
Isan hatte geschlafen wie ein Stein, bis zum Mittag des nächsten Tages. Angekommen waren sie am Vorabend auf der Burg der Herren von Altabete, zwei Tage, nachdem sie die Grenze überschritten hatten. Dass es so lange gedauert hatte, lag daran, dass sie einen weiten Umweg geritten waren. Die Brücke über den Fluss, den der yarl ursprünglich hatte benutzen wollen, war auf eine recht kuriose Weise beschädigt gewesen. Es schien, als sei ein Stück des steinernen Brückenbogens einfach senkrecht aus dem Bauwerk gebrochen und ins Wasser gestürzt. Dort, wo die Trümmer nun vermutlich in der Tiefe lagen, hatten sich Wirbel im Fluss gebildet.
Trotzdem waren sie auf den Überweg geritten, um den Schaden aus der Nähe zu betrachten. Einen Moment lang hatte Isan die vielleicht gar nicht so abwegige Befürchtung gehabt, der Ritter schätze ab, ob er seinem Ross einen so weiten Sprung zumuten konnte. Doch Waýreth Althopian, so kühn und kaltblütig er sein mochte, verrückt war er nicht.
„Warum lässt er das nicht reparieren?”, hatte er gemurmelt, während sie lange Zeit auf der Suche nach einer seichten Stelle oder einem Fährmann am Ufer entlang geritten waren, zu ihrer linken die lieblichen Hügel von Valeísé, rechts das neblige Marschland jenseits des Flusses. Isan wunderte sich über die seltsame Wetterscheide, die der Strom zu bilden schien, denn über den Hügeln rissen die Wolken auf und der Tag war heiter.
„Vielleicht ist es erst kürzlich passiert. Vielleicht ist der Blitz eingeschlagen.”
Er antwortete nicht, aber auch sie glaubte nicht wirklich daran.
Stunden später hatten sie tatsächlich am anderen Ufer ein Fährboot entdeckt. Es handelte sich um ein stabiles Floß, mit einem dicken Tau gesichert, das stramm über den Fluss gespannt war. Offensichtlich war es dazu bestimmt, Ross und Reiter über das Wasser zu holen. Als sich auf Althopians lautes Rufen aber keine Fährleute zeigten, legte der Ritter kurz entschlossen das Metall ab, das er am Körper trug, schwamm hinüber und bediente sich selbst. Für einen Mann allein war es nicht leicht, das Floß gegen die starke Strömung zu ziehen. Es dauerte eine Weile, bis er zuerst sein Pferd, dann das Maultier und zuletzt Isan und seine Rüstung übergesetzt hatte. Danach war er so ermattet gewesen, dass sie eine ganze Weile Rast machen mussten.
Isan fröstelte. Es war klamm jenseits des Flusses, erstaunlich kühl und ungemütlich. Wie lieblich wirkte von hier aus das teirandon, das sie gerade verlassen hatten. Das Mädchen schaute sehnsüchtig zurück ans andere Ufer.
Den Weg zur Burg wiesen ihnen verwitterte Wegsteine mit dem Wappen der Familie Altabete, einem schlanken Baum, gegen den ein Widder anrannte. Die Straße hatte sie zwischen Feldern hindurchgeführt, auf denen die Bauern Kohlgemüse und irgendein Getreide anbauten. Die Halme waren noch nicht hoch genug gewachsen, sodass selbst Isan als mit Pflanzen vertraute doayra nicht sagen konnte, um was es sich letztlich handelte. Es erschien ihr auch reichlich spät im Jahr für noch aufschießendes Korn, aber vielleicht hatte yarl Altabete einfach Pech mit seinen Böden und seinem ungemütlichen Klima. Die Männer und Frauen, die auf den Feldern und Gärten am Wegesrand arbeiteten, schauten mit wenig Interesse auf, als sie und der Ritter vorbeikamen. Man wies ihnen halbherzig den Weg zur nächsten Straße mit einer Herberge. Als sie diese am Abend erreichten, fanden sie das Gebäude verwaist. Offenbar war seit langer Zeit hier niemand eingekehrt. Bis auf die hölzernen Möbel und etwas Hausrat war nichts da, was darauf schließen ließ, das hier kürzlich noch Gastbetrieb gewesen sein mochte.
„Warum auch”, hatte Althopian gemeint. „Wenn die Brücke nicht passierbar ist, kommen auf dieser Straße keine Reisenden vorbei. Die Wirtsleute werden sich ein anderes Auskommen gesucht haben.”
„Man hätte uns darauf hinweisen können.”
„Vielleicht war es ihnen egal.”
„Und nun? Sollen wir weiter ins nächste Dorf reiten?”
„Nein. Das hier ist zumindest ein festes Dach. Ich möchte nicht vom Regen überrascht werden.”
Mit diesen Worten hatte er sich auf die Suche nach Feuerholz begeben, tatsächlich hinterm Haus ein paar vergessene Scheite gefunden, so mürbe und schlecht gelagert, dass er sie mit seinem Schwert zerkleinern konnte. Das Feuer, das sie im Kamin angefacht hatten, hatte unangenehm gequalmt und kaum gewärmt. Proviant und Wasser hatten sie zum Glück noch bei sich gehabt. Es war ein schweigsamer Abend gewesen.
„Bereust du es schon, mit mir gekommen zu sein?”, hatte der Ritter schließlich gefragt.
„Bereut Ihr es, mich mitgenommen zu haben?”
„Ich bin noch nicht sicher. Ich habe dich nicht aus Valvivant weggebracht, um dich in neue Gefahren zu führen.”
„Bislang erscheint es mir hier nicht sonderlich erlebnisreich. Eher … ausgesprochen fade.”
„Hoffen wir, dass es dabei bleibt. Oder sich zum Besseren wendet.”
Doch diese Hoffnung erfüllte sich auch am kommenden Tag nicht. Tatsächlich begann es später so heftig zu regnen, dass der Boden sich vor ihren Augen in knöcheltiefen Schlamm verwandelte. Und so saßen sie einen weiteren Tag in der verlassenen Herberge fest. Isan tat ihr bestes, um Althopian mit Tratsch aus Valvivant zu unterhalten. Aber der Ritter war mit den Gedanken offenbar ganz woanders – sicherlich bei der yarlara – während er dasaß und die Gelegenheit nutzte, sein Sattel- und Eisenzeug zu warten.
Immerhin kamen sie am kommenden Tag auf der Straße wieder besser voran. Der Boden schien das Wasser aufzusaugen wie ein trockener Schwamm, der sich kurz darauf in ein Sieb verwandelte, denn wenig später war die Erde wieder völlig trocken und karg. In den Gräben entlang des Weges rauschte es davon wie ein schmutzig brauner Wildbach.
Näher bei der Burg weideten Schafe, die nicht so weich und flauschig waren, wie Isan sie kannte. Sie wirkten auf eine sonderbare Weise struppig und das Fell schien an ihnen zu schlackern wie ein zu weites Hemd. Sie waren unfassbar schmutzig und starrten vor getrocknetem Schlamm.
„Das ist aber ein trauriges yarlmálon, über das Euer Kamerad gebietet”, wagte Isan einen Kommentar.
„Ja, ich staune auch”, erwiderte der Ritter. „Ich hatte es aus seinen Erzählungen anders im Gedächtnis. Hoffen wir, dass es in seinem Haus etwas munterer zugeht.”
Aber die kleine Burg, die sie am Abend erreichten, war nicht gerade das, was Isan sich unter einem prunkvollen Haus vorgestellt hatte. Natürlich war ihr klar, dass nur wenige yarlay in so prächtigen Burgen lebten wie die teiranday. Ihre Familiensitze waren weit öfter wenig mehr als große befriedete Gutsanlagen, gerade hier im Landesinneren, wo die Chaoskriege so übel gewütet hatten.
Aber die Burg derer von Altabete mit ihrem quadratischen Herrenhaus und den parallel dazu errichteten Gebäuden wirkte geradezu ärmlich. Das Gesinde, das sie in Empfang nahm, war zwar dienstfertig und zuvorkommend, aber Knechte und Mägde wirkten freudlos und müde dabei. Eine sonderbare Schwermut schien über der Burg zu liegen.
Der yarl, so erfuhren sie, sei nicht auf der Burg anwesend, er verrichte seinen Hofdienst an der Burg von Wijdlant. Man wolle aber sogleich eine Brieftaube losschicken, um den Herrn über die Ankunft des Gastes und seine geplante Weiterreise zu unterrichten.
Die yarlara von Altabete, hieß es weiter, sei schon zu Bett. Die Dame sei müde und empfinge nicht gern Besuch. Aber, so hieß es, sicherlich hätte sie am kommenden Tag ein Ohr für den edlen Gast aus dem Norden. Auch die Gäste sollten die Gelegenheit nutzen, sich zu erfrischen und zu ruhen. Man würde ihnen eine Mahlzeit und Unterkunft bereiten und auch die Reittiere angemessen versorgen.
Zu Isans größter Verwirrung wies man ihnen dann eine gemeinsame Kammer in einem Gästequartier auf der östlichen Seite des Herrenhauses zu. Kaum waren sie dort, erschien auch schon jemand mit einem Topf muffiger Kohlsuppe, einem halben Laib Brot und einem großen Krug.
Dann ließ man sie ebenso uninteressiert wieder allein, wie man sie empfangen hatte.
„Ich finde das unerhört!”, machte Isan sich Luft.
„Was?”, fragte der Ritter und untersuchte den Inhalt des Kruges. Er schenkte sich in einen Becher ein und nippte vorsichtig daran.
„Die haben nicht mal gefragt, wer ich bin! Ich… denkt Ihr gar nicht an Euren guten Ruf, wenn wir in einer Kammer bleiben?”
„Möchtest du draußen auf dem Boden schlafen?”
„Nein… aber…”
„Hast du Angst, dass ich dir plötzlich an deine Keuschheit wollen könnte?”
Sie errötete. „Aber Herr… natürlich nicht!”
„Dann werden wir es wohl eine Weile aushalten. Wenn Andriér Altabete nicht hier ist, ist es müßig, länger zu bleiben. Ich werde morgen die yarlara aufsuchen und dann weiterreiten.”
Isan setzte sich und schaute die gräuliche Suppe an. Er schenkte ihr in einen Becher ein. „Hier. Es ist das widerlichste Bier, das ich je gekostet hatte. Vielleicht erklärt das die Not, die aus dem Brief von Herrn Andriér sprach.”
„Danke.” Sie trank und verzog das Gesicht, so bitter war es. „Nun ja. Vielleicht glauben die Leute ja auch, ich sei Eure Tochter.”
„Nein. Es ist weithin bekannt, dass ich weder hýardora noch Nachkommen habe.”
„Noch nicht”, sagte Isan, um ihn aufzuheitern. „Die yarlara wartet auf Euch.”
Er seufzte und setzte sich nieder. Einen Moment lang blieb er in Gedanken versunken. Dann bediente er sich selbst an der Suppe.
„Du hast Recht”, sagte er. „Es zeugt von ungewöhnlichem Desinteresse, uns so zu behandeln und abzuspeisen. Warten wir ab, was die yarlara morgen zu sagen hat. Wir müssen mit der Dame reden, bevor wir aufbrechen. Ich hatte es vermeiden wollen, aber es scheint, als müssten wir doch weiter zur Burg der teiranda.”
Geschlafen hatte Isan schließlich traumlos und tief. Als sie einmal nur erwachte, weil ein Bedürfnis sie trieb, sah sie den Ritter nachdenklich am Tisch bei einer Kerze sitzen. In der Hand hielt er die seidige Haarsträhne der Dame und schien zu träumen.
Nun, da der Tag bereits fortgeschritten war, hatten sie beide nichts zu tun. Als sie aufgewacht war, hatte sie von Waýreth Althopian erfahren, dass ihr Maultier und das Pferd wohlauf waren, es im Stall aber ähnlich aussah wie im Haus. Jedenfalls hatten beide Tiere ihre Tröge mit trockenem Grünschnitt und Unkraut nur zur Hälfte geleert, und die Reste hatten selbst für seine Augen kümmerlich ausgesehen. Isan erinnerte ihn daran, dass sie beide gestern eine scheußliche Suppe gegessen hatten, und fragte, ob er wirklich erwartet hatte, dass die Tiere besser versorgt würden als sie. Daraufhin schwieg er.
Es wäre unhöflich gewesen, in dem fremden Haus herumzulaufen, bevor die Herrin sie begrüßt hätte. Also warteten sie. Erst am frühen Nachmittag schien sich jemand an sie zu erinnern. Ein Knecht erschien und führte sie in die Gemächer der Hausherren an der Westseite. Isan war neugierig auf die yarlara von Altabete und die Art, wie sie hier leben mochte.
Haus und Einrichtung der Burg waren, bei Tag betrachtet, unauffällig und entsprachen dem, was in einem yarlmálon wie diesem zu erwarten war. Nur wirkte alles ringsum heruntergekommen und verbraucht; so als hätte schon lange Zeit niemand mehr irgendetwas repariert, aufgefrischt oder durch etwas Neues ersetzt. Viele Details, die das Mädchen bemerkte, während sie dem Ritter und dem Hausdiener folgte, waren altmodisch, aber nicht auf die würdevolle Art, wie bei einem wertvollen Erbstück oder sentimentalen Andenken an einen Urahn. Die Burg hatte eher etwas von … Vernachlässigung. So als hätten ihre Bewohner vergessen, sich darum zu kümmern.
Die yarlara erwartete sie in einem Kaminzimmer. Sie saß auf einem mit einem sich lichtenden Fell ausgelegten Sessel inmitten abgewetzter Kissen. Gekleidet war sie in ein Gewand, das in jenen Tagen, in denen Waýreth Althopian ein Knabe gewesen war, modisch gewesen sein mochte. Die Frau schaute ihnen schweigend entgegen. Isan wunderte sich darüber, wie verhärmt sie aussah, mit tiefen Schatten unter ihren Augen und hohlen Wangen. Ihr Haar war notdürftig frisiert, und sie trug nicht ein einziges Schmuckstück am Leib. Aber das war kein Zeichen von Armut. Isan war sich intuitiv sicher, dass der Dame die Freude an schönen Gewändern und glänzendem Geschmeide schon lange vergangen war.
Die yarlara von Altabete war nicht allein im Zimmer. Zu ihren Füßen, auf einem ausgeblichenen Teppich mit einem üppigen Blumenmuster, krabbelte ein Kleinkind herum, ein Knäblein, das noch nicht selbst stehen konnte. Es verfolgte einen kleinen Ball aus schmutziggrauem Filz. Als es den Ritter bemerkte, hielt es inne und schaute ihn mit großen Augen fasziniert an.
Althopian lächelte beim Anblick des Kleinen und verneigte sich vor der yarlara.
„Herrin”, sagte er, „ich gratuliere Euch und Eurem hýardor zu dem Glück, das die Mächte Eurem Haus offensichtlich geschenkt haben. Und ich habe für die Gastfreundschaft zu danken, die mir und meiner Begleiterin zuteilwurde.”
„Danke, Herr Waýreth”, sagte sie artig, sehr leise und senkte den Blick vor ihm.
Wie unruhig ihre Hände sind, dachte Isan. Wie nervös sie ihre Finger ringt. Es ist ihr unangenehm, Fremde im Haus zu haben, die all das Elend sehen.
„Wie mir zugetragen wurde, habe ich Herrn Andriér hier gerade verpasst, und er ist am Hof der edlen teiranda.”
„Ihr habt ihn nicht verpasst. Ich habe ihn seit vielen Monden nicht gesehen.”
Waýreth Althopian runzelte die Stirn. „Wie kann das sein?”
„Die teiranda legt großen Wert darauf, all ihre yarlay um sich zu haben. Andriér hat keine Brüder und sein Vater ist lange hinter den Träumen. Also muss er seiner Pflicht genügen. Er war in den letzten Sommern immer seltener hier.”
„Vergebt, Herrin … ist es Sitte, dass die yarlay der teiranda über so lange Zeiten den Hofdienst halten müssen? Wer kümmert sich derweil um das yarlmálon? Ihr allein etwa?”
„Es kümmert sich alles ganz allein”, sagte sie. „Ich habe nicht viel zu tun dabei. Außerdem habe ich einen redlichen Kastellan, der mir hilft.”
Offenbar wollte Waýreth Althopian nicht weiter in sie dringen. Aber auch Isan erstaunten diese Worte. Es war nicht üblich, dass yarlay mehr als einen oder zwei Monde am Stück an der Burg ihres Herrn verweilten, mit Ausnahme des mynstir natürlich oder der von yarlay, die erwachsene Brüder hatten. Die konnten das Amt untereinander abwechseln. Manche, wie der mit mehreren männlichen Geschwistern bedachte yarl Lebréoka nutzen zwar die Gelegenheit, dauerhaft bei ihrem teirand zu sein, aber das war die Ausnahme.
„Ich gedenke, mich zur Stunde noch auf den Weg zu mache. Ich will an den Hof der teiranda reisen, um Herrn Andriér zu treffen und Eure Gastfreundschaft nicht noch weiter auszunutzen. Habt Ihr ihm etwas auszurichten?”
„Ja”, murmelte sie. „Ihr könntet ihm sagen, dass ihm ein Sohn geboren wurde. Vielleicht lässt er mich wissen, ob er einen Namen für den Kleinen hat. Er ist nun so alt, dass die Mächte ihn uns sicher nicht wieder nehmen.”
„Was!”, entfuhr es Isan mit einem Blick auf das Kind. „So lange war er nicht hier?”
Die yarlara senkte den Blick, und Althopian warf ihr einen scharfen Blick zu. Aber Isan war aufgebracht. „Die Burg von Wijdlant ist einen Katzensprung entfernt, und er bringt es nicht fertig, hierher zu kommen und sich seinen Nachkommen anzuschauen?”
„Er weiß noch gar nichts von diesem Sohn”, flüsterte die yarlara.
„Warum denn das nicht? Wieso enthaltet Ihr Eurem hýardor dieses Glück vor?”
„Ihr versteht es nicht. Bitte, Herr Waýreth. Ich weiß, dass er sich nicht aus dem Hofdienst entfernen darf. Aber ich wollte nicht, dass er noch mehr Angst haben muss. Doch nun … es ist nicht recht, dass unser Sohn im Glauben aufwächst, sein Vater sei bereits hinter den Träumen. Wenigstens seinen Namen soll er von ihm bekommen. Wenn Ihr es ihm sagt, bin ich sicher, dass die Nachricht ihn erreicht.”
„Herrin … das scheint eine überaus seltsame Angelegenheit zu sein. Könnt Ihr nicht frei darüber sprechen?”
Sie schwieg. Isan beobachtete, wie das Kleinkind unbekümmert brabbelnd seinem Ball hinterher krabbelte und hatte Mitleid damit. Es konnte der Gesundheit des kleinen yarl nicht zuträglich sein, in solch einer Umgebung, mit einer so traurigen Mutter und einem abwesenden Vater aufzuwachsen.
Endlich blickte die yarlara auf. „Herr Waýreth … so oft hat er in früheren Tagen Euren Namen erwähnt, wenn er für die teiranda auf ein Turnier geschickt wurde … damals, als es noch nötig war. Er hat die Narbe, die Ihr ihm im Kampf zugefügt habt, betrachtet wie ein kostbares Souvenir, das ihn an jene Tage erinnert.”
„Ein Missgeschick war es, über das ich untröstlich bin”, antwortete der yarl. „Eine schadhafte Niete an seinem Helm sprang zur Unzeit auf.”
„Er hat sich an Euch erinnert, wann immer er in einen Spiegel sah”, sagte sie. „Oft sagte er, wenn es jemanden gäbe, das Blatt wenden könne, der einen Weg aus unserer Misere wisse, dann wäret sicherlich Ihr es. Ich erinnere mich so gut. Als er das letzte Mal hier bei mir war, zwei Sommer und einen Winter ist es her, da war es meine Torheit, in ihn zu dringen, warum er Euch nicht endlich ins Vertrauen ziehe. Ich habe nicht geahnt, dass er es schließlich doch getan hat. Und ich bereue es, denn seither hat man ihn nicht mehr zu mir gelassen. Und nun bedrückt es mich, dass Ihr tatsächlich erschienen seid. Wir hätten Euch nicht in die Angelegenheiten der teiranda hineinziehen dürfen.”
„Es scheint, er hat lange gezögert, mich zu kontaktieren.”
„Ja”, sagte die yarlara. “Zu tief saß wohl die Trauer über den Tod seines Freundes, des älteren yarl Moréaval.”
“Ich hörte davon, dass er hinter die Träume fand. Aber die Umstände scheinen mir unklar”, sagte Althopian unverbindlich, wohl in der Hoffnung, die Dame werde von sich aus mehr erzählen.
„Man schätzt es bei Hofe nicht, wenn jemand sich beklagt”, antwortete sie. “Es würde die teiranda beschämen. Es ist alles an seinem Platz, Herr Waýreth. Es gibt keinen Grund, die Dinge ändern zu wollen.”
„Welche Dinge meint Ihr, Herrin? Den desolaten Zustand Eures yarlmálon?”
Sie warf ihm einen rätselhaften Blick zu. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein. Die Dinge, die auf der Burg vor sich gehen.”
„Herrin … wisst Ihr von einem Ort namens Pianmurít?”
Sie schaute verwirrt auf. „Davon habe ich nie gehört.”
„Wie weit ist es von hier bis zur Burg der teiranda?”
„Wenn euer Pferd schnell ist”, sagte sie, „zwei Tagesritte. Dieses yarlmálon liegt am weitesten von der Burg entfernt, und die Straßen sind sehr schlecht. Ihr werdet nicht so schnell vorankommen.”
Er verneigte sich und wollte sich abwenden, aber sie erhob sich plötzlich, trat auf ihn zu und griff nach seiner Hand. Ihre zarten weißen Finger umklammerten seine Handschuhe so fest, dass sie sich bestimmt an Kanten der Metallglieder schnitt.
„Nehmt Euch in Acht”, wisperte sie. „Nehmt Euch in Acht vor dem Unheil, das in der Burg lauert wie die Spinne in ihrem Netz.”
„Die teiranda?”, fragte er verwirrt.
„Ach nein. Nicht die teiranda. Die teiranda ist unsere liebe gute Herrin. Andriér würde sein Leben geben, um die teiranda zu beschützen. Da ist … jemand. Einer, der nichts Gutes will.”
„Aber Ihr wisst weder, wer noch was er ist? Oder Ihr dürft es nicht aussprechen?”
Sie lächelte, ein gespenstisches Lächeln, das Isan einen Schauder über den Rücken jagte. Auch der Ritter wollte zurückweichen, aber sie hielt seine Hand fest.
„Es heißt, er trüge rote Gewänder und ein Schwert, das mächtiger ist als das, das Ihr führt, wenn er damit ficht.”
„Ein goala’ay!”, wisperte Isan staunend.
„Ist das wahr, Herrin? Ein … ein Lichtwächter ist leibhaftig in Wijdlant?”
„Das habe ich Euch nicht gesagt“, sagte sie fast unhörbar.
„Ich verstehe. Aber was dieser Rotgewandete im Schilde führt, das wisst Ihr nicht?”
„Nein”, sagte sie entrückt. „Das weiß niemand. Und wer es herausfindet, der ist verloren für alle Zeiten. Es heißt, der alte yarl Grootplen, der Vater von Herrn Daap, sei nahe heran gekommen und habe es bitter bereut.”
Er löste ihre Finger vorsichtig von seiner Hand. Dann lächelte auch er, so finster und dabei so entschlossen, dass Isan sich zum ersten Mal fragte, ob sie nicht besser bei der alten Verta geblieben wäre.
„Nun”, sagte er, „wir werden sehen.”
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