
Als Yalomiro die Burg verließ, hatten die beiden yarlay und Isan soeben die nördliche Grenze des teirandon erreicht. Ihr Weg hatte sie durch eine trostlose, halb vertrocknete, halb im Morast versunkene Moorlandschaft geführt, mit halbgewachsenen Feldern, struppigen Herden und bedrückten Menschen entlang ihres Weges. Selbst in den tristen Nachtherbergen hatten die Herren nur Belangloses miteinander gesprochen. Althopian wartete. Altabete wich ihm aus. Isan hatte es kaum gewagt, mit den beiden Männern zu reden. Eine Begegnung mit Andriér Altabete war der ursprüngliche Anlass für Althopians Reise gewesen. Während die beiden nun die meiste Zeit schweigend nebeneinander her ritten, hatte das Mädchen das Gefühl, dass mehr und mehr Gelegenheiten verstrichen, je mehr sie sich der Grenze näherten. Es war nicht so, dass die beiden Männer sich nichts zu sagen gehabt hätten, beileibe nicht. Beiden brannte es auf der Seele, den jeweils anderen auszufragen. Es waren ganz offenbar andere Dinge, die beide Ritter dazu brachten, zu schweigen. Und diese Stille wurde immer dichter, körperlicher, unerträglicher. Isan litt, denn sie konnte die Herren nicht einmal mit ihrem Geschwatze ablenken.
Der viertägige Ritt, den sie zuletzt durch einige Stunden Rast und Schlaf auf der Burg der yarlay von Moréaval unterbrochen hatten, war unbehaglich gewesen. Dort hatte sie eine alternde yarlara in Empfang genommen, freundlich und fürsorglich, aber müde, niedergeschlagen und verhärmt. Es stellte sich heraus, dass sie die Mutter des jungen Herrn Jóndere war.
Die Dame wenigstens war beim gemeinsamen Nachtessen sichtbar aufgelebt, als Isan ihre besorgten Fragen nach dem Wohlergehen ihres geliebten Sohnes beantworten konnte. Isan beschloss, dick aufzutragen und schwärmte ihr von dem artigen, gutaussehenden jungen Ritter vor, in den sich vom Fleck weg alle fánjulaé verlieben würden – wenn er nur die Gelegenheit bekäme, zu den vásposar zu reisen.
„Wenn ich ihm im Stande und Alter näher käme”, plapperte das Mädchen, „also, mir würde Euer Sohn wohl sehr gefallen.”
Die eld-yarlara lächelte mütterlich. Waýreth Althopian räusperte sich, um seine vorwitzige Begleiterin zu bremsen, die sich ohne zu fragen mit ihnen am Tisch niedergelassen hatte. Aber die Dame schien sehr angetan von dem munteren jungen Mädchen zu sein. Diese Freude wollte er ihr wohl nicht verderben.
„Jóndere ist ein guter Sohn”, sagte sie milde. „Es schmerzt mich, dass ich ihn nun schon seit so langer Zeit nicht gesehen habe.”
„Herrin”, sagte Waýreth Althopian, „Ihr seid eine Verwandte von yarl Valeísé, wie ich in Valvivant hörte?”
„Ich bin die Tochter seiner Tante, das ist richtig.”
„Nun”, fuhr der yarl fort, „mir kam zu Ohren, dass Euer Vetter Euch vor nicht allzu langer Zeit Euch hier seine Aufwartung gemacht hatte.”
„Auch das ist richtig.” Sie nickte müde. „Er kam mit seinen Leuten, blieb für eine Nacht und entschied sich dann zur Weiterreise.”
„War er so in Eile?”
„Was hätte er hier länger gesollt?”
Andriér Altabete gab ein bitteres Schnauben von sich, sagte aber nichts. Isan wunderte sich. Worauf wollte Althopian hinaus?
„Wie seid Ihr einst hergekommen, an diesen seltsamen Ort?”, fragte der yarl. „Was hat Euch hierher verschlagen, in dieses traurige Reich?”
„Ich war verliebt”, sagte sie schlicht. „Könnt Ihr das verstehen, Herr Waýreth?”
„Besser, als Ihr denken mögt”, antwortete er. „Ich fragte mich nur, wie Euer hýardor es fertigbrachte, Euch herzuführen.”
„Der Rotgewandete hat ihn auf ein vásposar entsandt”, sagte Altabete bitter. „Er sollte seine hýardora nicht verpassen.”
„Ich verstehe. Und dort hat er sich als großer Favorit hervorgetan?”, forschte Althopian nach.
Die eld-yarlara schüttelte den Kopf. Einen Moment schweifte ihr Blick ins Leere, in eine schöne Erinnerung an einem glücklichen Tag wohl, denn sie lächelte und zugleich begannen ihre Augen feucht zu glänzen. „Oh nein. Fünfmal in Folge haben andere ihn zu Boden gebracht, just dort, wo ich mit meinen Freundinnen am Rand stand, um zuzuschauen. Mein Anblick sei es gewesen, rief er mir beim sechsten Mal zu, der ihn so verwirrt mache, dass er ganz wehrlos würde.”
„Wie charmant!” Isan war entzückt.
„Eines kam zum anderen. Und so führte er mich her.”
„Und habt Ihr hier bekommen, was Ihr Euch erhofft habt? Was Eure Familie sich für Euch wünschte?”, wollte Althopian wissen.
„Ich wäre ihm überall hin gefolgt, Herr Waýreth. Auch an diesen wunderlichen Ort. Solange mein hýardor bei mir war, hat mir die Traurigkeit nichts anhaben können. Nun ist es mir schwerer.”
„Es liegt nicht im Interesse des Rotgewandeten, dass einer von uns Glück findet”, hatte yarl Altabete plötzlich hart ausgesprochen. „Und denen von uns, die bereits Glück hatten, hat er es vorenthalten und weggenommen.”
„Alles wird gut werden, Andriér”, versprach Althopian. „Du wirst bald bei deiner hýardora und deinem Kind sein.”
Nun konnte yarl Altabete seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie rannen ihm über seine entstellte Wange. Einige erreichten die fade Suppe, die man ihnen serviert hatte.
„Was ist Euch, Herr Andriér?”, fragte die eld-yarlara betroffen.
„In meinem Haus sollte ich sein”, brachte er hervor. „Meine hýardora sollte ich umsorgen. Meinen Sohn annehmen in diesem Weltenspiel!”
„Hätte ich ihm das besser nicht erzählt”, murmelte Isan bei sich.
„Was hindert dich, es nun zu tun?”, fragte Waýreth Althopian. Es war offensichtlich, dass er seine Vermutung nur bestätigt wissen wollte.
„Wir sind an die Burg gebannt”, wisperte Altabete. „Wir dürfen nur dann und dorthin gehen, wann und wohin er es erlaubt. Und … wir dürfen die teiranda nicht allein mit ihm lassen! Wir dürfen es einfach nicht. Es würde ein großes Unheil geschehen!”
„Ich werde Euch helfen”, sagte yarl Althopian nach einer Weile und vermied es, den anderen Ritter anzuschauen. „Ich habe es versprochen.”
„Aber was willst du tun?”, rief Altabete aus. „Was kannst du tun, was wir, was unsere Väter vor uns nicht schon gewagt hätten, bevor der verfluchte Lichtwächter kam und uns auf unserem eigenen Land einkerkerte? Denkst du denn, wir hätten es nicht zumindest versucht? Denkst du, wir hätten es einfach so hingenommen, dass dieser rotgewandete Unhold sich in Wijdlant eingenistet hat? Ach, hätte die teiranda es doch nur nie zugelassen!”
„Was ist mit Eurem hýardor geschehen?”, fragte Isan die eld-yarlara leise. „Herrn Andriérs hýardora deutete an, es sei nicht mit rechten Dingen zugegangen.”
Die Dame blickte starr auf den Tisch nieder. „Eines Tages kam sein Pferd ohne ihn von einem Ritt nach Norden zurück “, erklärte sie müde. „Einige Tage später entdeckten Bauern bei der Flachsernte seinen Leichnam im Graben. Wir haben nie erfahren, was geschehen ist.”
„Aber wir können uns denken, wer es war”, fügte Altabete hinzu und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg. „Sein eigenes Eisenzeug hatte ihm alle Knochen zermalmt. Das war wohl kaum das Werk eines streitbaren Gegners.”
„Wie schrecklich!”, gruselte es Isan.
„Nach Norden?”, fragte Althopian. „Er hat versucht, über die Grenze zu kommen?”
„Wenn er uns von seinem Plan erzählt hätte, wir hätten ihn darum bekniet, sich diese Idee aus dem Kopf zu schlagen.”
„Ach, hätte unsere gute teiranda doch nie diesen Mann in ihr Leben gelassen”, setzte die eld–yarlara hinzu. Sie zögerte und reichte dem yarl dann ihr privates Taschentuch hinüber. Der zierte sich einen Moment, es anzunehmen, tat es dann aber doch.
„Was ist damals geschehen?”, fragte Waýreth Althopian. „Was davon darfst du mir sagen?”
„Alles. Es gibt nichts zu sagen.”
„Bei den Mächten!” Waýreth Althopian sprang auf und stemmte die Hände auf den Tisch. „Was soll diese Geheimniskrämerei? Denkst du denn, ich hätte nicht begriffen, dass man euch den Mund verboten hat? Aber wie kann ich euch helfen, wenn ich von euch nichts erfahre?”
„Herr, bitte!” Isan stand auf, stellte sich neben den weinenden Ritter und legte ihm tröstend die Hand auf den Arm. Sie hatte Mitleid mit dem gebrochenen Mann, etwas, angesichts dessen das Mädchen auf Anstand verzichtete. „Ihr seht doch, dass Herr Andriér mit seinen Worten nicht an Dinge stoßen möchte, die über allen anderen zusammenbrechen könnten.”
Waýreth Althopian seufzte. „Versteht doch. Ich muss meinem teirand berichten, was hier in Wijdlant geschehen ist. Was hier vor sich geht und warum niemand davon Kenntnis hat. Wie dieser Gor Lucegath es anstellt, ein ganzes teirandon vom Weltenspiel zu isolieren.”
„Ich werde reden”, sagte die eld-yarlara plötzlich. „Mir hat niemand aufgetragen, zu schweigen.”
Die Herren horchten auf. Isan neigte sich gespannt vor. Geschichten interessierten sie immer.
„Mein Großvater”, begann die Dame, „kämpfte in den Tagen der Chaoskriege verdient und ehrenvoll an der Seite der teiranday von Wijdlant. Er war sogar an der Schlacht von Aurópéa beteiligt.”
Isan schauderte. Das monströse Wandgemälde in Benjus von Valvivants Halle kehrte ihr in den Sinn zurück.
„Die Chaoskriege endeten und alle überlebenden yarlay kehrten in ihre Burgen zu ihren Familien heim. Es war eine Zeit, in der sehr viele Dinge wieder in Ordnung gerückt, geheilt und neu begründet werden mussten. Der teirand von Wijdlant hatte damals einen Sohn, der damals noch zu jung zum Kämpfen war und, den Mächten sei es gedankt, vom Krieg nicht viel erfahren hatte. Dieser Sohn wuchs zu einem gerechten und über alle Maßen beliebten Herrn auf und fand eine edle hýardora. Aber die Mächte vergönnten dem Paar kein langes Glück. Die junge Frau schenkte ihm eine Tochter, aber das Kind überlebte sie in den Tagen nach der Niederkunft. Mehr noch – das Kind war kränklich und es galt gemeinhin als Wunder, dass die neugeborene teirandanja überhaupt am Leben blieb. Aber die Mächte behüteten sie, ließen sie zu einer freundlichen, gutherzigen jungen Frau heranwachsen.”
„Redet Ihr nun von Kíaná von Wijdlant?”, fragte Waýreth Althopian. „Dieser armen Frau, die aussieht, als könne ein Windhauch sie verknicken?”
Die yarlara nickte. Isan runzelte die Stirn, überlegte und begann, an ihren Fingern abzuzählen. Aber sie bekam den Zeitenverlauf nicht in die richtige Reihung. Was zu Zeiten des Großvaters der eld-yarlara geschehen war, passte nicht zum Alter der teiranda. Ebenso wenig, wie es sich nicht fügte, dass unter derselben Kíaná von Wijdlant Jóndere Moréavals Vater der Knappe von Daap Grootplens Vater gewesen sein sollte.
„Die teirandanja wuchs behütet und unbeschwert auf. Der teirand liebte sie über die Maßen und erfüllte ihr jeden Wunsch. Mein Großvater sah sie aufwachsen und mein Vater war damals mit ihr in etwa einem Alter. Als die teirandanja zu einer jungen Frau wurde, etwas älter vielleicht als du, Mädchen, ging der teirand völlig unerwartet hinter die Träume.”
„Oh je, die Arme!”, sagte Isan mitfühlend.
„Etwas über fünfzig Sommer mag das heute her sein”, sagte die yarlara und wandte sich ihrer Suppe zu. „Das ist das, was ich euch erzählen kann. Der Rotgewandete tauchte, wie es heißt, einige Monde nach dem Tod des teirand auf.”
„Fünfzig Sommer? Aber… er…”
Die Herren warteten. Isan legte ihren Löffel beiseite. „Der Lichtwächter müsste ein uralter Mann sein, wenn das stimmt!”
„Niemand weiß”, flüsterte yarl Altabete, „wo er herkam und was er im Schilde führt. Und niemand weiß, was er mit uns macht – und wozu es gut sein mag. Schon mein Vater wusste es nicht. Der Rotgewandete war einfach da. Und nach und nach … nun, Wijdlant veränderte sich. Und nun lasst uns darüber schweigen. Kíaná von Wijdlant altert nicht, und sie stirbt nicht. Wir können es weder verstehen noch ändern. Die Mächte wollen es so.”
„Aber…”
„Waýreth! Wie ich von deiner doayra erfahren habe, hat meine hýardora mir einen Sohn geboren, und ich habe nichts davon erfahren! Ich habe nicht einmal die Zeit bemerkt, die verstrichen ist. In meiner Erinnerung war es allenfalls ein paar Monde her, seit ich bei meiner hýardora lag und sie in den Armen hielt! Ich weiß nicht, wo mein Herz und meine Gedanken sind! Alles verschwimmt, alles verweht vor dem Augenblick! Ich ertrage es nicht mehr! Und so übervoll mein Gemüt damit ist – ich darf es nicht mit dir teilen! Und Ihr, edle yarlara, um Eures Sohnes willen, auch Ihr solltet schweigen. Ich möchte nicht nach Wijdlant zurückkehren und Jóndere nicht mehr vorfinden! Ich halte große Stücke auf Euren Sohn. Herr Daap und ich, wir blicken in die Augen Eures hýardor, immer wenn wir den jungen Mann vor uns haben. Wir müssen einander beschützen, so wie er Euch schützt, indem er den endlosen Hofdienst auf sich nimmt. Spielt nicht mit seinem Leben, indem Ihr zu viel redet!”
Die yarlara erbleichte und wandte sich der Suppe zu. Isan zögerte und setzte sich wieder auf ihren Platz.
„Aber …” Waýreth Althopian wusste sichtlich nicht, was er dazu sagen sollte.
„Ich weiß, du meinst es gut mit uns, Waýreth. Am Ende waren wir es, die dich um Hilfe gebeten haben. Es war falsch von uns, dich mit in diese Angelegenheit mit hinein zu ziehen.”
„Dann müssen wir nicht weiter darüber sprechen”, hatte Althopian brüskiert geantwortet. Und tatsächlich hatte die Mahlzeit in peinlichem Schweigen geendet und außer den üblichen Floskeln war nicht mehr geredet worden.
Am nächsten Morgen hatte die yarlara sie freundlich, aber tief betrübt verabschiedet. Isan hatte die Dame unendlich leidgetan.
„Ich bin sicher”, hatte sie demonstrativ so laut zu ihr gesagt, dass sowohl Althopian als auch Altabete es gehört hatten, „dass mein Herr Wijdlant aus seiner Not retten wird.”
Daraufhin hatte Althopian kein einziges Wort mehr mit ihr geredet, bis jetzt, da sie im Licht ihrer Laternen am Grenzstein des yarlmálon Moréaval standen und der Moment des Abschieds nahte. Links und rechts des Weges ging der Rain eines Hanffeldes in sandiges Grasland über. Grillen zirpten in der Wiese gleich hinter dem Stein. Zwischen Wolkenfetzen leuchtete ihnen der Mond voraus.
„Es tut mir leid, Waýreth”, sagte Altabete. „Ich hätte dir gerne so viel erzählt. Ich hätte dir zeigen wollen, wie es um uns steht und was mich hier hält. Aber du hast ihn gesehen. Du weißt, was geschehen ist. Es wäre lächerlich zu glauben, dass wir uns gegen den Magier zur Wehr setzen können. Wenn ich zu viel sage … meine hýardora, meine geliebte Dame. Mein Sohn. Du magst es verstehen.”
„Was ist mit dem Schattensänger?”, fragte Isan beherzt.
„Hast du nicht schon viel zu viel geredet, Mädchen?”, fragte Althopian finster.
„Dann kommt es auf ein paar Worte mehr nicht mehr an. Außerdem: Ihr wart es, der wegen des Schattensängers von Benjus von Valvivant losgeschickt wurdet und selbst seine Spur aufnehmen wolltet.”
„Das tue ich doch auch! Wir werden ihm in dem Augenblick begegnen, in dem es geschehen soll!”
„Herr, ich habe den Mann gesehen! Was immer mit ihm passiert ist, es wäre ein Wunder, wenn der Schwarzmantel noch lebt!”
„Was für ein Schattensänger?”, fragte Andriér Altabete verständnislos.
Verwirrt wandten die beiden sich ihm zu.
„Dem Schattensänger, den Gor Lucegath in Wijdlant gefangen hält natürlich”, sagte Isan. „Der, für den Ihr mir das Wasser und den Essig gebracht habt.”
„Waýreth, was redet das vorlaute Mädchen da für ein wirres Zeug? Wie sollte man einen Schwarzmantel gefangen nehmen?”
Isan öffnete protestierend den Mund, aber Althopian brachte sie mit einem mahnenden Blick zum Schweigen.
„Bis bald, mein Freund”, verabschiedete er sich. „Sieh zu, dass du den Rotgewandeten nicht zu lange warten lässt. Wir sehen uns bald und unter besseren Vorzeichen wieder.”
Die Ritter grüßten einander. Dann wendete Altabete sein Ross und trabte südwärts davon. Hätte er zu seiner Dame, zu seinem Sohn und seinem Zuhause gewollt, hätte er sich nach Westen wenden müssen.
Althopian trieb sein Ross über die Grenze voran. Isan blickte einen Augenblick von einem zum anderen und beeilte sich dann, ihrem Herrn zu folgen.
„Aber Ihr wusstet doch von dem Schattensänger!”
Waýreth Althopian würdigte sie keiner Antwort. Isan seufzte und ließ den Kopf hängen.
„Du solltest niemandem etwas versprechen, das ich womöglich nicht halten kann”, sagte er nach einer Weile.
„Ich bin sicher, dass Ihr Euer Bestes geben werdet. Auch wenn ich nicht weiß, was Ihr vorhabt.”
„Glaub mir, es ist besser, wenn du es nicht weißt. Ich müsste Angst haben, wer es sonst noch erfährt.”
„Haltet Ihr mich für eine Plaudertasche?”
„Ja.”
Nun war sie für einige Zeit beleidigt. Aber lange still sein konnte sie deswegen nicht.
„Wohin reiten wir genau?”, fragte sie.
„Du reitest zu meiner Burg und bleibst dort artig, bis du anderes von mir hörst.”
„Und Ihr?”
„Ich begebe mich ohne Umweg zu meinem Herrn.”
„Ich frage mich, ob Euer teirand nicht viel größeren Bedarf an einer doayra hat als Ihr. Ich denke, ich sollte das erkunden, bevor ich meinen Dienst in Eurem Haus antrete.”
„Daran kann ich dich nicht hindern. Zu meinem größten Bedauern.”
Sie schaute gekränkt zu ihm hinüber. Aber er lächelte.
„Danke”, sagte er. „Danke, dass du so hartnäckig mit mir bist.”
„Und was tun wir bei Asgaý von Spagor?”
Nun verdüsterte sich seine Miene. „Wir haben ein wenig Zeit, bis der Schattensänger in Erscheinung tritt. Bis dahin können wir nichts anderes tun, als zu warten.”
***
Ich erwachte in der ersten grauen Morgendämmerung ganz allein. Gegen Ende der Nacht hatte ich entsetzlich geträumt. Ich erinnerte mich nicht mehr an Einzelheiten. Aber mir war im Gedächtnis geblieben, dass Yalomiro und die schwarze Gestalt mit dem leuchtenden Stab aus dem grässlichen Wandgemälde in Benjus von Valvivants Thronsaal irgendwie miteinander verschmolzen waren. Dann war eine furchtbare Katastrophe geschehen. Es war ein äußerst beunruhigender, beklemmender, bedrohlicher Traum gewesen.
Die Matratze neben mir war kalt. Auf dem Laken waren die Reste der Salbe steinhart eingetrocknet. Ich schreckte hoch und spürte einen starken, dumpfen Schmerz im Unterleib. Ich keuchte und musste einen Moment innehalten. Was war das?
Yalomiro! Wo war er?
„Yalomiro?”
Ich setzte mich auf und blickte mich um. Der Fensterladen war geöffnet. Draußen wurde es hellgrau unter dem unbeweglichen Himmel.
„Yalomiro!”
Seine Kleider waren fort. Ich erhob mich hastig und schrie auf. Ich war in etwas Kantiges, Scharfes hineingetreten. Auf dem Bettvorleger lagen lauter schwarze, glänzende Scherben. Was war das?
„Yalomiro!”
Er ist fort. Du hast tagelang geschlafen.
Arámaú hatte sich auf dem Stuhl auf der anderen Seite neben dem Bett zusammengerollt und blinzelte mich träge an.
„Was heißt das – fort?”, fragte ich tonlos.
Er ist losgezogen, um das ay’cha’ree zu bergen. Mögen die Mächte geben, dass er weiß, was er tut.
Ich ließ mich wieder auf der Bettkante nieder. Durch das hastige Aufstehen geriet mein Kreislauf ins Trudeln. Dabei entdeckte ich den zerbrochenen Geigenbogen auf dem Teppich. Mir wurde eiskalt, als ich begriff, was die Scherben einmal gewesen waren.
Arámaú erhob und rekelte sich und sprang zu mir aufs Bett. Schweigend setzte sie sich neben mit und legte dabei den Schwanz sorgsam um die Vorderpfoten. Ich hob den Bogen auf.
Sie wartete einen Moment.
Als er seine Geige erschaffen hat, erzählte sie nach einer Weile leise, war ich noch ein Kind. Eines Tages kam er mit einer Schere zu mir, verwandelte sich in ein Pferd und bat mich, ihm eine Strähne von seinem Schweif für den Bogen abzuschneiden. Meister Gíonar hat furchtbar mit uns geschimpft, als er das herausgefunden hat. Er fand, es sei Noktáma gegenüber lästerlich, für so etwas Törichtes Magie zu verschwenden.
„Hat … Yalomiro das hier etwa selbst getan?”
Ja. Meister Gor hat ihm keine Wahl gelassen.
„Aber …”
Es ist geschehen, Ujora. Es ist vorbei. Es war nur ein Spielzeug, das entzweiging. Es war nie mehr als das.
„Das verstehst du nicht”, schluchzte ich. Ich hob den Bogen auf, umklammerte ihn mit beiden Händen und ließ meinen Gefühlen freien Lauf. Was wusste Arámaú schon? Wo war sie überhaupt gewesen, nachdem sie mich und Isan so überstürzt verlassen hatte, einfach wieder einmal weggelaufen war? Für sie mochte die Geige ein verzauberter Gegenstand unter vielen sein, vielleicht eine amüsante Erinnerung. Für mich war es unerträglich, sie in Trümmern zu sehen. Die camatay’ra wartete schweigend, bis ich mich etwas beruhigt hatte.
Nach einer Weile kniete ich nieder und begann, die schwarzen Holzscherben einzusammeln.
Ich würde es gern verstehen, Ujora.
Ich blickte auf. Ihre grünen Katzenaugen waren ratlos, so … mitfühlend.
„Arámaú”, brachte ich schließlich zaghaft hervor, „hast du jemals … hast du einmal mit Yalomiro getanzt?”
Sie schaute mich ratlos an. Getanzt?
Ich weinte leise weiter und sammelte schwarze Scherben vom Teppich. Nach einer Weile spürte ich ihre Pfote sacht auf meinem Arm.
Warum bittest du yarl Moréaval nicht einfach um ein Töpfchen Leim?
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