Isans Herz klopfte rascher, als sie an dem Grenzstein mit dem Wappenemblem mit dem steigenden Pferd und dem Richtungspfeil vorbei kamen. Der yarl hielt an und warf einen langen Blick nach Osten, dort wo ein unbefestigter Sandweg schnurgerade auf eine bewaldete Hügelkette zulief. Im Morgendunst erahnte man über und hinter diesen Hügeln die saftig grünen Höhenlagen. Irgendwo dort stand die Burg derer von Althopian.

„Dies ist deine letzte Chance”, sagte er. „Wenn ich an diesem Stein vorbeireite, werde ich nicht mehr umkehren.”

„Nein”, sagte Isan entschlossen, bevor sie darüber nachdenken konnte. „In Euer Haus reiten wir später gemeinsam ein. Und ich werde allen erzählen, welche heldenhaften Taten der Herr Waýreth in den vergangenen Monden begangen hat.”

„Tatsächlich? Welche denn?”

Sie schwieg. Tatsächlich fiel ihr auf die Schnelle nichts ein, was als bewundernswerte Heldentat durchgegangen wäre.

„Sicherlich”, sagte er und ritt weiter, „bin ich wahrscheinlich der einzige Ritter, der statt eines Knappen seine eigene doayra an der Seite hat.”

„Was nicht zu Eurem Nachteil ist!”

„Das habe ich auch nicht gesagt.”

„Warum genau reiten wir eigentlich so dringlich zu Eurem teirand?”, fragte Isan schließlich.

„Zum einen, weil der Lichtwächter mich im Wesentlichen in diese Richtung geschickt hat. Zum Zweiten, weil dieser verfluchte Kompass neuerdings beängstigend präzise diese Richtung weist. Und zum Dritten, weil mein teirand möglicherweise der Einzige ist, der uns alle aus dieser Misere … retten kann.”

„Erzählt mir mehr von Asgaý Spagor.”

„Was gäbe es, was du nicht aus Valvivant ohnehin schon wüsstest?”

„Na ja. Ich weiß, was man so erzählt. Dass er allein über sein kleines teirandon herrscht, seit seine Eltern bei diesem Unglück hinter die Träume gingen …”

„Die Mächte mögen mir die harschen Worte verzeihen, aber sowohl ich als auch der ehrenwerte yarl Emberbey hatten das Paar bekniet, nicht gemeinsam auf demselben Schiff zu reisen, solange der teirandanjor noch ein Knabe ist.”

„Oh. Das wusste ich nicht.” Isan musste sich zügeln, um den Ritter nicht mit all den sensationssüchtigen Fragen zu bedrängen, die ihr in den Sinn kamen. Aber Althopian selbst erwies sich als ungewohnt redselig. Fast schien es, als habe er nur darauf gewartet, sich seinen Kummer einmal von der Seele reden zu können.

„Es war so unnötig! Die Fahrt hätte sich bestimmt ohne weiteres noch eine Weile aufschieben lassen, bis die Sturmmonde vorüber gewesen wären.”

„Was war der Anlass?”

„Das haben wir nie erfahren. Es war eine so geheime Sache, dass nur das Paar und der damalige mynstir davon Kenntnis hatten. Der arme Kerl ist mit demselben Schiff untergegangen. Alles, was ich weiß, ist, dass es um ein Treffen mit dem teirand von Ovéstola gegangen wäre. Eine Fahrt zu den Inseln, mitten im Winter. Es war Irrsinn! Niemand weiß, wer sie auf diese Idee gebracht hat.”

„Wer war der mynstir?”

„Der jüngere Bruder der teiranda, Asgaý Spagors Oheim.”

„Dann war es eine Familientragödie”, sagte Isan gedankenvoll. „Was könnten sie in Ovéstola gewollt haben?”

„Wir wissen es nicht. Es wird kaum ein Höflichkeitsbesuch gewesen sein. Damit hätte es nicht derart geeilt. Aber eigentlich will ich von dir wissen, wie das teirandon bei Hofe dasteht. Nun, was erzählt man weiter in Valvivant über meinen geheimnisvollen Herrn?”

„Nichts weiter. Ein junger teirand, von dem man wohl kaum mehr weiß, als dass er existiert. Mit einer kleinen Burg und einer Handvoll Bauern und Fischern in ihrem Schatten.”

„Ist das nicht grandios? Der letzte Spross eines mächtigen Hauses, und bereits diesseits des Montazíel weiß man über ihn nicht mehr, als dass er über ein paar Fischer herrscht?”

„Tatsächlich hörte ich in Valvivant wesentlich mehr über die hochedlen yarlay von Spagor reden. Man weiß, dass er zwei der angesehensten und ruhmreichsten Herren als Dienstmänner hat.”

„Jene zwei Dienstmänner, der yarl Emberbey und meine Wenigkeit, waren jedenfalls jählings beschenkt und gebürdet. Wir hatten die Verantwortung für einen Knaben von acht Sommern, der nicht nur Vater und Mutter verloren hatte, sondern jegliche Begeisterung dafür missen ließ, einmal das Erbe seines Vaters anzutreten.”

Isan dachte nach. „Nun, er wird verstört gewesen sein. Immerhin hatte er auf einen Schlag beide Eltern und seinen Oheim verloren.”

„Du darfst weder mich noch Emberbey für kaltherzig halten, auch wenn Herr Alsgör ein gestrenger Herr ist, von dem selbst ich nicht weiß, ob er überhaupt lachen und weinen kann. Wir haben alles dafür getan, dass Asgaý Spagor in Frieden trauern könnte. Wir haben seine Amtsgeschäfte, wie seine Eltern es verfügt und niedergelegt hatten, in seinem Sinne geregelt. Wir haben jegliche Last von ihm genommen, die von außen auf ihn eindrang. Wir haben alles erfüllt, womit der alte teirand die Geschicke seines einzigen Nachkommen gesichert sehen wollte. Das war uns eine Ehrensache, solange Asgaý Spagor ein Kind war. Aber als er dann in das Alter kam, in dem es an der Zeit war, seine Bestimmung im Weltenspiel zu finden … Nun, jeder Knappe in meinen Diensten war in all den Wintern anstelliger und eifriger bei der Sache als mein eigener künftiger teirand.”

Der Ritter redete nicht weiter. Isan rätselte, worüber er nachdachte.

„Ich habe ihn angefleht”, sagte Waýreth Althopian nach einer Weile. „Auf Knien habe ich ihn gebeten, zu akzeptieren, dass er der teirand ist, nicht wir. Dass die Mächte ihn im Weltenspiel seine Macht und Würde gegeben haben, die Milde, gerecht zu handeln und seine Schutzbefohlenen weise und gerecht zu regieren. Dass er nicht uns all das überlassen kann. Dass unser Hofdienst unser eigenes Leben … ach, es ist sinnlos, darüber nun zu jammern.”

„Vielleicht verschafft das Jammern Euch Erleichterung, Herr. Ich höre Euch zu.”

Althopian lächelte flüchtig und nahm das Angebot an.

„Es hat ihn nicht interessiert, und wir konnten ihm keine Vorschriften machen. Immerhin ist er der teirand, der uns befiehlt. Wir hatten keine andere Wahl, als ihm immer und immer wieder ins Gewissen zu reden. Aber er interessiert sich für nichts. Nicht für seine Schutzbefohlenen, nicht für uns, nicht für das Weltenspiel.”

„Dann schaut er sich alles an wie … wie ein Schauspiel?”

„Schlimmer. Wie ein Schauspiel, das ihn anödet. Er gibt nicht einmal acht, was Emberbey, seine Schutzbefohlenen und ich tagein, tagaus treiben, damit er ungestört träumen kann.”

„Und was macht er dann den ganzen Tag über?”

Waýreth Althopian zuckte die Schultern. „Die Mächte mögen wissen, an welchem Weltenspiel er teilnimmt. Er liest Romane und musiziert. Und wenn er báchorkoray in seine Fänge bekommt, lässt er sie erst weiterziehen, wenn er deren gesamtes Repertoire zwanzigmal gehört hat.”

„Dann hat er sich wohl in seiner Phantasie verheddert”, sagte Isan. „Das soll vorkommen, sagt Verta.”

Althopian horchte auf. „Tatsächlich?”

„Natürlich. Wenn er dort etwas findet, was ihm besser gefällt als das, was er hat, wird er sich dort wohler fühlen.”

„Das ist absurd. Er liest wieder und wieder alle Fortsetzungen der Heldenromane, von tapferen Rittern und holden Damen und bekommt nicht genug davon. Er könnte all das selbst sein und haben! Er könnte der strahlende Held seiner eigenen Geschichte sein! Bei den Mächten, ich wünschte, ich wäre noch so jung und voller Möglichkeiten wie er!”

„Vielleicht hat er Angst davor, dass das Weltenspiel nicht so herrlich ist wie seine Geschichten.”

Sie ließen die Hügel in der Ferne hinter sich. Der Boden wurde nach und nach sandiger, und die Luft roch bereits ganz zart nach Salz. Isan genoss es. Es begann, nach Kindheit zu duften. Aber ihre Gedanken schweiften immerfort zurück zu dem sonderbaren teirand, zu dessen Burg sie reisten.

„Irgendwie erinnert mich das alles an die Geschichte, die yarlara Moréaval uns erzählt hat”, sagte sie. „Ich glaube, er und die teiranda von Wijdlant haben viel gemeinsam. Nur dass Asgaý Spagor keinen goala’ay auf seiner Burg hat.”

„Das mögen die Mächte verhüten”, sagte Althopian düster.

***

Die teiranda betrachtete ihre Getreuen finster. Die drei Herren standen, wie es um diese Zeit üblich war, im Audienzzimmer und lauschten pflichtbewusst dem, was die spreghenay zu berichten hatten. Viel Aufregendes gab es nicht. Kíaná hörte sie über irgendwelche Stückzahlen von frischen Eiern und Kohlköpfen verhandeln, und jemand merkte an, dass es immer noch an Bauholz fehlte, um eine Brücke auszubessern. Man habe aus der Entfernung Handelsleute und reisende Ritter aus Valvivant beobachtet, die ratlos unverrichteter Dinge wieder abgezogen waren.

„Diese Brücke wird nicht mehr benötigt”, hörte sie sich sagen. „Wir haben nichts mehr zu erwarten vom teirandon Valvivant.”

Altabete warf ihr einen irritierten Blick zu. Seit dem Vormittag war er wieder auf der Burg. Er hatte gerade eben die Zeit gefunden, sich frische Gewänder anzulegen und war dann mit Verspätung zu ihrem Treffen gestoßen. Er hatte auf dem Rückweg nicht einmal mehr an Moréavals Burg haltgemacht.

„Herrin”, flüsterte er diskret, „es scheint, um die Brücke über den Grenzfluss bei meinem yarlmálon zu gehen. Gibt es etwas, was ich wissen sollte?”

„Benjus von Valvivant ist kein Verbündeter mehr. Er soll auf seiner Seite des Flusses bleiben.”

Der Zimmermann, der auf den Zustand der Querung hingewiesen hatte, schaute hilfesuchend zu seinem Herrn hinüber.

„Du hast die teiranda gehört”, sagte Altabete in Verlegenheit. Der Handwerker nickte zwar, aber sein ungläubiger Blick sprach Bände.

„Aber das ist doch Unsinn”, begehrte plötzlich Grootplen auf. „Die Straße ist nicht nur für den teirand von Valvivant da. Die Reisenden …”

„Ihr habt mich gehört”, sagte ihre Zunge.

„Und wenn Gefahr aus Valfrontír käme”, setzte Moréaval plötzlich hinzu, „dann würden sie einfach Flöße nehmen!”

Die spreghenay gerieten in Unruhe.

„Herrin”, wisperte die Zofe, die seit Gor Lucegaths Maßregel nicht mehr von Kíanás Seite gewichen war. „Bewahrt die Ruhe!”

„Die Ruhe bewahren?” Die teiranda schnellte von ihrem Thronsessel hoch und blitzte mit ihren eisblauen Augen um sich. „Die Ruhe bewahren? Mit widersässigen yarlay, blödem Pöbel und lästigen Weibern um mich herum?”

„Herrin!”, rief Grootplen bestürzt aus.

„Schweigt!”, herrschte sie ihn an. „Ihr seid unerträglich!”

„Herrin, so kommt doch zur Ruhe!”

„Ich halte es nicht mehr aus! Versteht Ihr? Ich kann Euch alle nicht mehr sehen! Ihr langweilt mich, und ihr stehlt meine Geduld! Packt euch! Alle miteinander! Lasst mich in Ruhe und verschwindet! Allesamt!”

Die Ritter starrten sie perplex an. Gesinde und die spreghenay duckten sich verstört unter diesem Wutanfall zusammen. Kíaná von Wijdlant giftete alle ringsum von ihr an wie eine zischende Schlange.

Dann fiel die Spannung ab, die sich um sie herum in den letzten Tagen aufgeladen hatte. Sie schüttelte sich, warf den Versammelten einen zornigen Blick zu und eilte mit wehenden Röcken aus dem Audienzzimmer. Die Tür warf sie dabei hinter sich so fest zu, dass der Fuß der Zofe, die geistesgegenwärtig versucht hatte, ihr zu folgen, schmerzhaft eingeklemmt wurde. Die teiranda kümmerte sich nicht um den Wehlaut des Mädchens. Sie begann, zu rennen, durch das angrenzende Kaminzimmer hindurch auf den Korridor und dann hinauf zu ihrem privaten Gemach. Der Wachposten sah seine Herrin kommen und öffnete ihr hastig die Tür. Sie würdigte den Mann keines Blickes, rauschte an ihm vorbei, zog die Tür zu und legte den inneren Riegel vor.

Sicherheit!

Die teiranda warf sich in ihren Frisiersessel und starrte der schönen Zornigen entgegen, die vor ihr im Spiegel erschien. Nach einer Weile entspannte sie sich ein wenig. Der Anblick tat gut. Aber es reichte nicht aus.

Jemand klopfte. „Herrin?”, hörte sie Jóndere Moréaval vor der Tür. „Herrin? Ist alles in Ordnung?”

Sie seufzte.

„Bleibt mir vom Leib”, rief sie und vergrub das Gesicht in den Händen.

„Herrin!” Das war Daap Grootplen. „Können wir Euch irgendwie erbötig sein?”

„Packt Euch und kommt mir vorerst nicht unter die Augen!”

Einen Augenblick lang blieb es vor der Tür totenstill.

„Wenn Ihr uns braucht, Herrin”, sagte Andriér Altabete, „ruft nach uns. Wir sind für Euch da. Wir sind immer für Euch da.”

Kíaná schwieg und schaute in den Spiegel. Ihr Abbild weinte nicht.

„Ich weiß”, wisperte sie. „Oh, das weiß ich so gut …”

Nach einer Weile hörte sie, wie die Ritter sich entfernten. Mit ihrem Eisenzeug konnten die drei sich nicht lautlos bewegen. Kíaná wartete einen Moment und seufzte schwer auf. Dann besann sie sich. Sie würden sie nicht in Ruhe lassen. Zumindest die Zofe würde wieder hier eindringen, so wie Gor Lucegath es ihr befohlen hatte.

Die teiranda dachte nach. Schließlich erhob sie sich. Natürlich, der Rotgewandete würde sie tadeln. Er würde es nicht gutheißen. Aber das war egal. Sie würde sich ihm widersetzen.

Ein Gedanke, so zaghaft er war, packte die teiranda. Es fühlte sich verwegen an.

Sie verließ Ihre Kemenate durch die Zugangstür, warf dem verbliebenen Wachposten einen so grimmigen Blick zu, dass der Mann erschrocken zurückwich, und ging die paar Schritte hinüber zum Gemach der Unkundigen.

Ja, Meister Gor hatte es verboten.

Na und?

Sie klopfte.

„Ujora? Darf ich eintreten?”