Das Chaos erstrahlte in einem Wirbel aus nie zuvor gesehenen, schillernden Farben, als die Sonne ihre letzten Strahlen darüber warf und dahinter versank. Pataghíu zeigte seinen Glanz, tausendfache Regenbögen in aller Pracht, bevor er Noktáma das Firmament überließ, auf dass sie es mit funkelnden Sternen in der Schwärze schmückte.

Yalomiro hatte die Schönheit der Farben nie zuvor in dieser Herrlichkeit gesehen und verharrte andächtig und in Stille. Die arcaval’ay dienten wahrhaft einer wunderbaren Macht.

Egnar und Majék staunten mit offenem Mund. Obwohl ausnahmslos alle Seeleute vom Chaos wussten und es fürchteten, hatte nur eine Handvoll Neugieriger es ab und an gewagt, so nahe heranzufahren, um es zu studieren. Es gab in den Bibliotheken ganze Regale voller gelehrter Schriften, in denen kluge Männer und Frauen sich Gedanken darüber machten, was das Chaos selbst sein und was sich dahinter befinden mochte. Ob es dahinter überhaupt etwas gab. Die vorherrschende Lehrmeinung der forscoray ging davon aus, dass irgendetwas dort sein musste. Immerhin kehrte die Sonne jeden Tag dorthin zurück, um am nächsten Morgen über Soldesér wieder aufzutauchen. Oder eben neu geboren zu werden, sofern sie in den tosenden Fluten versank und erlosch.

Yalomiro erschien es unwahrscheinlich, dass Sonne und Mond vergänglich waren, jedenfalls nicht in der Form, dass Wasser sie löschen konnte und Pataghíu und Noktáma die Gestirne täglich neu entfachen mussten wie profane Kaminfeuer. Aber es war nicht der geeignete Moment, darüber nachzusinnen. Der Schattensänger blickte still auf die Wasserwand, die sich am Horizont auftürmte wie ein Gebirge aus Gischt, höher als der Montazíel, und irgendwo in der Höhe mit dem Himmel verschmolz. Niemand, auch nicht die Abenteurer, die sich hierher gewagt hatten wusste, was es war, das das smaragdgrüne Meer so aufwirbelte, mit solcher Macht empor schleuderte. In alten Zeiten glaubte man an den Atem eines gewaltigen Seeungeheuers, dessen Körper sich quer über die Welt erstreckte. Etwas ernsthafter denkende forscoray gingen eher von einem sehr bemerkenswerten Wetter- oder Gezeitenphänomen aus. Die Magier wussten, dass es die Chaosgeister waren, die hier tobten und versuchten, die Grenzen zu überwinden, um erneut in das Weltenspiel einzubrechen. Und dass dies der Ort war, an den – angeblich – zu Anbeginn der Zeit das unbegreifliche Widerwesen verstoßen wurde, damit das Weltenspiel beginnen konnte. Aber das war nur eine Legende.

Praktisch betrachtet, war es egal. Das Chaos war schön anzusehen, wie es dort in allen Regenbogenfarben glitzerte und glänzte und mehr und mehr in warmgoldenes Rot überging, je tiefer die Sonne sank.

Hier, so nahe am Ende der bekannten Welt, war das Meer dennoch glatt und unbewegt wie ein stiller Teich. Das Fischerboot trieb fast unbeweglich über dem smaragdenen Abgrund dahin.

„Wir sind da”, sagte Yalomiro.

Der Fischer und sein Bootsjunge schauten ihn gespannt an.

„Und nun?”, fragte Majék. „Hier könn’ wir nicht ankern. So tief ‘runter reicht unser Tau nicht.”

„Holt alle Segel ein. Dann wird das Boot stillstehen.”

„Aber die Strömung…”

„Es wird festliegen, als hättet ihr zehn Anker an jeder Seite geworfen. Vertraut mir.”

Majék zuckte die Achseln und tat, wie ihm geheißen.

Egnar hatte nur mit einem Ohr zugehört. „Hätte mir nie im Leben träumen lassen, das mal zu sehen zu bekommen”, sagte er ehrfürchtig.

Yalomiro lächelte. „Nun, dann hast du etwas, was du demnächst abends vor deinen Kameraden zum Besten geben kannst.”

Egnar schüttelte den Kopf. „Nein. Dafür ist das zu schön. Das kann ich nicht beschreiben.”

„Du wirst es eine ganze Weile lang anschauen können. Den Rest des Weges muss ich allein gehen. Oder vielmehr schwimmen.”

Der Fischer verschränkte die Arme vor der Brust und musterte den Schattensänger zweiflerisch. „Kannst du überhaupt schwimmen?”

„Natürlich. Ich bin an einem bodenlosen See aufgewachsen.”

Egnar schnaubte abschätzig. „Pah, Süßwasser. Das ist was anderes. Meerwasser ist eiskalt, und wahrscheinlich voller tückischer Ströme.”

„Abgesehen davon bin ich ein Magier.”

„Das mag ja alles sein. Aber nur mal angenommen, du scheiterst an deinem wahnsinnigen Plan. Was machen wir dann? Wann gedenkst du, zurück zu sein?”

„Ich kann euch nicht daran hindern, beizudrehen und umzukehren. Ihr müsst nur die Segel wieder setzen. Zugegebener Weise wäre ich in dem Fall etwas enttäuscht von euch.”

„Ach was. Nach alldem wird es uns auch nicht schaden, eine Weile auf dich zu warten. Genug zu essen haben wir ja. Aber … wie können wir wissen, ob es sich noch lohnt?”

„Lohnt?”

„Na ja. Wenn du merkst, dass so ein läppischer See was ganz anderes ist als das hier.”

„Hast du ein Stundenglas an Bord?”

„Jau. Zwei Stück sogar.”

„Bring mir das zweite.”

Egnar verschwand kurz unter Deck und kam mit einer kleinen Holzkiste wieder. Darin lag, mit Stroh gepolstert, eine nagelneue Sanduhr.

„War nicht ganz billig, das Ding”, erklärte er stolz. „Aber man muss was aufs Geschäft aufwenden. Wenn mir nämlich das eine einmal auf See kaputtgehen sollte … was machst du da?”

Yalomiro nahm das Stundenglas aus seiner Verpackung, betrachtete es prüfend und schnippte dann mit der Fingerspitze gegen die obere, leere Kammer. Das Glas knackte, und ein dreieckiges Stück löste sich heraus. Der Magier fing es in der hohlen Hand auf.

Egnar verzog das Gesicht. „He!”, protestierte er. „Das war mein Fang von einem halben Mondlauf!”

Der Magier antwortete nicht. Stattdessen umschloss es die Scherbe fest mit der Faust. Das Glas schnitt tief in seine Handfläche ein. Silbernes Blut trat hervor und floss in einem feinen Rinnsal seinen Unterarm entlang. Der camat’ay ließ von seinem Ellbogen einige Tropfen durch das Loch ins Innere der Sanduhr rinnen.

Majék kam hinzu und schaute ihm verständnislos über die Schulter.

Als es genug war, setzte der Magier die Scherbe behutsam wieder an ihren Platz. Unter seiner Berührung und seinem Lied fügte sie sich erneut nahtlos mit dem Glas zusammen. Der pulverige Sand im unteren Bereich der Uhr verfärbte sich dort, wo er bereits vom Blut benetzt war, silberweiß. Yalomiro drehte das Stundenglas um.

„Wir lassen die Uhr zweimal durchlaufen. Das sollte genügen, um den Sand zu durchmischen. Dann mache ich mich auf den Weg. Behaltet ihr beide das Glas im Auge. Wenn mir unterwegs etwas zustoßen und an meiner Rückkehr hindern sollte, wird der Sand sich grau verfärben. Dann hat es keinen Sinn mehr, auf mich zu warten, und ihr könnt Segel setzen.”

„Und was passiert dann?”

Yalomiro drückte Majék das Stundenglas in die Hand. „Nichts weiter. Deine Uhr wird weiterhin tadellos funktionieren. Lediglich meine Zeit im Weltenspiel wird verstrichen sein. Ihr könnt in den Tavernen von Virhavét dann die Geschichte eines leichtsinnigen Schwarzmantels erzählen, der fortan als ruheloser Chaosgeist an den Grenzen der Wirklichkeit umherirrt.”

Fasziniert beobachteten Egnar und Majék, wie der durchlaufende Sand seine Farbe von beige zu silbern wechselte. Der Schattensänger wandte sich ab und heilte den Schnitt in seiner Hand, ohne hinzuschauen. Das Chaos erstrahlte nun rot und glühend. Bald würde es schlagartig finster werden über dem Meer, bis die Sterne hervorkamen. Das wäre die Stunde.

Gleichmütig begann er damit, seine Gewänder abzulegen und tastete nach Arámaús vertrauten Gedanken in der Nacht.

***

Der Handlauf war meine Rettung. Nachdem es mir zu meiner allergrößten Überraschung ohne Schwierigkeiten gelungen war, die wenigen Schritte bis zur Treppe zurückzulegen, packte ich das Geländer mit beiden Händen und atmete erleichtert auf. Dieser Teil des Abenteuers war geschafft.

Das Holz war echt. Es war massiv. Die Bewohner der Burg benutzten es ständig und es führte sie in die Geschosse, die sie erreichen wollten. Und war es nicht so, dass sich die Schutzbefohlenen der teiranda ganz normal in ihrer Umgebung bewegen konnten? Dass die verwirrenden Zauber in der Burg nur für mich existierten, als Nebenwirkung dessen, dass ich wusste, dass Magie auf dem Gebäude lag?

Ich beschloss, nun mein Glück zu versuchen, indem ich meine Konzentration auf etwas Wirkliches fokussierte. Das Treppengeländer würde ins Erdgeschoss führen, sofern ich mich nicht ablenken ließ. Am besten machte ich die Augen zu und tastete mich Schritt für Schritt, Stufe für Stufe abwärts. Das würde Zeit kosten, aber es erschien mir praktikabel.

Und doch ärgerte ich mich, dass Arámaú mir nicht hinterhergelaufen war. Gemeinsam hätten wir das Gebäude sicher verlassen können. Aber wenn sie Angst hatte … nun, ich konnte sie schließlich nicht zwingen.

Vielleicht bist du es, die die große Dummheit begeht, gab mir mein Verstand zu bedenken. Du bringst dich selber in Gefahr!

Das war mir egal. Ich musste das fehlende Fragment haben!

Und das, davon war ich unbeirrbar überzeugt, würde ich bei Gor Lucegath finden. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er es vernichtet oder achtlos fortgeworfen hatte. Der Rotgewandete tat nichts zufällig, soweit glaubte ich, ihn zwischenzeitlich zu kennen. Jedes Wort, jede kleine Geste hatte ihre Bewandtnis.

Die letzte Scherbe von Yalomiros magischem Instrument befand sich, darauf war ich bereit zu wetten, in Gor Lucegaths Gemach oben im Turm. Ins Erdgeschoss, auf den Hof, hinüber zum Turm; diesmal nicht hinab in den Kerker, sondern hoch an die Spitze. Das musste doch zu schaffen sein! Wie sollte man sich in einem Turm verlaufen?

Und wenn es eine Falle war?

Warum, sagte ich störrisch zu mir selbst, sollte er mir eine Falle stellen, wenn ich ohnehin bereits hier gefangen bin?

Vielleicht weil er selbst in einer Falle noch Fallen legen würde, um auch den letzten Apfel zu fangen?

Was für absurde Gedanken. Ich schüttelte die Bedenken ab, ging weiter. Die Stufen unter meinen Füßen waren stabil, aus Stein und tatsächlich existent. Es war viel unkomplizierter, diese Stiege hinabzugehen als damals, als ich auf Yalomiros Tonleiter herumgeklettert war.

War da ein Geräusch?

Ja, war es. Leder schabte, Metall klirrte. War da etwa jemand, der die Treppe hinaufstieg?

Verflucht! Wenn ich jetzt die Augen öffnete, würde ich mich sicher in irgendeinem unmöglich zu erreichenden Bereich der Burg befinden, und …

Der Gedanke war müßig. Jemand kam mir entgegen und würde unweigerlich auf der Wendeltreppe mit mir zusammenstoßen. Ich konnte nicht ausweichen. Also nahm ich allen Mut zusammen, holte tief Luft und schaute hin.

Mein Gegenüber trat gerade um die Windung herum und zuckte zusammen. Offenbar hatte er nicht mit Gegenverkehr gerechnet. Ich erschrak ebenfalls und atmete heftig ein, so sehr bestürzte mich der Anblick.

Ich stand einem Ritter in einem tannengrünen Waffenkleid gegenüber, über dem er ein Wams mit aufgenähten Metallschuppen trug. Sein schon etwas angegrauter, dunkler Bart war ordentlich gestutzt, sein Haupthaar wich einer Glatze, von knapp unterhalb seines linken Auges zog sich eine Narbe quer über seine Wange bis hinab zum Kinn, haarscharf seinen Mundwinkel verfehlend. Yarl Andriér Altabete!

Ich konnte ihn sehen!

Er verneigte sich höflich und trat einen Schritt beiseite, um mir Platz zu machen. Aber ich reagierte nicht. Ich konnte nicht aufhören, ihn anzustarren.

„Stimmt irgendetwas nicht, fánjula?”, fragte er zerstreut. „Kann ich dir helfen?”

Ich konnte ihn hören! Seine Stimme war etwas heiser, energisch, aber nicht unangenehm. Vor allem hörte sie ohne jedes Wispern und Zischeln. Ich verstand jedes Wort klar und deutlich.

Dann wurde mir bewusst, dass ich ihn angaffte. Womöglich dachte er, ich störte mich an seiner Entstellung. Ich schlug den Blick nieder.

„Nein, nein … es ist alles in Ordnung.”

Er runzelte argwöhnisch die Stirn. „Es hat auch seine Ordnung, dass ich dich außerhalb deiner Stube antreffe?”

Wie kam ich aus dieser Situation heraus? Wie würde er reagieren? Hatte er womöglich den Befehl, mich wieder einzufangen, wenn er mich außerhalb der Kammer antraf?

Ein verwegener Plan war von einem Moment zum nächsten da. Ich würde auf Risiko spielen. Was konnte schon passieren, außer dass er mich wieder zurück zum Start schickte?

„Ich bin auf dem Weg zu Meister Gor.”

„Oh. Dann will ich dir nicht im Weg stehen.” Er lächelte mir zu, mitleidig, bildete ich mir ein und rückte sein Schwert so zurecht, dass es nicht in den Weg ragte. „Bitte.”

„Danke”, sagte ich und hatte das Gefühl, dass ich mich verdächtig machen würde, wenn ich es allzu eilig hatte. „Und Ihr? Wohin wollt Ihr so eilig?”

„Wir suchen Herrn Jóndere. Er hat das Nachtmahl versäumt.”

„Vielleicht ist er nicht hungrig?”

„Wir machen uns Sorgen. Er war letzterdings nicht ganz bei sich.”

„Habt Ihr schon auf der Grabenseite hinter der Ostmauer nachgeschaut?”

„Nein. Nein, tatsächlich nicht. Wieso sollte er dort sein?”

„Ist es unmöglich?”

„Nein, natürlich nicht.”

„Möglicherweise findet Ihr ihn dort.”

Natürlich erweckte die präzise Ortsangabe sein Misstrauen. Andererseits war es ihm wohl einerlei, wo er seine Suche fortsetzte.

„Danke. Ich schaue sogleich dort nach”, sagte er, drehte sich auf der Treppe um und lief wieder herunter. Ich ließ ihm zwei Stufen Vorsprung und folgte ihm. Kurz darauf stand ich im Freien, mitten auf dem Burghof, wo um diese Zeit nur wenige von Kíaná von Wijdlants Untertanen anwesend waren. Niemand beachtete mich. Der Turm, riesenhaft, düster und unbeleuchtet, ragte vor mir empor. Nicht zu verfehlen.

Schon fast zu einfach.

Und meine Glückssträhne riss nicht ab. Gerade noch früh genug, um ihm auszuweichen, bemerkte ich den Rotgewandeten. Er kam ohne Eile aus dem Turm heraus, überquerte den Hof und hielt auf die Tür auf der anderen Seite des Wohnpalastes zu. Mit etwas Glück war er unterwegs zur teiranda und für eine Weile beschäftigt. Mit Sicherheit aber just jetzt nicht in seiner eigenen Kammer.

Ich stibitzte mir eine der schwach leuchtenden Öllaternen aus ihrer Halterung neben der Tür und entschloss mich, mir jetzt die Scherbe zu holen. Viel Zeit hatte ich nicht dazu.