
Etwas hatte an der Kurre gezerrt, so plötzlich und hart, dass Egnar befürchtete, die Seile würden reißen. Das Schiff wurde abrupt gebremst, und die Sanduhr kippte scheppernd zur Seite.
„Einholen! Los, verlier keine Zeit!”
Majék haschte nach dem Tau, mit dem sich das Netz hochhieven ließ. Es musste etwas unglaublich Schweres darin sein, denn das Schiff neigte sich dem Wasser entgegen. Doch das Fischernetz war mit dem dauerhaften Flachs und Hanf aus Moréaval gefertigt und erstaunlich stabil, so sehr auch daran gezogen und gezerrt wurde.
„’s geht nicht!”, rief er panisch aus. „Es … es kämpft!”
„Unfug!” Egnar kam ihm zu Hilfe, musste dann aber feststellen, dass sich etwas sehr, sehr Starkes in dem Netz befinden musste oder daran riss. Tatsächlich begann das Wasser unter ihnen zu schäumen und zu toben, so als bewege sich etwas Riesiges darin. Aber was immer es war, es war unsichtbar. Je mehr sie am Netz zogen, kam Unruhe an die Wasseroberfläche. Ein Klatschen und Sprühen wühlte das Meer auf, als tobten riesige Phantomwale um sie herum.
Tatsächlich zog nun etwas die Leine querab vom Schiff weg. Das Netz hing nicht etwa fest, sondern war von etwas gepackt worden, das nicht losließ. Etwas, das sich an etwas anderem in den Maschen verbissen hatte wie ein Raubfisch in einen Köder.
„Wir müssen die Leine kappen!”, schrie Majék. „Sonst zieht’s uns runter!”
„Kommt nicht in Frage!”
„Was?”
„So’n großer Fisch entkommt mir nicht!”
„Aber …”
Egnar strich sich das klatschnasse Haar aus dem Gesicht. „Solange der Sand sich bewegt, halten wir fest!”
Majék warf einen Blick auf das Stundenglas. Der Sand war unzweifelhaft in Bewegung, auch wenn er erneut gegen die Schwerkraft rann und hüpfte.
„Echt?”, fragte er zweifelnd.
„Keine Fragen! Zieh! Raus mit dem Netz!”
Der junge Mann tat einen Stoßseufzer. Dann hängte er sich mit aller Kraft in den Seilzug
Das Netz schoss ruckartig aus dem Wasser, wenn auch nur für eine halbe Armlänge. Aber das schien zu reichen. Denn im selben Moment verschlang ein unglaubliches Leuchten den Sturm und blendete die beiden Fischer so sehr, dass sie für einen Moment tatsächich nichts mehr sehen konnten.
Zugleich fiel das Schiff senkrecht hinab und platschte auf das Wasser wie ein Stein. Einen Moment rollte und schlingerte es noch umher. Dann war alles still.
Als ihr Augenlicht wieder zurückkehrte, wiegte sich das Schiff sanft auf den Wellen. Über ihnen war der Himmel aufgerissen und senkte einen freundlichen Lichtstreif auf sie hinab. Der Schein ragte von Süden auf sie zu und spiegelte sich auf den Wellen. Und das Chaos war wieder eine weit entfernte Wasserwand.
Sie brauchten einen Moment, um zu Atem zu kommen. Dann schwenkte Majék wortlos den Kurrbaum, sodass das über dem Deck hing.
„Das kann keiner überlebt haben”, murmelte er und stupste zaghaft den Schattensänger an, der kopfüber und schlaff in den Maschen hing. Zu seinem Entsetzen zuckte der Magier zusammen und begann, heftig zu husten. Salziges Wasser spritzte dem jungen Mann ins Gesicht.
Egnar eilte herbei. Sie zogen das Netz herunter und machten sich daran, ihren menschlichen Fang zu befreien. Das war nicht einfach, denn der Schattensänger war wie erstarrt. Seine Augen hatten die Farbe von Blei und starrten richtungslos vor sich hin. Beide Hände hielt er gefaltet vor seiner Brust, so als berge er etwas darin, allerdings etwas so Kleines, dass sie keinen Blick darauf werfen konnten. Ebenso unmöglich war es, seinen Griff zu lösen. Schließlich wussten sie sich nicht anders zu helfen, als ihn aus dem kostbaren Netz herauszuschneiden.
Ratlos zog Egnar den Magier schließlich hinüber zum Mast, lehnte ihn dort sitzend an. Dann machte er sich vergeblich auf die Suche nach einer trockenen Decke. Aber natürlich gab es keinen Fingerbreit an Bord, der nicht völlig durchnässt gewesen wäre.
Majék hatte mehr Erfolg. Er versuchte, dem Magier aus einer Flasche einen Schluck Schnaps einzuflößen. Das misslang zwar, brachte aber Bewegung in den Schattensänger, denn die scharfe Flüssigkeit wollte offensichtlich nicht über seine Zunge. Er spie und wand sich beiseite, wobei seine Augen schlagartig aufklarten. Dann rappelte er sich schwankend auf und blieb zitternd einen Augenblick lang stehen.
Nach einer Weile wagte Egnar, das Wort an ihn zu richten. „He! Bist du in Ordnung?”
„Nein.” Der Magier lehnte sich ächzend an den Mast. „Nein. Niemals wieder.”
Sie schwiegen verunsichert. Dann senkte der Schattensänger den Kopf und spähte vorsichtig auf das, was er in seiner Hand hielt.
„Hast du wenigstens gefunden, was du gesucht hast?”
Der camat’ay nickte langsam und schloss die Faust um seinen Schatz. Mit der anderen Hand hielt er sich am Mast fest.
„Darf ich es sehen?”, fragte Majék begierig.
„Nein. Es .. es darf nicht sein, dass ein Sterblicher es vor der Zeit sieht.”
„Aber!”
„Versucht es gar nicht erst!”, sagte der Magier wütend. Majék zuckte zurück.
„Und ja, mir ist es egal, dass du mich deswegen für undankbar hältst, junger Mann. Und ich kann leider nicht verhindern, dass deine Neugier dich in den Wahnsinn treiben wird.”
Majék errötete und wandte sich brüskiert ab.
Der Schattensänger seufzte und fügte etwas versöhnlicher hinzu: „Aber ich danke dir von ganzem Herzen. Euch beiden bin ich zu ewigem Dank verpflichtet. Es war meine einzige Unsicherheit, nicht zu wissen, als wie tapfer ihr euch erweisen würdet.”
„Ich hatte ganz schön Bammel.” Egnar legte eine nutzlose nasse Decke beiseite. „Was war das? Das, was nach dir geschnappt hat? Das unsichtbare Ding?”
„Wie kann ich das wissen? Es war unsichtbar.”
„Aber …”
„Und es ist fort. Zumindest denke ich das. Macht euch keine Sorgen. Gebt mir nur einen kleinen Moment Ruhe. Ich muss zu mir kommen.”
„Klar.”
„Setzt derweil euer Segel. Ich habe keine Zeit zu verlieren.”
„Wie du meinst. Aber … bei den Mächten! Wie kannst du so ruhig sein! Das war der furchtbarste Sturm aller Zeiten! Ein unsichtbares Monster hat uns angegriffen und fast versenkt! Ein Blitz hat das Unwetter zerschmettert…”
„Das war ich. Und genau deshalb brauche ich jetzt etwas Ruhe.”
Der Fischer schnaubte. „Was ich wissen will: Warum bei allen Mächten und beim Weltenspiel lebst du noch? Bist du überhaupt noch lebendig? Oder bist du womöglich ein Gespenst? Oder ein Ungeheuer?”
Der camat’ay lächelte bitter. „Nun”, sagte er, „das kann ich dir im Augenblick tatsächlich nicht beantworten.”
***
Der Kompass zeigte nach Süden. Endlich.
Kelwa hatte sich fast überschlagen vor Eifer, als Isan ihr den Besuch des yarl angekündigt hatte. In der Stube roch es nach frischem Putzwasser und auf dem Herd brodelte ein Topf. Für einen Moment befürchtete Isan, es sei der allerletzte Rest der Fischsuppe, aber tatsächlich handelte es sich um frische Krustentiere, die Kelwa mit frischem Gemüse und Wein zubereitete.
Waýreth Althopian ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihn die Aufregung der Fischersfrau über ihren adligen Gast in Verlegenheit brachte. Das Mädchen las es an kleinen, subtilen Veränderungen an seiner Haltung und seinen Gesten. Er wirkte in Kelwas gemütlicher Hütte so mächtig und imposant in seinem Rüstzeug und versuchte, sich klein zu machen. Er fühlte sich unwohl in dieser kleinen, bescheidenen Heimeligkeit.
Aber zumindest konnte er die ältere Frau mit einer guten Neuigkeit erfreuen.
„Wenn dein hýardor den Schattensänger an Bord hat”, sagte er, „sind sie jetzt auf dem Weg hierher.”
„Wie könnt Ihr das wissen, Herr?”, fragte Kelwa demütig und schöpfte ihm auf seinen Teller ein.
„Würde es dich noch allzu sehr wundern, wenn es eine Zauberei wäre?”
„Nein, Herr. Wahrhaftig nicht. Wisst ihr es durch den Schattensänger selbst?”
„Nein.”
„Ein Lichtwächter hat es ihm gezeigt”, plapperte Isan stichelnd und knackte einen kleinen Krebs.
Kelwa schaute erschrocken auf. „Ein Lichtwächter? Die Rotgewandeten sind also auch noch im Weltenspiel?”
„Es scheint so. Man sollte jeden Moment erwarten, dass noch ein Regenbogenritter hier auftaucht.”
Kelwas Blick verfinsterte sich. „Ein Lichtwächter wird nichts Gutes vorhaben mit einem Schattensänger.”
Isan nickte. „Das denke ich auch.”
„Nun”, sagte Kelwa energisch und brachte Brot herbei. „Man muss dem Schattensänger helfen.”
„Wieso das?”, fragte Althopian, ohne von seinem Teller aufzusehen. Gegessen hatte er kaum, nur von dem in Wein gekochten Gemüse probiert. Die Krustentiere in seiner Schale waren unberührt.
„Das fragt gerade Ihr? Weil … weil …” Kelwa zögerte. „Dieser, der hier war … das war ein freundlicher Mann. Wahnsinnig, das schon. Vollkommen irre. Aber eine gute Seele. Das habe ich gespürt.”
„Das habe ich auch von … jemand anderem schon gehört. In Valvivant war man allgemein völlig anderer Meinung über die Schwarzmäntel. Ich frage mich, wer wohl Recht behalten wird.”
„Ich verstehe nichts davon”, sagte Kelwa. „Aber warum sollte es unter den Magiern anders sein als unter unseresgleichen? Warum sollten die Mächte nicht auch ihnen Gutes und Böses gegeben haben?”
Isan zerbrach einen weiteren Krebspanzer. Diesmal jedoch bemerkte sie, wie Althopian heftig zusammenzuckte, während er den Blick nicht von ihren Fingern abwandte. Sie zögerte, ohne ihren Herrn aus den Augen zu lassen. „Auch den Lichtwächtern?”
„Gerade ihnen”, sagte Kelwa. „Du bist zu jung um das zu wissen, Kind, aber es gab einmal eine Zeit, in der … ist Euch nicht gut, Herr?”
„Entschuldige”, sagte Waýreth Althopian, erhob sich und schob den Teller von sich. „Aber … ich bringe das einfach nicht über meine Lippen. Ich bin überzeugt, dass es köstlich ist und danke dir für deine Mühe. Aber … nein.”
Die Fischersfrau und die junge doayra wechselten einen verwirrten Blick miteinander. Er verneigte sich höflich vor Kelwa. „Ich habe meinen Herrn schon viel zu lange aus den Augen gelassen. Bitte entschuldigt mich. Ich kehre zurück zur Burg, bevor etwas Ärgerliches geschieht.”
„Soll ich Euch begleiten, Herr?”
„Nein … bleib ruhig hier, solange du willst. Ihr habt sicher viel zu bereden. Ich erwarte dich erst bei Dämmerung mit dem, was du mir geben musst zurück.” Er nickte den beiden zu, nahm den Kompass an sich und ging mit ungebührlicher Eile fort und aus dem Haus heraus.
„Du liebe Güte”, meinte Kelwa verwirrt, „ich werde den edlen yarl doch nicht irgendwie beleidigt haben?”
„Nein, das glaube ich nicht. Seit wir Wijdlant verlassen haben, ist er in sich gekehrt und seltsam. Ich glaube, er hat Sehnsucht nach seiner Dame.”
„Ach, die jungen Leute”, machte Kelwa und widmete sich nun selbst ihrer Speise. „Wie schön, dass er eine hýrdora gefunden hat.”
„Nun, vorerst wirbt er noch um sie. Er hat zuvor noch etwas zu erledigen, sagt er.”
„Es ist besser als das, was yarl Emberbey sich ausgedacht hat. Ob so ein armes junges Ding auf seiner Burg glücklich werden wird …”
„Du kannst glücklich sein mit deinem hýardor.”
„Oh ja, das bin ich. Seit über dreißig Sommern sind wir beisammen.”
Isan lächelte. „Wie schön. Das möchte ich auch einmal sagen können.”
„Ach Kind … du hast doch noch so viel Zeit. Für dich wird der Richtige schon kommen.” Kelwa zwinkerte. „Vielleicht mit einem Boot von Norden.”
Das Mädchen verstand die Anspielung sehr wohl. Aber Isan hatte nicht vor, sich verkuppeln zu lassen. „Wir werden sehen”, sagte sie und brach einen dritten Krebs aus seiner Hülle.
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