Yarl Moréaval sitzt draußen vor der Mauer am Graben, da wo dichtes Gebüsch ist. Ich glaube, er weint, sagte Arámaú, als sie am Abend von einem ihrer Streifzüge zurückkehrte. Dann fragte sie: Was machst du da?

Nun, was machte ich? Ich stand da und zerrte ebenso verbissen wie ergebnislos an den Traggriffen der Truhe am Fußende meines Bettes, um sie ein Stück beiseite zu bewegen. Es war unwahrscheinlich, aber der einzige Ort im Zimmer, an dem ich noch nicht gesucht hatte. Sogar unters Bett war ich gekrochen. Gefunden hatte ich dort nicht einmal Spinnweben.

„Ich suche etwas.”

Ich hörte, wie sie vom Fenstersims ins Zimmer sprang und von da zuerst auf den Stuhl und dann auf die Tischplatte.

„Vorsicht! Bring nichts durcheinander! Ich bin fast fertig damit. Ich muss nur noch…”

Du kannst damit aufhören. Du findest es hier nicht.

Ich schaute auf. Sie saß inmitten der Bruchstücke der Geige und begutachtete mein Werk.

Die vielen einsamen Abende, die ich in meiner Welt mit Puzzlespielen verbracht hatte, hatten sich ausgezahlt. Aus den hölzernen Scherben hatte ich mit Leim mehrere größere Fragmente zusammengesetzt, die haargenau aneinander passten. Nur noch eine Reihe kleinerer Stückchen musste ich einpassen. Ich hatte vorgehabt, den Korpus des Instruments bald wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen. Bei dieser Gelegenheit und den nun übersichtlichen Teilen hatte ich es bemerkt: Mindestens ein größeres Stück musste fehlen. An einer Kante klaffte noch eine Lücke, etwas kleiner als eine geknickte Spielkarte.

Und mir war durchaus klar, dass es nicht hinter der Truhe liegen konnte. Die war so schwer, dass ich sie kaum allein bewegen konnte. Aber irgendwo musste das fehlende Fragment schließlich sein. Und wenn es nicht irgendwie zwischen Truhe und Bett klemmte … dann … Ich wagte den Gedanken nicht zu beenden. Arámaús Worte allerdings alarmierten mich.

„Was soll das heißen?”

Der Rotgewandete hatte ein Stück aufgehoben, in … jener Nacht.

„Und das sagst du mir erst jetzt?” Ich ließ mich fassungslos auf die Bettkante fallen.

Wenn ich es dir früher gesagt hätte, hättest du dann überhaupt damit begonnen?

„Natürlich! Ich … na ja. Ich denke schon.”

Sie tapste zaghaft eines der noch losen Teilstücke mit der Pfote an. Ich wollte, dass du dich eine Weile an etwas festhalten kannst, dich konzentrierst und Pianmurít nicht an dich herankommen lässt. Mit den Stickarbeiten und Büchern ist es ja nicht geglückt.

„Und nun?”

Nun suchen wir dir eine neue Beschäftigung.

Es gefiel mir ganz und gar nicht, wie leicht sie die Sache nahm.

„Arámaú … denkst du tatsächlich, all das war für mich nur eine Art … Geduldsspiel?”

Nein. Natürlich nicht.

„Warum suchen wir nicht stattdessen die Scherbe?”

Sie lachte auf. Katzengelächter ist ein sehr seltsames Geräusch.

Wie stellst du dir das vor? Wie sollen wir ein kleines Stück Holz wiederfinden?

„Ich hatte angenommen, du könntest so etwas.”

Was bin ich? Ein Fährtenhund? Ujora, es ist Holz. Unmagisches, zerbrochenes Holz. Der Rotgewandete kann es sonst wo hingeworfen haben. In den Kamin zu Beispiel. Asche kannst du nicht zusammensetzen.

„Das glaube ich nicht”,

Es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass er es vernichtet hat. Gerade damit Yalomiro vortrefflichstes Werkzeug zerstört bleibt.

„Dann hätte er auch die übrigen Scherben wegnehmen können.”

Das hätte ihm sicher nicht so viel Vergnügen bereitet. Er wollte doch offensichtlich, dass du die Trümmer findest.

Ich vergrub das Gesicht in den Händen und fühlte mich leer. Die Erkenntnis, dass all die Arbeit umsonst gewesen war, tat weh. Ich hätte darauf mit einem Wutanfall oder Tränen reagieren sollen. Aber dazu hatte ich nicht die Kraft. Ich war wie betäubt.

Sei nicht traurig, Ujora. Schau … die Geige ist entzwei. Yalomiro hat sie wissentlich und willentlich zerstört. Selbst wenn du sie wieder zusammensetzt, würde sie doch nie wieder funktionieren. Denkst du, etwas, was er mit Magie geformt hat, kannst du mit Leim wiederherstellen?

Wahrscheinlich hatte sie Recht. Aber ich wollte nicht, dass sie Recht hatte. Ich mochte mir nicht vorstellen, dass die vergangenenTage nichts anderes gewesen waren als eine sinnlose … Beschäftigungstherapie.

„Ich glaube, du irrst dich. Er hat die Scherbe noch.”

Und wenn schon. Das hat keine Bedeutung.

„Ich werde sie finden.”

Du hast das ganze Zimmer durchsucht. Weiter kommst du nicht.

„Ich war schon einmal draußen!”

Ich weiß. Beim ersten Mal hast du dich verirrt und beim zweiten Mal hat der Rotgewandete dich eigenhändig wieder hierher gebracht. Du kannst nicht allein loslaufen.

„Ich frage yarl Moréaval! Er soll mich hinbringen!”

Hast du mir nicht zugehört? Der arme Kerl hat sich im Gebüsch versteckt wie ein verzagter Knabe. Wir sollten Noktáma und die Mächte anflehen, dass seine Freunde ihn dort finden, bevor er versucht, sich im Graben zu ersäufen. Es täte mir leid um ihn, wenn er keinen anderen Ausweg sähe als die unglückliche Kammerzofe. Er hat wirklich andere Sorgen!

„Gut. Dann frage ich dich.”

Du kennst meine Antwort.

„Hast du Angst?”

Natürlich! Nie wieder gehe ich freiwillig in die Nähe des Rotgewandeten!

„Ach! Also denkst du also doch, dass er die Scherbe bei sich hat?”

Sie fauchte ertappt. Das genügte mir als Antwort.

„Gut. Dann gehe ich alleine.”

Ich denke nicht, dass du weit kommst.

„Du bist wirklich ein Feigling, Arámaú.”

Sie lachte bitter auf. Das sagst du mir? Ausgerechnet du? Besser feige als …

„Als was?”

Töricht.

Wahrscheinlich hatte sie Recht damit. Aber der Umstand, dass mir nur noch ein einziges Stück dazu fehlte, um Yalomiros Geige wieder zusammenzusetzen, hatte sich in diesem Moment bereits zu einer fixen Idee verdichtet.

Ich dachte nicht nach. Zum Denken war ich viel zu verwirrt. Stattdessen öffnete ich die Tür und spähte vorsichtig auf den Gang hinaus. Niemand war zu sehen. Aber den Absatz der Treppe nach unten, den hatte ich deutlich vor Augen. Dort hinten, um Ende des Ganges. Ich konnte den hölzernen Handlauf erkennen.

Wo war der Nebel hin?

Egal. Ohne mich noch einmal nach Arámaú umzusehen, wagte den Schritt aus meiner Kammer heraus.

***

Waýreth Althopian hatte seinen Wein gerade noch rechtzeitig bekommen, bevor ihn die Übelkeit übermannen und in vor den Augen seines Herrn in peinliche Situationen bringen konnte. Während er langsam wieder zu Kräften kam, hörten yarl Emberbey und Isan Asgaý von Spagor gebannt zu, wie der in hohen Tönen die Schönheit einer holden Dame rühmte. Diese beabsichtigte er – ganz in der Tradition des legendären Smaragdritters – zuerst zu erretten und dann als hýardora zu gewinnen.

Die Worte des jungen teirand hatten unterschiedliche Wirkung. Alsgör Emberbeys Blick ließ keinen Zweifel daran, dass er annahm, sein Herr habe endgültig den Verstand verloren. Isan fragte sich, von welcher schönen Frau der junge Herrscher reden möchte. Und Althopian schaute drein, als schäme er sich im Grund und Boden.

So begeistert war der junge teirand, dass er nicht einmal Anstoß daran nahm, dass Isan ungefragt zwischen den beiden Rittern stehen blieb. Er fragte nicht einmal, wer sie war. Stattdessen kam ihm plötzlich der Gedanke, dass er sich für eine solche Mission vielleicht doch etwas angemessener ankleiden sollte. Er ließ seine yarlay stehen und eilte durch eine Nebentür hinaus, wobei er nach einem Hausdiener rief.

Einen Moment lang war es geradezu gespenstisch still im Raum.

„Ich denke, das bedarf einer Erklärung, Herr Waýreth”, sagte Emberbey dann kühl.

„Es mag Euch genügen, dass ich als Brautwerber unterwegs war”, sagte Althopian müde.

„Für den Lichtwächter?”, fragte Isan verwirrt. „Ist das Teil Eures Auftrags?”

„Herr Waýreth, dieses Kind hört nicht auf, von einem Magier zu reden. Was hat es mit diesem Unfug auf sich?”

Althopian stemmt sich ächzend aus seinem Sessel empor.

„Herr Alsgör, wenn ich Euch einen Rat geben darf: Seht zu, dass Ihr so schnell wie möglich in euer yarlmálon kommt, bevor der teirand auf die Idee kommt, Euch den Urlaub doch noch zu verwehren.”

„Das käme mir in der Tat ungelegen, nachdem ich meinerseits die Ankunft meiner künftigen hýardora erwarte.”

„Oh. Ich gratuliere. Darf ich fragen…”

„Briefe. Briefe und Diplomatie. Weit weniger euphorisch als das, was auch immer das Herz unseres teirand nun entflammt haben mag.”

Das klang in Isans Ohren nicht allzu romantisch. Sie fragte sich kurz, was das Herz einer Dame für den älteren yarl entflammt haben mochte. Aber das war gerade nicht das dringlichste Problem.

„Bitte, Herr Alsgör. Ich denke, es ist das Beste, wenn nicht noch jemand in diese Angelegenheit hineingezogen wird. Lasst mich die Dinge regeln, auch zu Eurem Guten.”

„Ihr redet, als sei unser Herr in Gefahr.”

„Nicht, wenn ich es verhindern kann. Sorgt Euch nicht.”

„Nun bin ich erst recht beunruhigt.”

Althopian lächelte freudlos. „Ihr habt also doch Anteil an unserem ungestümen jungen Herrn, nicht wahr?”

„Nicht weniger als Ihr.”

Isan hielt es nicht mehr aus. „Aber was hat es denn nun mit dieser schönen Frau auf sich? Damit ist doch wohl nicht die teiranda von Wijdlant gemeint, oder etwa doch?”

Alsgör Emberbey schüttelte missbilligend den Kopf. „Ich bin nicht recht sicher, ob Ihr klug daran handelt, Euch so ein vorlautes Gör ins Haus zu holen. Dennoch wüsste ich in der Tat auch allzu gern, in welche Dame sich unser Herr so plötzlich verliebt hat.”

„Ihr habt es gehört. In Kíaná von Wijdlant.”

Alsgör Emberbey runzelte die Stirn. „Ich habe tatsächlich von einer Dame dieses Namens gehört. Von meinem Vater, der einmal an einem vásposar um ihre Gunst teilgenommen hat. Erfolglos, selbstverständlich.”

„Wieso selbstverständlich?”

„Nun, es stellte sich nach einiger Zeit heraus, dass jene teinrandanja von Wijdlant, die denselben Namen trug, nicht die geringste Zugewandtheit zeigte, sich näher einem der jungen Herren zu widmen. Dem teirand, ihrem Vater, so erzählte mein Vater damals, war das alles wohl sehr peinlich. Es waren seinerzeit yarlay von weither angereist, sogar aus Aurópéa.”

„Sonderbar”, murmelte Althopian. „Ich hätte darauf gewettet, dass die Dame … großes Interesse an edlen Herren zeigt.”

„Ich weiß nicht, wem Ihr begegnet seid. Aber wenn ihr nicht eine Verwandte gleichen Namens gefolgt ist, müsste die Dame zwischenzeitlich älter sein, als ich es bin.”

„Ich könnte wetten”, sagte Isan stichelnd, „dass es da nicht mit rechten Dingen zugeht.”

„Es dürfte in der Tat die Tochter… nein, die Enkelin jener teiranda sein, die Ihr kennt. Und du, Isan, lässt dir jetzt von jemandem den Weg in mein Quartier weisen und wartest und sprichst dort kein Wort, bis ich bei dir bin. Ich habe mit Herrn Alsgör einige Dinge zu bereden.”

„Aber…”

Allein.”

Das duldete kein Widerwort. Sie verneigte sich unter seinem warnenden Blick, tat dasselbe in Emberbeys Richtung und nahm die Kalebasse an sich. So laut, dass die beiden Ritter es hören konnten, erkundigte sie sich dem Wächter vor der Tür nachdrücklich nach dem Weg zu Althopians Privatgemächern.

„Ich fürchte”, sagte Emberbey, als sie gegangen war, „in den nächsten Tagen könnte sich einiges Volk hier das Maul über Euch und die fánjula zerreißen. Zumal man hört, dass Ihr Euch unter den Damen von Ivaál umgeschaut habt.”

„Ich weiß, von wem Ihr das gehört habt. “

„Und? War es bei Euch auch … Diplomatie?”

Waýreth Althopian schüttelte den Kopf. „Nein. Bei mir war es der Segen der Mächte. Und der einzige Grund, weshalb ich all diesen Wahnsinn hier unternehme.”