten sie.

Dann platschte das Schiffchen zurück auf das Wasser. Egnar hörte das Holz bedenklich ächzen. Der Fischer stemmte sich ins Steuerrad und flehte zu den Mächten, dass Getriebe und Ruder halten würden. Wenn das Seil riss, würde es wie eine Peitsche durchs Deck schlagen.

„Wohin?”, rief er Majék zu. „Wohin zieht der Sand?”

„Was?”

„Bei den Mächten, schau zum Bug und sag mir, wo die Uhr hinwill! Wenn wir machen, was sie sagt, dann passiert uns nichts! Hoffe ich zumindest.”

Der junge Mann begriff. Er wandte sich um, konzentrierte sich auf den Vordersteven und versuchte, die brodelnde Gischt und den hüpfenden Horizont zu ignorieren. Tatsächlich spürte er, wie das Stundenglas in seinen Händen zappelte.

„Steuerbord voraus”, übersetzte er. „Recht voraus. Auf Kurs bleiben.”

„Wie denn nun?”

„Backbord! Schnell!”

„Wie die Mächte es wollen”, sagte Egnar und drehte sein Steuerrad.

Kaum dass sie sich von der Uhr leiten ließen, hörte das wilde Schlingern und Nicken auf. Das Schiff lag deutlich stabiler auf dem Wasser. Der Kurs führte haarscharf an überschiffhohen Wellenbergen und durch Täler hindurch, allerdings immer noch auf das brodelnde, flackernde Chaos zu.

„Auf die Idee hätten wir früher kommen sollen”, sagte Egnar, als sie sich langsam mit der neuen Situation anfreundeten.

„Ja”, sagte Majék gedehnt. „Aber…”

„Was?”

„Willst du der Uhr wirklich überall hin folgen?”

„Bleibt uns etwas anderes übrig?”

Majék schwieg betreten.

„Was ist?”

„Der Sand zieht … bilgenwärts.”

„Nach unten?”

„Bei den Mächten, ja!”, stieß Majék hervor und stellte das Stundenglas auf die Planken. Dort blieb es fest und aufrecht stehen wie der Mast.

Die beiden schwiegen betreten, während um sie herum das Chaos tobte. Das Schiff schaukelte auf der Stelle.

„Und nun? Wir können doch nicht tauchen!”

Egnar schaute sich ratlos an Deck um. Über ihnen war der Himmel tiefgrau vor wirbelnden Wolken.

Am Mast pendelte die Kurre im Wind, mit der er üblicherweise Garnelen und Plattfische aus dem Wasser zog.