
Der Rotgewandete saß in seinem Turmgemach am Fenster und blickte nach Norden, wo der Tag verlosch. Dort sah er Dinge, die weit außerhalb dessen waren, was sich mit Augen und Sinnen wahrnehmen ließ. Doch er war nur halbherzig bei der Sache.
Der Schattensänger war brav unterwegs. Von dieser Seite drohten zurzeit keine Überraschungen. Ein kleines Schiff, weit im Norden. Sehr viel weiter konnte der Magier sich räumlich nicht mehr fortbewegen. Aber ausgerechnet auf dem letzten Stück Weges musste er sich buchstäblich dem Wohlwollen von Unkundigen anvertrauen. Es stand zu hoffen, dass die Menschen den Schattensänger nicht auf dumme Ideen brachten.
Der Freitod der Kammerzofe hingegen ließ dem Magier keine Ruhe. Wie hatte er sich eine solche Unaufmerksamkeit erlauben können? Wieso hatte er nicht bemerkt, dass diese dumme kleine Menschenseele sich keinen anderen Rat mehr gewusst hatte, als ihrem Schicksal zuvorzukommen?
Das Ironische daran, haderte der Lichtwächter mit sich, war, dass der jungen Frau gar keine unmittelbare Gefahr gedroht hatte. Sicher, er hatte sie eingeschüchtert und in Angst versetzt. Aber anschließend hatte er gar nicht mehr länger an sie gedacht. Viel zu unwichtig war sie in dem ganzen großen Plan, den er über all die Winter gewirkt und gewoben hatte. Hätte sie heimlich mit einer anderen Magd den Platz getauscht und wäre ihm fortan aus dem Weg gegangen, er hätte sich kaum die Mühe gemacht, nach ihr zu suchen.
Gor Lucegath schaute hinab in den Hof, an die Stelle, wo sie gelegen hatte, an die Stätte des außerplanmäßigen Sterbens in seinem Bannkreis. Der Körper war fortgebracht und das Blut eilig mit großen Mengen Seifenwasser und groben Besen fortgewaschen worden, noch bevor die teiranda mit schwerem Verstand aufgewacht war. Die verbliebene Kammerfrau schwieg darüber. Keiner würde es ansprechen, auch die yarlay nicht, bis es Kíaná von Wijdlant – eventuell – selbst einmal auffallen würde.
Das würde ihn wieder eine Menge Wachsamkeit kosten. Konzentration, die er so kurz vor dem Ziel kaum für so Nebensächliches erübrigen konnte.
Der goala’ay hatte mit der Zeit die Erfahrung gemacht, dass ujoray grundsätzlich Unsicherheiten in ein Geschehen brachten. Ausnahmslos. Wenn man es geschickt anstellte, dann ließen sie sich hervorragend nutzbringend lenken. Aber noch öfter waren sie nichts anderes als lästige Störungen. Wohin würde es führen, wenn andere auf den Gedanken kamen, dem Beispiel der unglückseligen jungen Frau zu folgen? Was, wenn sie sich einbildeten, auf diesem Weg gegen das aufzumucken, was so nahe vor der Vollendung stand?
Der Rotgewandete wandte sich ab und dem Regal neben dem Fenster zu. Auf einem der Bretter stand eine Anzahl von kristallenen und metallenen Flaschen, Gläsern und Bechern nahe beieinander. Der Magier sann darüber nach und schnippte dann vorsichtig eine Phiole um, die ganz am Rand stand. Der Flakon kippelte einen Moment bedenklich, stürzte und riss im Umfallen einen weiteren um. Der kam ins Rollen und stieß an einen Pokal an, der zu schwanken begann.
Gor Lucegath trat einen Schritt zurück und beobachtete die Kettenreaktion gleichmütig. Dann zog er sein Schwert und bremste die umherkullernden Gegenstände mit der Breitseite der Klinge, noch bevor einer davon zu Boden fallen konnte. Behutsam schob er alles sicher an die Wand und stellte die Gefäße wieder auf.
Er durfte sich jetzt nicht ablenken lassen!
Asgaý von Spagors Ritter war mit dem Mädchen nicht mehr weit von der Burg seines jungen Herrn entfernt. Der Wein wirkte nach wie vor, hatte den untadeligen Helden gefügig und schwach gemacht, besser als Erschöpfung und Blessuren nach einem Kampf es vollbracht hätten. Diese Fäden waren stramm gezogen.
Vielleicht sollte er Altabete und seinem mysteriösen kleinen Tier dankbar dafür sein, dass durch sein Dazutun dieser nützliche Idiot zu einem günstigen Zeitpunkt in seine Fänge geraten war.
Und dann waren da die beiden Krieger, die sich jenseits des Flusses bewegten, jene, die Benjus von Valvivant ausgesandt hatte. Doch um die musste er sich nicht kümmern. Noch nicht. Möglicherweise würden sie alle einander versäumen wie ein schlecht geschossener Pfeil sein Ziel. Das wäre ärgerlich, aber verschmerzbar. Mit etwas Glück jedoch würden die Fäden sich genau im richtigen Moment zu einem unauflösbaren Knoten zusammenziehen.
Er wandte sich vom Fenster ab, setzte die Maske ab und strich sich müde über die Augen. Für einen Moment betrachtete er die teiranda, die steinern und mit leerem Blick vor sich hinstarrte. Die schmächtige, kränkliche Frau hatte sich über die unerträgliche, erstickende Schwere in ihrem Geist beklagt, nachdem er sie aus der Stube der Unkundigen heraus komplementiert hatte.
Um das zu lindern, hatte er sie mit einem Bann umstrickt, der ihn erheblich mehr Kraft gekostet hatte, als ihm lieb war. Nun saß sie am Tisch, versunken in eine Welt, in die nicht einmal er selbst Einblick hatte. Die verbliebene Kammerfrau, das wusste er, wachte vor der Tür. Wahrscheinlich strichen auch die drei yarlay unruhig um den Turm herum. Wie rührend all diese Leute über die teiranda wachten!
Ihm selbst war derweil eine einfältige, törichte Unkundige ohne jede Relevanz für das, was geschehen sollte, am Rande seiner Aufmerksamkeit einfach so entwischt. Welche Schwäche, welche Schande. Und doch … möge das arme Ding hinter den Träumen zur Ruhe finden. Ad’ree.
Er selbst war für alle Zeiten verlassen vom Licht.
Du brauchst das Licht nicht. Das Licht braucht dich nicht.
Der goala’ay ächzte und ließ sich schwer auf seinem Schlaflager nieder.
Bald bist du am Ziel. Bald wird alles sein, wie es soll. Dann kannst du dich endlich ausruhen.
Der Magier drehte sich auf die Seite und schaute die teiranda auf dem Sessel am Tisch an. Sie regte sich nicht. Sie wusste nicht mehr, dass er da war. Sie wusste nicht einmal, wo sie war. Sie labte sich an der Leere, die ihren Schmerz betäubte.
Auch für ihn wäre es wohl besser, nach Pianmurít zurückzukehren.
Gor Lucegath hob die Maske vor sein Gesicht und betrachtete das Ding resigniert. Dann gab sich einen Ruck und setzte sich das Werkzeug wieder auf.
Ja. So war es erträglicher.
***
„Das ist die Burg von Asgaý von Spagor?”, fragte Isan enttäuscht.
„Was hast du erwartet?”
„Ich war noch nie hier. Ich bin weit westlich von Virhavét geboren, und als Kind hatte ich keine Gelegenheit, hierher zu reisen …”
„Und was hast du erhofft?”
„Na ja … vielleicht sowas wie Valvivant. Etwas kleiner. Aber nicht so einen … Klotz. Das sieht nicht einmal aus wie eine Burg!”
Waýreth Althopian lachte. „Dann wird dir mein Haus zusagen. Es ist ein uraltes Gemäuer mit einem hohen Turm und einen tiefen Graben. Im Winter allerdings etwas zugig. Hier hast du mehr Annehmlichkeiten.”
„Wenn Ihr das sagt …”
„Diese Burg hier”, erklärte Althopian, „war zu Zeiten der Chaoskriege eine regelrechte Zielscheibe für Angreifer von der Seeseite. Es war nicht viel zu retten an den alten Mauern.”
„Ich verstehe. Aber man hätte es doch trotzdem etwas … hübscher machen können.”
„Burgen müssen nicht hübsch sein. Sie müssen Schutz bieten.”
„Hat Eure Mutter das auch so gesehen?”, fragte Isan.
Yarl Althopian schwieg einen Moment.
„Es gibt kaum eine Handbreit an meinen Mauern, woran keine Lornizeren, Steinreben und Rosen ranken”, gestand er dann.
„Lornizeren sind hübsch”, sagte Isan. „Schön bunt. Und sie duften süß wie Konfekt. Bestimmt gefällt Eurer yarlara das sehr.”
Sie ritten auf das Tor zu, das im spitzen Winkel der Gebäude landeinwärts das Ende der Straße bildete. Der Posten am Tor kannte den yarl natürlich und ließ sie passieren.
Althopian kümmerte sich nicht weiter darum und ritt weiter. Isans Muli trippelte seinem Ross hinterher.
Die Handvoll Leute, die gerade im Hof zu tun hatte, schien sich ehrlich über die Rückkehr des Ritters zu freuen. Waýreth Althopian war allseits beliebt und geachtet. Grußworte wurden gewechselt. Eine Magd eilte herbei und brachte ihm einen Tonbecher kaltes Wasser. Auch Isan bekam einen solchen Willkommenstrunk.
Kurz darauf trat aus dem Wohngebäude ein älterer Herr mit schütterem grauen Haar hervor, angetan mit einem honigfarbenen Waffenkleid. Darüber trug er eine angedeutete Rüstung, die jener der yarlay, wie Isan sie kannte, zwar ähnelte, aber deutlich weniger Metall in sich begriff. Sein hageres Gesicht hatte Ähnlichkeit mit einem grimmigen Raubvogel. Einem Bussard mit scharfem Blick und spitzem grauem Kinnbart.
„Sitzt ab, Althopian. Ihr seid morgen früh noch im Sattel, wenn Ihr auf den teirand wartet.”
„Emberbey! Wie schön, Euch noch hier anzutreffen.” Althopian schwang sich von seinem Pferd, das augenblicklich von einem Stalldiener in Empfang genommen wurde. Die beiden Männer umarmten einander freundschaftlich. Das war also der ehrenwerte, berühmte yarl Alsgör Emberbey.
Isan wartete nicht ihrerseits auf eine Einladung und glitt ebenfalls aus dem Sattel. Sie hatte sich den älteren Ritter ganz anders vorgestellt, größer und imposanter. Sicher war er bereits mehr als sechzig Sommer alt. Doch dafür scheinen ihn die Mächte mit guter Gesundheit beschenkt zu haben. Der yarl wirkte wach und agil. In Valvivant hatte Isan Herren ähnlichen Alters gesehen, die kaum noch eine Treppe steigen konnten, ohne außer Atem zu kommen.
„Wäret Ihr einen Tag später gekommen, wir hätten uns versäumt. Nun kann ich getrost eine Weile meinen eigenen Dingen nachgehen. Wer ist das?”
„Das”, sagte Waýreth Althopian, „ist die beste junge doayra, die Ihr diesseits des Montazíel finden könnt, und darüber hinaus wohl auch. Sie wird künftig in meinem yarlmálon dienen.”
Isan errötete, erfreut über die freundlichen Worte, mit denen er sie dem anderen yarl vorstellte. Sie verneigte sich unter dessen gestrengen, scharfen Blick.
Alsgör Emberbey musterte sie einen Moment zu lang und zu prüfend. Dann neigte auch er knapp den Kopf.
„Hattet Ihr Erfolg?”, fragte er.
„Nun, ich bin Andriér Altabete tatsächlich begegnet.”
„Und?”
„Es ist – verworren. Ihr werdet verstehen, dass ich zuerst mit dem teirand reden muss, bevor ich Euch einweihe. Aber … es sieht nicht allzu nicht übel aus für das, was wir uns erhoffen.”
„Das freut mich zu hören. Doch um beim teirand Gehör zu finden, werdet Ihr Glück brauchen.”
„Ist er denn zugegen?”
„Ich hörte ihn vorhin noch auf dem Dach herum klimpern. Er hält sich wieder einmal für einen Poeten.”
Isan zuckte ob dieser respektlosen Worte zusammen. Althopian klopfte Emberbey auf die Schulter und ging dann in die Burg hinein.
Isan blieb unschlüssig stehen. Unaufgefordert hatte sie im Gebäude nichts zu suchen.
„Herr Waýreth!”, rief Alsgör Emberbey ihm hinterher, „wie steht es mit Eurem Glück?”
Isan sah, wie ihr Herr zögerte, bevor er im Eingang des Gebäudes verschwand. Selbstverständlich hatte er es gehört. Aber er zog es wohl vor, nicht zu antworten, nicht jetzt.
„Er hat eine yarlara von Ivaál kennen gelernt”, gab sie daher bereitwillig Auskunft.
„Eine Dame aus Ivaál, so. Du weißt, dass du eine vorwitzige Zunge hast, Mädchen?”
„Vergebt mir. Ich dachte, es interessiert Euch.”
„Geschwätzigkeit, Mädchen, ist keine Tugend. Lass dir das einen Rat sein.”
Er wandte sich ab und ließ sie stehen. Offenbar hatte er dringende Dinge zu erledigen.
„Meine Güte”, sagte Isan zu ihrem Maultier, „der hat ja eine Laune…”
Das hatte eine rundliche Frau um den vierzigsten Sommer herum mitgehört, die auf dem Hof damit beschäftigt war, Wäsche auf eine Leine zu hängen.
„Lass ihn reden”, sagte sie in Isans Richtung. „Er meint es nicht so.”
„Wie meint er es dann?”
Die Frau lachte. Sie trug ein hübsches, bunt besticktes Kittelkleid aus hellem Leinen und eine praktische Haube auf einem ergrauenden Zopf. „Na gut, er meint es genauso. Aber Herr Alsgör ist ein wohlmeinender Herr, solange man sich in seiner Gegenwart züchtig benimmt und er nichts zum Tadeln findet. Wenn du das beherzigst, ist er umgänglich und gerecht.”
„Reden die beiden deswegen so förmlich miteinander?”
„Mag sein.” Die Frau klemmte ein blitzsauber gewaschenes Hemd fest und kam dann auf Isan zu. „Ich bin Kelwa.”
„Ich heiße Isan. Ich bin mit yarl Althopian aus Valvivant gekommen.”
„Dann hast du aber eine weite Reise hinter dir. Du musst hungrig und durstig sein.”
„Ach, es geht so. Wir hatten heute früh noch etwas Brot, und…”
Kelwa hörte nicht zu. Sie klatschte einige Male in die Hände. „He, kann einer von euch Burschen sich um das Maultier kümmern? Und du, Kind, kommst gleich mit rüber in mein Haus, sobald die Wäsche hängt.”
„Aber … mein Herr…”
„Glaub mir, den bekommst du in nächster Zeit nicht zu Gesicht. Der teirand wird sich alle Einzelheiten seiner Reise haarklein erzählen lassen. Solange dein Reittier im Stall ist, wird der yarl dich nicht suchen.”
Ein junger Mann eilte heran und übernahm die Zügel. Isan fischte ihre Tasche vom Sattel. Wie lange hatte Althopian Zeit, bis er diesen vermaledeiten Wein trinken musste? Die Sonne stand noch nicht im Zenit. Gut.
„Lass mich helfen!” Isan griff nach der Schale mit den Wäscheklammern. „Dann bist du schneller fertig.”
„Keine Eile, Kind. Ins Dorf sind es nur ein paar Schritte zu Fuß. Du bist rechtzeitig hier. Schließlich muss ich das Zeug später auch wieder abnehmen.”
Sie arbeiteten eine Viertelstunde lang. Dann war eine ganze Ecke des Burghofs mit wehender, frisch duftender Wäsche abgehängt. Kelwa trocknete sich die Finger an der Schürze und führte das Mädchen durch einen schmalen Seitendurchgang hinaus in die Dünen. Das Meer, nun bei Ebbe weit in der Ferne leuchtete grün in der Sonne. Isans Herz hob sich vor Freude. Ja. Das hier war schon eher ihre Welt.
„Du hättest natürlich auch in der Burg etwas essen können”, plauderte Kelwa und schritt in ihren Holzpantinen wacker auf dem Bohlenpfad aus, der durch die sandigen Hügel führte. „Aber ich weiß, was da für heute Abend gekocht wird. Ich hab noch einen Kessel Suppe übrig. Wäre ein Jammer, wenn die schlecht würde.”
„Hast du zu viel davon gekocht?”
„Eigentlich nicht. Aber mein Gefährte und sein Bootsjunge sind überraschend für ein paar Tage ausgefahren. Deshalb ist noch etwas übrig.”
„Ist dein Gefährte ein keptyen?”
Kelwa lachte herzlich. „Ach was. Wir sind hier nicht in Virhavét, Kind. Er fährt auf Fischfang bis an die Wassergrenze raus und keinen Deut weiter.”
„Und warum fährt er dann überraschend aus?”
„Du liebe Zeit! Du willst es aber genau wissen! Er transportiert ausnahmsweise einen Passagier.”
Isan wollte weiter nachfragen, aber vorerst nehm Kelwas Dorf ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Die junge doayra war begeistert von dem hübschen Dörfchen mit den weiß getünchten Häusern unter Reetdächern und den bunten Gärten. Nur die klobige Burg, die darüber wachte, störte das Bild, sobald man landeinwärts blickte. In Isans Heimatdorf war die Bauweise anders. Dort waren rote Ziegel und Schindeldächer nach Mode von Virhavét verbaut worden, und es gab weniger Grün. Hier, so schien es ihr, hatte man jede Handbreit, wo Platz dafür war genutzt, um Blumen und Kräuter zu pflanzen. Besonders beeindruckend fand Isan das Rosenstämmchen in einem Toneimer rechts neben der Eingangstür von Kelwas Haus.
„Was für eine Pracht!”, rief sie aus.
„Nicht wahr? Und stell dir vor – ganz über Nacht! Ich hatte die Rosen schon aufgegeben. Das wäre ein Jammer gewesen. Mein hýardor hatte mir die Pflanze geschenkt, da war ich noch ein ganz junges Ding.” Sie schnupperte an einer der üppigen Blüten, seufzte entzückt und fügte hinzu: „Ich bin sicher, das war Zauberei.”
Isan zuckte zusammen. „Zauberei?”
Kelwa öffnete die Tür zu ihrer Stube. „Kannst du ein Geheimnis bewahren?”
Das fragt sie mich, nachdem ich ohne Not den Namen von Althopians Herzensdame ausgeplaudert habe?, dachte Isan. „Na klar.”
„Komm rein und mach die Tür zu.”
Nun wurde das Mädchen neugierig. Sie folgte der Frau hinüber zum Herd, wo sie bereits geschäftig einen Topf auf die Feuerstelle zog.
„Vorgestern Nacht war ein Mann hier”, wisperte Kelwa, als befürchte sie Lauscher im eigenen Haus. „Ein sonderbarer Kerl. Hat behauptet, du glaubst es nicht, ein Schattensänger zu sein. Du weißt schon, so einer wie in den uralten Geschichten.”
Sie legte Holz in den Ofen und fachte es routiniert mit etwas Stroh und Feuerzeug ein kleines Küchenfeuer an.
„Ein Schwarzmantel”, sagte Isan tonlos.
„Ich weiß, wie verrückt das klingt. Ich weiß nicht, ob er wirklich einer war oder er sich das nur eingebildet hat. Und gestern früh mit der Flut sind sie ausgefahren.”
„Wohin?”
„Er sagte, er müsse so nahe wie möglich ans Chaos heran. Verrückte Geschichte.”
„Und das macht dir keine Sorgen? Was, wenn deinem Gefährten etwas zustößt?”
Kelwa tauchte hinter dem Herd wieder auf. „Ach was. Majék – der Bootsjunge – ist doch dabei. Und Egnar ist nicht schlecht mit der Harpune. Aber … ich glaube nicht, dass etwas geschieht. Das habe ich gespürt. Der Magier, oder was immer er ist, hat nichts Übles vor.”
„Wie sah er aus?”
„Nun ja … groß. Schlank. Pechschwarzes Haar. Ausgesprochen schmuck, das sag ich dir! Aber ich habe sein Gesicht nicht richtig gesehen. Er war sehr rücksichtsvoll und hat es vor mir verborgen.”
„Da hast du wahrscheinlich großes Glück gehabt … Du weißt, ihr Blick …”
„Ach was, das sind doch Ammenmärchen. Als ob mir in meinem Alter da noch etwas passieren könnte.”
„Hat er seinen Namen gesagt?”
„Ja. Aber ich erinnere mich nicht. Es war ein wunderlicher Name. Er sagte, er käme von südlich des Montazíel.”
„Aber er war allein? Es war keine junge Frau bei ihm?”
„Wie sollte denn das vonstattengehen? Aber sag… du redest, als wüsstest du mehr als ich?”
„Ich glaube, ich weiß tatsächlich, wer das war. Aber eigentlich ist das unmöglich. Ich denke, mein Herr sollte von alledem schnell erfahren.”
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