Die Flut kam in dieser Gegend nicht Stück für Stück, Schritt für Schritt mit den Wellen näher an den Strand heran. Hier war wie von einem Augenblick auf den nächsten plötzlich da.

Die See presste das Wasser aus dem Sand hervor, zugleich brandeten mit Gewalt vielleicht ein Dutzend mannshohe Wellen heran. Dann war das Meer da, und die Fischerboote, die gerade noch auf ihren gepolsterten Stützen auf dem Watt lagen, dümpelten sacht auf den Wellen. Wer ausfahren wollte, musste also zeitig bei seinem Schiff sein. Umgekehrt war es genauso: Kam die Ebbe war es, als würde ein gewaltiger Sog das Wasser zurück aufs Meer ziehen. Feste Taue waren nötig, um die anlegenden Boote an ihren Plätzen zu halten.

Natürlich wussten die Bewohner und Nachbarn des teirandon Spagor von den Eigentümlichkeiten ihres Küstenabschnitts. Auch Yalomiro hatte von der seltsamen Naturgewalt gehört, damals, als die Meister ihn das Wissen über das Meer lehrten. Gesehen hatte er das gewaltige wilde Wasser zuvor noch nie, einmal abgesehen von dem kurzen Blick, den er damals ins Chaos hatte werfen dürfen. Nun stand er am Bug von Egnars Fischerboot, das Gesicht im Wind, und staunte über die gewaltige Weite, die sich bis zum Horizont und darüber hinaus erstreckte. Es machte ihn ehrfürchtig und still. Er wünschte sich, Arámaú könne das Meer ebenfalls sehen und spüren. Er war sich sicher, dass es sie glücklich gemacht hätte. Die jüngere camat’ayra hatte ihm so oft geschildert, wie herrlich, mächtig und ewig das Wasser war. Männliche Schattensänger waren nicht im selben Maße dazu imstande, Wasser zu verstehen. Aber er hatte gespürt, wie Arámaús Seele aufblühte, wann immer sie im strömenden Regen tanzte oder den See beschwor.

Egnar stand am Steuer und schaute ab und zu unverwandt zu ihm hinüber. Er kam nicht umhin, einige Gedanken des erfahrenen Seemanns aufzuschnappen. Vorläufig war diese Fahrt für den Kutterkapitän Routine. Alle paar Tage fuhr das kleine Schiff mit den aranzienfarbigen Segeln auf das smaragdgrüne Wasser hinaus, manchmal sogar ganz nahe an den Mehrmastern auf ihren Handelsfahrten vorbei.

Angst würde den Fischer erst überkommen, wenn die Wassergrenze, der Bereich, auf den sich die großen Schiffe üblicherweise von der Küste entfernten, weit hinter ihnen lag.

Majék kletterte am Mast herum wie ein Eichhörnchen und machte sich an den Segeln zu schaffen. Er war ein stämmiger, sommersprossiger Bursche mit weizenblondem Haar von etwa sechzehn Sommern, den seine jugendliche Kraft noch seltsam tapsig erscheinen ließ. Der Junge war voller gespannter Erwartung an dieses Abenteuer. In der Nacht hatte Yalomiro ihn in den Dünen aufgespürt, wo er mit einigen gleichaltrigen Kameraden heimlich einem Gemisch aus dünnem Bier und berauschenden Kräutern zugesprochen hatte. Majék schien davon bereits mehr gewohnt zu sein als seine Gefährten, die bereits in wohligem Schlummer im Salzgras lagen. Das war Yalomiro zupass gekommen, denn er hatte dem trunkenen Jungen davon überzeugen können, dass er sich auf Wettfahrt mit dem Wind und den eingebildeten keptyenay aus Virhavét begeben solle. Als der Junge nun die Segel des Kutters hisste, während Pataghiús Glanz sich sacht am Rand des Himmels abmalte, hatte sich alles zu Yalomiros größter Genugtuung zusammengefunden. Majék war konzentriert bei der Sache. In seinen Gedanken fügten sich blitzschnell Ideen zusammen, wie er aus der beschränkten Segelfläche den besten Antrieb herausholen konnte.

Der Magier beschloss, die beiden Seeleute nicht zu stören. Er schloss die Augen und versuchte, das Meer zu fühlen, mit dem Schiff zu verschmelzen, es auf Kurs zu bringen. Sobald er das ay’cha’ree spüren konnte, musste er das Ruder übernehmen. Natürlich so behutsam, dass der stolze Fischer es nicht bemerkte.

„Jetzt hast du deinen Willen”, rief Egnar nach einer Weile zu ihm hinüber. „Also: Was suchst du im Chaos?”

„Es ist etwas, dessen ihr nicht innewerden könnt”; sagte Yalomiro. „Ich bedauere sehr, dass ich es euch nicht besser erklären kann. Lass mich nur sagen, dass es etwas ist, das in Menschenbesitz vollkommen nutzlos wäre.”

„Aber du kannst was damit anfangen?”

„Das hoffe ich.”

„Ist es wertvoll?”

„Es ist kein Schatz, wenn du so etwas im Sinn hast.”

„Schade”, ließ sich Majék vernehmen. Seine Worte stolperten im Stimmbruch. „In den Geschichten sind die keptyenay immer auf der Suche nach Schätzen. Sie finden auf den unbekannten Inseln ‘ne Menge Kisten voller Edelsteine und kommen als gemachte Herren in den Hafen zurück.”

„Und wann”, fragte Yalomiro belustigt, „hat das letzte Mal jemand mit solchem Reichtum in Virhavét angelegt?”

„Muss ‘ne Weile her sein”, sagte Majék. Der Einwand schien ihn grüblerisch zu machen.

„Einmal so reich sein wie yarl Emberbey, das wäre was, nicht wahr, Majék?”

„Jau. Dann hätten wir ausgesorgt.”

Yarl Emberbey ist also reich?”, fragte Yalomiro.

„Sicher nicht mehr lange. Wer weiß, was er für die Dame hat ausgeben müssen!”

„Wird wohl ein lohnendes Geschäft gewesen sein.”

Die Fischer lachten. Der Magier hob fragend die Brauen. „Ich weiß nicht, wovon ihr redet.”

Majék kletterte an Deck. Offenbar war er bestens über die Vorkommnisse auf der Burg informiert. Möglicherweise pflegte er zarte Bande zu den jungen Dienstmägden dort.

„Der alte Emberbey ist’n zäher alter Fisch”, erklärte er eifrig. „’n hochverdienter Krieger. Aber jetzt reden plötzlich alle davon, dass er sich ‘ne schöne junge Frau hat schicken lassen.”

„Was bedeutet das?”

„Und wenn man die Weiber so tratschen hört … na, jedenfalls wird Emberbey wohl kaum noch bei einem vásposar eine hýardora auftreiben. Kelwa sagt, er hat in vielen yarlmálon förmlich um eine Dame geworben. Und letztens hieß es, eine yarlara hat eine entbehrliche Tochter.”

Yalomiro dachte einen Moment darüber nach, denn er glaubte, irgendetwas falsch verstanden zu haben. „Entbehrlich?”

„Darfst das nicht falsch verstehen”, sagte Egnar. „Yarl Emberbey ist sicher kein Lüstling, der seine Wollust austoben will. Aber es ist eben seine letzte Chance. Wenn er nicht in den nächsten Sommern Nachwuchs bekommt, dann ist das Haus Emberbey erloschen. Und dann wird es verzwickt.”

„Althopian hat wenigstens noch ‘n paar Sommer mehr Zeit, so die Mächte wollen”, fügte Majék hinzu.

„Was hat das mit Asgaý von Spagor zu tun?”

„Unser alter teirand, möge er hinter den Träumen seinen Frieden finden”, mischte Egnar sich ein, „hat seine yarlay was schwören lassen. Für den Fall, dass er selbst zu Unzeiten aus dem Weltenspiel scheidet, mussten seine Ritter versprechen, keine hýardora zu nehmen, ehe nicht der teirandanjor, also der junge Asgaý, eine hat.”

„Und darauf haben die Ritter sich eingelassen?”

„Blieb ihnen ja nichts anderes übrig.”

„Aber warum?”

Egnar zuckte die Achseln. „Nun ja. Solange noch teiranday auf der Burg die Stellung halten, können die vendyray [Handelsleute] in Virhavét lange warten, dass sie westwärts Land nehmen können. Der teirand wollte, dass seine Leute weiter am Ruder bleiben, um das Land freizuhalten.”

„Wäre es denn zu Eurem Nachteil Euch an die Stadt anzuschließen?”

„Die Stadt würde uns überrollen wie eine Springflut. Und wenn uns nicht die Stadt überrollt, dann sicher die yarlay aus den östlich gelegenen teirandon.”

„Müsst ihr die Gier und Angriffslust mächtiger Leute fürchten?”

„Na ja, auf anderem Wege läuft da nichts. Sind ja keine yarlaraé da, mit denen jemand anbandeln könnte.”

Yarl Emberbey ist, wie gesagt, ein alter Fisch. Und was man so hört … also, im Vergleich zu Rodekliv ist Spagor ein Paradies!”

„Wenn die yarlay von Rodekliv und Férocrivé zugreifen, wird’s ungemütlich.”

Yalomiro zögerte. Offenbar hatte sich im Weltenspiel der Unkundigen in den vergangenen fünfzig Sommern eine Menge verändert.

„Den Mächten sei’s gedankt”, sagte Majék, „dass Asgaý die Ritter von ihrem Eid entlassen hat. Man munkelt, damit sie ihn endlich mit dem Herrschaftsgedöns in Ruhe lassen.” Er hob den Blick zu einem knatternden Geräusch empor, fluchte und wuselte dann wieder den Mast hinaus, wo sich ein Stück Segel gelockert hatte.

Egnar warf dem verwirrten Schattensänger einen verlegenen Blick zu. „Wäre schon nicht schlecht, wenn die Herren sich beeilen würden, an Nachfolger zu denken.”

Der Schattensänger ließ sich nachdenklich wieder im Bug nieder und nachdenklich seine Gedanken treiben. In seinem Geist nahm ein Spielbrett Gestalt an, eines, auf dem der vendyr nahe an den teirand rückte, der zwar vom yarl gedeckt wurde, welcher seinerseits keinen Zug machen konnte.

Das Brett war riesig und voller Figuren. Aber wo waren die ytraray?

***

Aus den Augenwinkeln nur hatte er es gesehen, in einem winzigen Augenblick der Unaufmerksamkeit hätte er es fast versäumt. Es war hell, hell wie ein Stern, wie ein Sonnenstrahl auf einem Spiegel, und es war nicht bereit, auf ihn zu warten.

Gor Lucegath hörte das Geräusch, den dumpfen Aufschlag, sogar das schreckliche Bersten von Knochen auf hartem Stein, bis in sein Turmzimmer hinauf, überlaut.

Einen Atemzug später kreischte jemand, schrill, erstickt.

Der Rotgewandete schaute Fenster hinab in den Hof und erschrak. Er entsetzte sich weniger über das, was geschehen war, sondern vielmehr darüber, dass es hatte geschehen können.

Vereinzelte Menschen zeigten sich. Nun, im Morgengrauen, war auf dem Burghof noch nicht allzu viel Betrieb gewesen, aber das würde sich in Windeseile ändern, sobald Aufruhr entstand. Die ersten Gesichter zeigten sich an Fenstern, Personen traten aus Türen hinaus.

Gor Lucegath rannte die Treppe hinunter, nahm mehrere Stufen auf einmal, stieß rücksichtslos beiseite, was ihm im Weg war. So gelang es ihm, auf dem Hof und bei ihr zu sein, bevor ein größerer Tumult ausbrach, abgesehen von dem schwachsinnigen Geschrei und Geplärr der frühen Küchenmägde, die herbeigestürmt waren.

Er warf einen raschen Blick hinauf zum Fenster der teiranda. Die ältere Kammerfrau stand da und starrte mit steinerner Miene zu ihm hinunter. Die Unkundige war nicht zu sehen, zum Glück. Geistesgegenwärtig festigte er den Bann auf ihrer Kammer um ein Weiteres.

Dann kauerte der Rotgewandete sich verstört über die junge Frau und berührte zaghaft geborstene Knochen unter ihrem wirren blonden Haar. Heilkunst und Magie konnten hier nichts mehr ausrichten. Ihr Seelenfunken war längst mit dem Licht verschmolzen, in strahlendem Glanz, wie um ihn zu verspotten. Ihr Blut rann rasch über die Pflastersteine und füllte die Ritzen dazwischen.

„Schweig!”, fuhr der Magier die Wäschefrau an, vor deren Füßen der Körper gelandet war und sie um ein Haar ebenfalls erschlagen hätte. „Schweig augenblicklich!”

Die Frau wich zurück, einen halben Schrei auf den Lippen. Ihre Augen erstarrten vor Entsetzen vor dem Magier, der sich wieder aufrichtete und wild um sich schaute.

„Bei den Mächten”, murmelte noch jemand nahebei. Dann senkte sich Totenstille über den Hof.

Einer nur, ein einziger Unkundiger ließ sich nicht bremsen. Er kam zu spät, um ihr zu helfen, um sie zu halten, um sie aufzufangen. Besinnungslos, in Rage und Qual schoss er auf den Magier zu und brüllte. Andere versuchten ihn zu erfassen, aber schon hatte Gor ihn zu Boden gestreckt, mit einem unwillkürlichen Zauber, der den jungen Kerl auf der Stelle zusammenbrechen ließ. Erst als er wimmernd am Boden lag, erkannte der goala’ay den jungen Gewandschneider, der ihm den zweiten Spiegel überlassen hatte.

Einen Moment überlegte Gor, ob er es mit ihm zum Ende bringen sollte. Dann wandte er sich kopfschüttelnd ab. Wem würde das nützen, wen erschüttern angesichts dessen, was hier alle vor sich sahen?

Niemand wagte sich näher. Die Nahebeistehenden wagten sich nicht fort. Gor Lucegath hob die Hände.

„Schweigen darüber”, sagte er, leise, beherrscht und doch so, dass jeder es hören konnte. „Schweigen. Wer hierzu etwas laut zu sagen hat, wird ihr augenblicklich hinter die Träume folgen. Habt ihr das verstanden?”

Die Angst erstickte ihren Hass. Nun lagen die Blicke der Unkundigen starr auf ihm, fixierten ihn wie die Kaninchen eine zischende Schlange. Gut. In welche Richtung würde er zustoßen?

Der Rotgewandete suchte unter den Unkundigen einen, der ihm nützlich war. Im Eingang zum Haupthaus entdeckte er Moréaval, nachlässig gekleidet, kreidebleich, noch halb im Nachtgewand.

„Herr Jóndere”, rief Gor Lucegath den jungen Ritter heran. „Sorgt dafür, dass das hier verschwindet, bevor es der teiranda unter die Augen kommt.”

***

Als Arámaú am Abend wieder auftauchte, kam sie auf einem ungewöhnlichen Weg, schlüpfte nämlich zwischen den Füßen der Magd hindurch, die mir das Essen brachte und verschwand unter dem Bett. Mir fiel ein Stein vom Herzen.

„Es ist in Ordnung”, sagte ich in Richtung der verschwommenen Gestalt. „Die ist öfter hier. Sie darf herein.”

Das Mädchen ging wieder. Auch das war seltsam. Selbst für die Art und Weise, wie sich das Gesinde der teiranda üblicherweise verhielt, wirkte es fahrig und verhuscht.

Auf meinem Teller lag das übliche: eine Schale Eintopf, ein Stück Brot und ein Teller mit etwas Käse. Aber anstelle eines Trinkkruges hatte ich diesmal eine schlanke Tonflasche bekommen. Das war neu.

„Arámaú?” Ich kniete vor dem Bettgestell nieder und warf einen Blick darunter. „Wo bist du gewesen?”

In der hintersten Ecke schimmerten ihre Katzenaugen silbrig.

Draußen. Ich war bis heute früh auf den Feldern. Ich musste nachdenken. Und dann musste ich warten, bis ich mich im Schutz von jemand anderem durch diese Tür bewegen konnte.

„Ich habe mir Sorgen gemacht!”

Ich auch.

„Kommst du auch wieder da unten heraus?”

Im Augenblick will ich hierbleiben.

„Was ist denn passiert?”

Sie antwortete nicht. Ich stand wieder auf. Während ich wartete, schaute ich mir die Flasche näher an. Als ich den Korken zog, erfüllte ein schweres, fruchtiges Aroma augenblicklich den Raum. Es roch unglaublich gut.

Ich schnupperte, besann mich und verschloss die Flasche wieder. Was so angenehm daherkam, war bestimmt eine Falle. Allein der Umstand, dass ich etwas roch, war verdächtig.

Eine von Kíaná von Wijdlants Kammerzofen ist tot, sagte Arámaú unter dem Bett. Die jüngere der beiden. Sie hat sich aus einem Fenster in den Hof gestürzt.

Ich erstarrte, erinnerte mich an das arme Mädchen, wie es vor Gor Lucegath auf die Knie gefallen und ihn angefleht hatte. Dem er Strafe angedroht hatte, weil sie die teiranda nicht hatte zurückhalten können.

„Wann?”

Früh am Morgen. Ich war gerade wieder zurückgekehrt.

„Wieso … ich hab nichts davon mitbekommen!”

Wahrscheinlich hast du noch geschlafen.

„Aber das hat doch bestimmt einen Tumult gegeben.”

Nein. Sie hatten Angst. Niemand redet davon. Es ist bestürzend, wie sie untereinander vorgeben, dass nichts geschehen sei.

„Er hat es also tatsächlich getan”, brachte ich schockiert hervor und setzte mich. Meine Knie waren mir weich geworden.

Er war es nicht.

„Was?”

Sie ist nicht durch den Rotgewandeten umgekommen. Natürlich denken alle, dass er es getan hat, und wahrscheinlich ist ihm das im Ergebnis ganz recht. Aber er hat es wirklich nicht getan oder gar gewollt. Dazu war er zu überrascht. Viel zu überrascht.

In knappen Worten berichtete sie mir, was sich in den frühen Morgenstunden zugetragen, was sie versteckt beobachtet hatte; während ich noch in unruhigen, unbehaglichen Träumen lag. Ich hatte von alledem nichts mitbekommen, sicher auch, weil Gor Lucegath so rasch reagiert und die Zeugen zum Schweigen gebracht hatte.

Ich habe nie, niemals den Rotgewandeten so … verärgert und erschrocken gesehen. Ganz so, als sei ihm gerade etwas ganz und gar gegen seinen Willen gelaufen.

„Weißt du, wie die teiranda reagiert hat?”

Nein. Ich weiß nicht, wo sie ist. Aber wahrscheinlich bemerkt sie es nicht einmal, dass eines ihrer Mädchen fehlt. Ein anderes wird sich finden.

„Wieso habe ich davon nichts mitbekommen?”

„Weil du zwischenzeitlich in einer Zelle sitzt. Der Rotgewandete hat ein paar Zauber mehr um dieses Zimmer gelegt. Vorsorglich, wie ich annehme.”

„Während du unterwegs warst”, berichtete ich, „hatte ich Besuch von der teiranda. Es gab wohl einen kleinen Eklat. Ich glaube, sie hat versucht, sich von Meister Gors Willen zu befreien. Im Zuge dessen hatte er auch die arme junge Frau bedroht.”

Nun regte sich etwas unter dem Bett. Die Katze schaute zaghaft hervor.

Das ist … interessant. Die teiranda hat etwas aus eigenem Antrieb getan?

„Es war nur ein kurzes Aufbegehren, wenn überhaupt. Vielleicht bilde ich mir das alles auch nur ein.”

Arámaú kam aus ihrem Versteck hervor. Sie setzte sich aufrecht hin. Ihr Jadeblick ging nachdenklich ins Leere.

Stell dir vor, du hättest etwas zu tragen. Äpfel zum Beispiel. Aber du hast dazu nur deine Hände, oder meinetwegen auch einen Korb. Einen einzigen. Und es werden immer mehr und mehr Äpfel, während du durch den Garten gehst. Von allen Seiten fallen sie zugleich von den Bäumen und in deinen Korb hinein. Irgendwann werden deine Hände und der Korb zu klein, um alle Äpfel zu fassen. Dir fallen welche herunter. Und während du dich danach bückst und sie wieder einsammelst, kommen andere ins Rutschen. Du kannst nicht alle zugleich festhalten.

„Willst du damit sagen, dass Meister Gor sich bei der Apfelernte übernommen hat?”

Ich will damit sagen, dass möglicherweise Yalomiro der erste Apfel ist, der aus dem Korb gefallen ist.

„Ich verstehe. Aber leider wird die unglückliche Zofe dadurch nicht lebendig. Die ist ihm entglitten, während er sich nach der teiranda gebückt hat.”

Ja, leider. Und es gibt nur eine Sache, die dem Rotgewandeten jetzt dienlich wäre. Ein größerer Korb. Mit einem Deckel.

„Das Artefakt.”

Mögen die Mächte geben, dass Yalomiro es sicher an sich nimmt.

Einen Moment lang schaute sie mich an, als wolle sie mir noch mehr erzählen. Aber sie überlegte es sich offensichtlich anders. Und du solltest dein Zeug essen, bevor jemand das Tablett abholt und dumme Fragen stellt.

Ich zögerte. „Arámaú … warum haben sie mir heute wohl Wein gebracht, den ich als solchen erkenne?”

Die Katze schenkte mir einen rätselhaften, schweigenden Blick.

Trink unbesorgt. Wenn es eine magische Falle wäre, würde ich es spüren. Es ist nur … guter Wein.

Ich schüttete mir davon in den Becher und nippte daran. Köstlich. Wie lange war es her gewesen, dass ich etwas so Intensives auf der Zunge gehabt hatte? In Valvivant vielleicht?