Ich hatte einige Stunden an der spaltbreit geöffneten Tür auf der Lauer gelegen, bis Jóndere Moréaval auf dem Korridor vorbei gekommen war. Vielleicht hätte ich auch einen der anderen Herren bitten können, aber Andriér Altabete ließ sich nicht blicken, und Daap Grootplen war nicht allein, als er einmal den Gang passierte. Davon abgesehen war Arámaú der Ansicht, dass der liebenswürdige junge Ritter meinem Wunsch am ehesten nachkommen würde. Immerhin hatte er auch keine Hemmungen gehabt, mich mit einem Haustier zu beschenken. Einer der yarlay, setzte sie hinzu, würde sich zudem niemandem erklären müssen, wenn abseits von Nahrung und gewaschener Wäsche Dinge in meine Stube gelangten.

Ich hatte dem Ritter wortreich mit Händen und Füßen erklärt, dass mir ein Missgeschick geschehen war. Dazu hatte ihm eine der leeren Blumenvasen präsentiert, die ich eigens zu diesem Zweck zerbrochen hatte. Mir war nicht klar, inwieweit er realisierte, was ich von ihm wollte, denn seine Stimme hinter seinem verwischten Gesicht war nach wie vor ein unverständliches Flüstern. Doch dann hatte der junge Mann mir gleich zwei verschiedenartige Leime mitsamt einer Reihe von feinen Pinselchen besorgt. Um den Schein zu wahren, musste ich einen Teil der Zeit nun natürlich auch auf die Keramik verwenden, aber die Geige wuchs schneller wieder als das Gefäß. Einige Tage hatte ich auf diese Weise bereits mit dem anspruchsvollen Puzzlespiel verbracht.

Ich musste mir eingestehen, dass ich Arámaús Gegenwart genoss. Ab und zu brach sie zu Erkundungen auf, von denen sie rasch wieder zurückkehrte. Betraten die Wäsche- oder Küchenmägde das Zimmer, verschwand sie unter dem Bett.

Die Schattensängerin hatte sich auf eine seltsame Weise verändert. Sie benahm sich weniger abweisend und feindseliger, geduldiger als zuvor. Wenn sie mit mir sprach, hatte ich nicht länger das Gefühl, zurechtgewiesen, angegriffen und belehrt zu werden. Das tat mir gut. Ich fühlte mich nicht mehr so allein, seit Arámaú zugänglicher geworden war. Wir sprachen es beide nicht aus. Aber ich vermutete stark, dass Yalomiro ihr irgendwie ins Gewissen geredet hatte, freundlicher zu sein.

Ich hatte es nie gut vertragen können, wenn jemand unwirsch oder verärgert über mich war. Und so bemühte ich mich, Arámaú keinen Grund zum Groll zu geben. Wir rauften uns zusammen.

Yarl Moréaval ist ein freundlicher Mensch, sagte Arámaú. Sie lag wie üblich auf meinem Kissen und beobachtete mich mit ihrem undurchschaubaren Jadeblick. Immer, wenn ich ihn sehe, spüre ich, welche Sehnsucht ihn mit seiner Mutter verbindet. Wie er versucht, die Leere auszufüllen, die sein Vater hinterlassen hat. Wie schade, dass der Rotgewandete den aus dem Weg geräumt hat, bevor er etwas bewirken konnte. Herr Jóndere war damals noch ein halber Knabe, viel zu jung für diese Verantwortung.

„Bewirken?”

Die camatay’ra seufzte. Moréavals Vater hatte versucht, Wijdlant gen Norden zu verlassen, als die teiranda ihn einmal zu seiner hýardora gelassen hatte. Er wollte Hilfe holen, wahrscheinlich im teirandon Spagor oder dem benachbarten yarlmálon Ferócrivé. Er hätte wissen müssen, dass er die Grenze nicht an Gor Lucegath vorbei passieren kann. Schade um ihn. Er war ein ehrbarer, mutiger und leider auch äußerst leichtsinniger Mann.

„Vielleicht war er verzweifelt.”

Auch das.

„Wie hast du das ausgehalten?”, fragte ich. „Du steckst in diesem Körper fest und du hast so viele Menschen sterben sehen….”

Ich habe immer nur die teiranda und den Rotgewandeten als Maßstab betrachtet. Was das betrifft, ist gar keine Zeit vergangen. Die Unkundigen … nun ja. Blätter im Wind. Bunt und einzigartig, aber schnell vorüber und aus dem Blick.

„Du bist also auch … unsterblich?”

Nein. Der Katzenkörper ist verwundbar. Wenn mich ein Hund erwischt oder ein Pferd zwischen die Hufe bekommt oder ich auf den hohen Zinnen ausrutsche, bin ich dahin.

„Alterst du denn?”

Ich weiß es nicht. Nie zuvor hat ein Schattensänger mehr als ein paar Tage in Folge eine Verkleidung getragen. Sie versank einen Moment in Gedanken. Ich hoffe, dass mich diese Gestalt zumindest noch für eine kurze Weile jung und stark genug erhalten hat, wenn … sobald es darauf ankommt.

„Ist die teiranda auch … verwandelt? Wie kommt es, dass niemand sich über die lange Lebenszeit wundert? Das muss schließlich in den anderen teirandon irgendjemandem aufgefallen sein. Es gibt doch sicher in irgendeiner Form diplomatische Beziehungen. “

Dass die teiranda verwunschen ist, ist dir also noch gar nicht aufgefallen?

„Nun ja. Sie ist sehr exzentrisch. Aber immerhin hat sie ein Gesicht und ich kann verstehen, was sie spricht.”

Wenn es nur das ist, sagte Arámaú in einem so ironischen Ton, dass ich von meiner Arbeit aufblickte. Aber sie schien nicht die Absicht zu haben, das Thema zu vertiefen. Das machte mich nachdenklich. Meine Vermutung war gewesen, dass die teiranda an einer psychischen Erkrankung litt, die ihr weltverlorenes, impulsives Verhalten erklärte. Sollte doch mehr dahinter stecken? Ich fügte eine Scherbe ein. Das sacht schabende Geräusch, das die Fragmente der Geige dabei machten, war seltsam befriedigend. Arámaú schaute mit sinnendem Blick zu,

Wir wissen nicht, welche Worte der Rotgewandete den yarlay in den Mund zwingt, sobald sie sich außerhalb von Wijdlant zeigen dürfen. Ich habe in all den Wintern nicht begriffen, in welche hochkomplizierten Zauber er die Herren eingewoben hat. Ich könnte mir denken, dass es von außen so erscheint, als sei die teiranda ihre eigene Tochter und Enkelin. Niemand kommt auf den Gedanken, sie zu hinterfragen.

„Meister Gor zaubert sehr seltsame Dinge, nicht wahr? Ich meine … es ist etwas anderes, alle Menschen dazu zu bringen, sich für eine Illusion nicht zu interessieren, als ein Kaninchen aus dem Hut zu zaubern.”

Warum sollte jemand ein Kaninchen aus einem Hut zaubern?

„Weil … ach, vergiss das.”

Sie setzte sich auf und streckte sich. Der Kern des Zaubers ist Pianmurít. Natürlich haben wir camat’ay in unserem Entsetzen darüber gesprochen, als wir erkannt haben, dass sich eine ganz und gar unbegreifliche Magie in Wijdlant ausgebreitet hat wie … ja, wie ein Pilz. Selbst unsere Meister haben nicht verstanden, was er dafür benutzt hat. Es ist so fremd, ganz anderes als die Zauber, die die goala’ay normalerweise wirken.

„Was heißt das?”

Er muss irgendwann den Zugang zu etwas entdeckt haben, das aus den Grenzen herausfällt, die die Mächte gesetzt haben. Es ist… widersprüchliche Magie. Solche, die sich nicht an die Regeln des Weltenspiels hält.

„Das gibt es?”, fragte ich beunruhigt. Vor noch nicht allzu langer Zeit hatte ich jegliche Magie für widersprüchlich gehalten. Aber dass es Magie gab, die selbst Magier nicht verstanden, war mir unheimlich.

Offensichtlich.

„Was sind denn eigentlich die Regeln des Weltenspiels? Isan – die doayra, die hier war –hat es mir nicht richtig erklären können.”

Kein sterbliches Wesen wird es dir erklären können.

„Aber ich will es mir vorstellen können. Spielen die Mächte gegeneinander? Welchen Sinn hat ein Spiel, wenn niemand gewinnt?”

Das Spiel ist sein eigener Sinn.

„Wird das den Mächten denn nie langweilig?”

Es verändert sich ständig. Immer ist etwas neu daran. Arámaú setzte sich nieder und betrachtete sinnend die Scherben auf dem Tisch.

„Wie kann sich etwas verändern, wenn die Mächte Spielregeln haben?”

Die Mächte haben die Regeln. Alles, was lebt, hat Seele. Die meisten Leute haben eine den Mächten gefällige. Andere, wie der Rotgewandete … nun, mögen die Mächte dereinst herausfinden, was von der seinen noch zu halten ist.

„Ich glaube, ich bin zu dumm, um das zu verstehen.”

Du musst es nicht verstehen. Wichtig ist nur, dass das Spiel nicht endet oder gestört wird.

„Gestört?”.

Arámaú machte einen Satz auf den Tisch und stieg elegant zwischen die Scherben. Dann schob sie, provozierend langsam, wie es nur eine Katze kann, mit der Pfote eine davon an die Tischkante.

So, sagte sie und stupste das Bruchstück hinab. Ich konnte es zum Glück auffangen. Es gibt eine ganze Reihe an Wegen, ein Spiel zu beenden, ohne dass jemand gewinnt. Man könnte die Figuren durcheinanderwerfen. Oder eine vom Brett stehlen. Oder schlicht alles kaputt machen.

„Warum … nein: Wer sollte das tun? Und warum?”

Niemand. Und aus keinem Grund. Das Weltenspiel ist unergründlich, Ujora. Und die Mächte haben dafür gesorgt, dass niemand es stören kann. Sie sprang vom Tisch herunter und schritt würdevoll hinüber zur Tür. Und nun entschuldige mich. Ich habe zu tun. Und du solltest dich zur Ruhe legen. Es wird zu dunkel für deine Augen. Es wäre schade, wenn du einen Fehler machtest.

Sie hatte recht. Ich verschloss den Leimtopf, reinigte den Pinsel und stellte das Tablett mit den Geigenscherben vorsichtig in meine Truhe. Das andere mit der Vase nahm ich heraus und stellte es demonstrativ auf den Tisch, wo es morgens jeder sehen konnte, der den Raum betrat.

„Tust du mir einen Gefallen, Arámaú? Kannst du bei Gelegenheit unauffällig herausfinden, wie es der teiranda geht? Ich habe sie seit Tagen nicht gesehen.”

Arámaú antwortete mir nicht. Ich öffnete die Tür einen Spalt weit. Sie schlüpfte rasch hinaus und schlich ihrer Wege.

Ich setzte mich ans Fenster. Der Abgrund davor war bei Dunkelheit erträglicher. Ich stellte mir vor, in einem Hochhaus zu sitzen. Irgendwo über der massiven Wolkenglocke zog der Mond langsam über Wijdlant hinweg. Weit, weit unten flackerten einige Fackeln und Laternen auf dem Burghof. Der Gedanke, dass Yalomiro lebte, Gor Lucegath entkommen war und nun ebenfalls irgendwo saß und den Mond anschaute, hatte etwas Tröstendes.

Auf meinem Kissen lag der zerbrochene Bogen. Ich griff danach und streichelte die ausgefranste Bespannung. Das schwarzglänzende Pferdehaar war die einzige Verbindung, die ich noch zu ihm hatte.

***

Sie begegneten einander in einem Zustand tiefster Ruhe und Konzentration. Arámaú hatte der Unkundigen nicht verraten, dass ihnen das möglich war. Dies waren Momente, die ihr und ihm allein gehörten. Ihr Geheimnis. Das wollte die Schattensängerin sich nicht verderben, indem sie konfuse Botschaften der fánjula mit hinein trug.

Das Mondlicht, das den Bannzauber von Pianmurít durchbrechen konnte, war schwach und schal, aber es reichte aus, um sich darauf zu fokussieren, die Gedanken daran auszurichten. Yalomiro hatte den Mond über dem Meer, klar und kühl, für sie beide. Sie spürte das Wasser durch seinen Geist hindurch und war ihm unendlich dankbar für dieses kleine, beiläufige Geschenk. Wasser, so viel reines, gutes Wasser. Wie wohltuend, wie köstlich, nachdem sie all die Winter nur den blinden Burggraben und ab und zu den trüben Regen gehabt hatte, der sie schmerzlich an ihre alte Macht erinnert hatte. Wie sehr vermisste sie den schönen dunklen See und das nächtliche Raunen der Bäume unter den Sternen.

Arámaú saß auf den Zinnen und schaute nordwärts, ohne etwas zu sehen. Zu sehen würde nur ablenken. Aufmerksam lauschte sie dem, was der Schattensänger von seiner Reise berichtete.

Du musstest ihm versprechen, dich in nichts einzumischen!

– Er hat geahnt, dass ich Unkundige für einen Dienst entlohnen muss. Ist es denn meine Schuld, dass dieser Unkundige kein Geld will, um mir zu helfen?

Es geht nicht gut, wenn unseresgleichen Unkundigen zu nahe kommt! Meister Gíonar würde sich die Haare raufen und Noktáma anrufen, warum sie unseresgleichen mit dir und deinem Eigensinn gestraft hat.

Sie wusste, dass er nun lächelte. Sie tat es auch. Wie oft hatten sie beide den gestrengen Meister an den Rand seiner Geduld getrieben. Wie weit fort waren diese unbekümmerten Tage.

Versprich mir, dass du es nicht zu weit treibst.

– Ich bin mir bewusst, was ich tue. Aber du kennst meine Wissbegierde, Arámaú. Es muss einen Grund dafür geben, warum ich mich aus den Geschäften der Unkundigen heraushalten soll. Irgendwelche Fäden hat er auch hier gesponnen. Sei unbesorgt. Ich werde mich aufs Zuhören beschränken. Ich mische mich nirgends ein. Vorerst. Was immer in Spagor geschieht, es hat keine Eile.

Und du brauchst tatsächlich ein Schiff?

– Ja. Das Meer wirft keine Schatten. Und das Chaos ist zu weit weg, als dass ich dorthin fliegen könnte. Wenn der Fischer mich so nah wie möglich heranbringt, soll es reichen.

Und an den Grenzen des Chaos, was machst du dort?

– Schwimmen.

Arámaú seufzte. Wieso hast du das Artefakt nicht an einem harmlosen Ort versteckt? An einem, wo ich keine Furcht haben muss, dass das Meer dich verschlingt?

– Ich habe den Ort nicht selbst gewählt. Noktáma hat das ay’cha’ree verborgen. Sie hätte es nicht unerreichbar für mich gemacht.

Ich hoffe, Noktáma weiß, was sie im Weltenspiel mit dir vorhat.

– Was höre ich da für lästerliche Gedanken? Was haben wir an Noktámas Willen anzuzweifeln? Was würde Meister Gíonar von dir denken?

Hör auf, mich zu aufzuziehen, Yalomiro. Ist es anmaßend, sich zu fragen wie wir zwei meisterlose Schüler zu dem gekommen sind, was heute ist? Zu fragen, mit welchen unlauteren Tricks das Weltenspiel sabotiert wird, mit uns mitten darin … und … mit deiner Unkundigen, die all dies geduldig erträgt?

Er antwortete ihr nicht. Einen Augenblick lang dachte sie, sie habe seinen Geist verloren.

– Verändert sie sich bereits?

Nein. Sie ist arglos wie zuvor. Vielleicht muss etwas Besonderes geschehen, damit die Leere von Pianmurít sie ergreift. Oder es geschieht gar nichts, weil sie durch ihre Geburt außerhalb dieser Welt davor gefeit ist. Das würde dem Rotgewandeten nicht gefallen.

Wieder schwieg er.

Ich gebe gut auf sie acht, Yalomiro. Ich werde nicht zulassen, dass ihr etwas zustößt, solange ich es verhindern kann.

– Ich könnte mir keine bessere Freundin an ihrer Seite vorstellen als dich.

Freundschaft … was mag das sein. Ist es für die Unkundigen dasselbe wie für uns?

– Was ist es denn für uns?

Ich … ich weiß nicht. Es ist…

Sie unterbrach sich und hob den Kopf. Jemand kam, und es wurde kalt.

– Geh! Versteck dich.

Er hatte es auch gespürt, wo immer er jetzt gerade sein und das Mondlicht trinken mochte. Arámaú sprang von der Mauer und huschte hinüber in den nächstgelegenen Erker des Wehrgangs.

Der Rotgewandete hatte sie bemerkt, das stand außer Frage. Sie konnte seinen Blick unter der Maske leiblich spüren. Er wusste, dass sie hier war! Aber hatte er sie als das erkannt, was sie war?

Bei den Mächten, hatte er etwa das lächerliche bisschen Magie gespürt, das durch ihre Gedanken geflossen war, und kam nun, um nachzuschauen?

Sie wich rückwärts in die Nische zurück. Mit klopfendem Herzen kauerte sie sich zusammen und flehte, dass er sich nicht weiter für sie interessieren und vorbeigehen möge.

Quälende Augenblicke verstrichen, ohne dass sich etwas tat. War er in die andere Richtung weitergegangen? Sie konnte es nicht sagen. Die Kälte, die ihn einhüllte, saß auf dem Wehrgang fest wie ein zäher Nebel. Sie wartete noch einen Moment und tastete sich dann wachsam wieder voran. Zaghaft spähte sie um die Ecke.

Gor Lucegath stand keine Schnurrhaarlänge von ihr entfernt und fixierte sie mit seinem marmorgrauen, prüfenden Blick.

Arámaú zischte instinktiv. Sie spürte, wie ihr Schwanz buschig wurde. Der Rotgewandete ging vor ihr in die Hocke, ohne sie aus den Augen zu lassen.

Wenn er mich anfasst, werde ich auf der Stelle sterben, zuckte es durch ihre Gedanken. Wenn er mich erkannt hat, dann war es das für mich mit dem Weltenspiel!

Aber der goala’ay berührte sie nicht. Stattdessen öffnete er seine Faust vor ihren Augen. Auf seiner Handfläche saß eine magere, struppige Maus.

„Es gibt Geziefer in diesen Mauern”, sagte er heiter. „Hast du davon gewusst, Kätzchen?”

Er ließ die Maus zu Boden. Das Nagetier lief schnurstracks auf sie zu. Arámaú hob abwehrend ihre Pfote, um es wegzuwischen. Aber die Maus schnupperte mit bebender Nase in die Luft, setzte sich auf und fiepte.

Der Rotgewandete erhob sich und lehnte sich gelassen mit der Schulter an die Mauer. Wortlos betrachtete er die beiden Tiere, die einander anstarrten.

Arámaú fuhr ihre Krallen aus und wieder ein. Die Maus glotzte sie an, glasigen Auges und völlig ohne Furcht.

„Erstaunlich”, redete der Magier ruhig weiter. „Es ist überraschend, wo es enden kann, wenn man nur ein wenig nachlässig mit seinen Pflichten wird. Dann breitet sich die Plage schneller aus, als man denken sollte.”

Was sollte das? Was bezweckte er? Wusste er, zu wem er redete – oder zumindest, dass er nicht mit dem sprach, wonach es aussah?

Die Maus trippelte auf Arámaú zu. Ihr Piepsen wurde zu einem langgezogenen Pfeifen. Sie war so unerschrocken, dass Arámaú ein paar Schritte rückwärts gehen musste, um nicht von dem dreisten Nager niedergerannt zu werden.

„Andererseits nimmt es einen auch nicht weiter Wunder, wenn die Dinge aus dem Ruder laufen und man nicht mehr recht weiß, wem man trauen darf. Nicht wahr, Kätzchen?”

Die Maus tanzte nun regelrecht vor ihren Pfoten. Arámaú schauderte und schloss die Augen.

Dann schnellte sie vor, fegte das Tier beiseite und mit einem Hieb in die Luft. Bevor die Maus noch zu Boden prallte, hatte Arámaú sie geschnappt und zugebissen. Zwischen ihren Kiefern knirschte es und Ekel traf sie mit Wucht ein Schwall.

Der Rotgewandete lachte amüsiert. „Sehr gut, Kätzchen. Es ist gut, dich in der Nähe zu wissen. Streng dich nur noch etwas mehr an mit der Jagd, kleines Tier.”

Bei den Mächten! Was nun? Erwartete er etwa, dass sie die Maus vor seinen Augen auch noch verzehrte? Arámaú ließ den winzigen Köper fallen, befahl sich den Mächten und begann dann, ihn mit den Pfoten verspielt hin und her zu schleudern. Verbissen versuchte sie, dabei recht drollig auszusehen, eine possierliche Katze in ihrem grausamen Jagdspiel, eine Katze, wie sie zu Dutzenden die Burg bevölkerten. Als der Magier sich nicht rührte, packte sie die tote Maus und trabte damit von dannen. So brachte sie einige Schritte zwischen sich und den Rotgewandeten.

Gor Lucegath lächelte und wandte sich endlich ab. Arámaú zwang sich, zu warten.

Dann spuckte sie aus, schüttelte sich und schnappte nach Luft, überwältigt von Übelkeit und Scham. Wie tief war sie für ihre bescheidene Maskerade gesunken! Es war ihr nichts anderes übrig geblieben, als zu tun, was eine echte Katze angesichts dieser Verlockung getan hätte. Dieses Knirschen und der Geschmack von warmem Pelz auf ihrer Zunge, dieses weiche Ding in ihrem Mund würde sie in ihren Träumen heimsuchen.

Die Maus lag vor ihren Pfoten. Die dunklen Knopfaugen schauten gebrochen und anklagend zu ihr auf. Sie hatte getötet.

Es tut mir so leid, wisperte die camatay’ra. Ich hatte keine andere Wahl.

Sie überwand sich, hob den kleinen Kadaver auf und trug ihn hinauf auf das Dach des Erkers. Dort war er dem Rotgewandeten aus den Augen, und eine Krähe mochte sich über die Speise freuen. So hatte das Mäuslein nicht umsonst sein Leben lassen müssen.

Und nun? Hatte sie den Rotgewandeten tatsächlich glauben machen können, dass sie nichts weiter war als eine harmlose, struppige Burgkatze? Was bei den Mächten sollte das?

Sie kletterte wieder hinab auf den Wehrgang und suchte nach ihm. Sie musste Gewissheit haben, bevor sie etwas anderes tat.

Die camatay’ra umrundete fast die ganze Burg, bis sie Gor Lucegath entdeckte. Er saß mit angezogenen Beinen auf der Mauer, die Arme auf den Knien. Er regte sich nicht. Aber seine Maske hielt er locker in der Hand, und in der anderen das gezogene, das furchtbare Schwert.

Arámaú verbarg sich im Schatten und beobachtete den Lichtwächter einen Moment irritiert, als der seine Waffe hob und gedankenverloren eine Weile betrachtete. Dann ließ er das Schwert kraftlos sinken. Leise schabte die Klinge über den Stein.

Arámaú zuckte verwirrt mit ihrer Schwanzspitze.

Gor Lucegath seufzte tief. Dann gab er sich einen Ruck und setzte die Maske energisch wieder auf sein Gesicht. Für einen Wimpernschlag schien der Magier zu erschaudern. Dann erhob er sich, steckte das Schwert zurück in die Scheide und wandte den Blick nach Norden.

Auch Arámaú schauderte. Was den Rotgewandeten dort oben hingetrieben hatte, wagte sie in dieser Nacht nicht weiter zu ergründen. Nach Yalomiros Geist suchte sie nicht mehr. Das war zu gefährlich.