Arámaú begutachtete den Faden.

Eine kluge Idee, lobte sie.

„Ich habe mir das nicht selbst ausgedacht. Es ist ein uralter Trick. Ich hoffe nur, dass er auch in einem magischen Labyrinth funktioniert.”

Warum denn nicht? Ein unbelebtes Ding kann sich von Illusionen nicht verwirren lassen.

Um Gor Lucegath auf den Plan zu rufen, musste ich etwas tun, was ihm nicht in seine Pläne passte. Mehrfach hatte man mir untersagt, die Kammer zu verlassen. Dafür musste es einen Grund geben. Als ich gedankenlos hinter Arámaú her gerannt war, hatte ich mich umgehend in den Irrwegen verlaufen, die jede Flucht aus der Burg unmöglich machten. Also hatte ich mir etwas einfallen lassen, um mich zielstrebig an einen anderen Ort zu begeben.

Dabei half mir nun das gut gemeinte, aber nutzlose Stickzeug aus dem Handarbeitskörbchen. Ich hatte all die unauffällig gefärbten Garnfäden zusammengeknotet und dadurch eine hauchdünne Schnur erhalten. Die war zwar nicht allzu lang – in einem echten Irrgarten wäre ich damit nicht weit gekommen – aber es würde ausreichen. Ich wusste schließlich, dass das Gemach der teiranda nur ein paar Schritte entfernt war.

Bei meinem letzten Besuch bei ihr hatte ich den Faden unten am Fuß ihres Frisiertischs befestigt, während ich vorgab, am Boden nach der herabgefallenen Haarspange zu suchen. Wie erwartet hatte sie, versunken, in ihren eigenen Anblick, keinen Verdacht geschöpft. Anschließend musste ich den Faden nur so abspulen, dass er ganz locker durchhing und nahe bei der Wand verlief, sodass niemand darüber stolperte und die Türen sich darüber schlossen. Mit etwas Glück würde das gräuliche Garn unbemerkt bleiben, wenigstens während der paar Stunden Frist, bis ich es brauchte.

Du solltest trotzdem der Vorsicht halber die Augen geschlossen halten.

„Ich bekomme langsam den Eindruck, ist es ratsam, vor Magie immer die Augen zu verschließen.”

Möglicherweise.

„Wichtig ist nur, dass die Luft rein ist und die teiranda nicht vor ihrem Spiegel sitzt.”

Solange sie mit ihren yarlay Audienz hält, hast du freie Bahn.

„Und du bleibst in der Nähe?”

Ich bin immer in der Nähe, behauptete sie. Und nun geh.

Ich gab mir einen Ruck, holte den Faden ein und öffnete die Tür. Auf dem Korridor war niemand zu sehen. Es war Mittagszeit. Die teiranda widmete sich ihren Geschäften, wie immer die in Pianmurít, Wijdlant oder worüber auch immer sie zu herrschen glaubte, aussehen mochten. Aus diesem Grund war zurzeit niemand vor ihrem Gemach postiert. Ich machte die Augen zu und begann, den Faden langsam um meinen Finger zu wickeln.

Arámaú blieb in der Tür sitzen. Wir waren uns einig gewesen, dass es riskant für sie gewesen wäre, wenn sie mich einfach zur Tür geführt hätte. Ich musste es selbst ganz ohne Magie schaffen, mein Ziel zu erreichen. Nur das würde mit Sicherheit Gor Lucegaths Interesse erregen, ohne zugleich sein Misstrauen zu wecken. Arámaú würde mich mit einem lauten Miauen warnen, falls zufällig Menschen den Korridor betraten.

Schritt für Schritt tastete ich mich näher an die Tür heran. Die eine Hand blieb am Faden, mit der anderen klärte ich den Weg vor mir, um nicht gegen möglicherweise unversehens doch auftauchende Wände, Stufen oder Möbel zu stolpern. Doch alles ging gut. Als der Faden straff gespannt nach unten strebte, stand ich vor Kíaná von Wijdlants privatem Gemach. Die Tür war unverschlossen. Bevor ich eintrat, spähte ich vorsichtig hinein,.

Auf dem Frisiertisch waren Kämme, Bürsten, Spangen und ihre Flakons und Tiegelchen mit Kosmetik ordentlich aufgereiht. Aber der Spiegel war wieder blind. Natürlich. Solange die teiranda nicht selbst hineinblickte, war das Ding nur eine altmodische Antiquität, die nicht einmal ihren vorbestimmten Zweck erfüllte.

Tagsüber hatte ich das Gemach der teiranda noch nicht besucht. Ich erkannte im trüben Tageslicht mehr Details als bei meinen abendlichen Besuchen. Es gab mehr Zierrat als nebenan in meiner Stube, aber das trug nicht dazu bei, die Stube zu verschönern. Verzierte Bodenvasen waren im Raum verteilt, aber keine enthielt Blumen. Einige geschnitzte und getöpferte Dekofiguren standen in den Regalen, aber sie waren so nachlässig aufgestellt, dass sie alle zu den Wänden schauten oder sogar umgestürzt waren.

Auf dem Tisch am Fenster lagen mehrere Bögen Pergament und ein Halbdutzend Bücher aus der Bibliothek. Auf einem der Dokumente war ein Wappen abgebildet. Ich sah es von meinem Standort aus kopfüber, aber ich erkannte es. Ich hatte es auf dem Holztäfelchen gesehen, das Waýreth Althopian dem Botenjungen gegeben hatte, als wir in Valvivant den Gärtnern begegnet waren. Offenbar war die teiranda tatsächlich wild entschlossen, ihn für sich zu gewinnen, und stellte Nachforschungen über ihn an. Ob das ein normaler Zeitvertreib für sie war? Oder ein manischer Zug, der zutage trat, nachdem Gor Lucegath sie nun eine Weile vernachlässigt hatte?

Egal. Nun stand ich also hier, unbefugt, mitten im Privatgemach der teiranda. Einem Ort, an dem ich nichts zu suchen hatte.

Ich kam mir unsagbar dumm vor. Nichts geschah. Von weit fort hörte ich dumpf und wattig Alltagsgeräusche der Burg, genau wie nebenan in meiner Kammer. Musste ich noch indiskreter werden? Gab es hier irgendetwas, was mir nützlich war?

Der Raum war durch einen Vorhang abgeteilt, der mit Mustern aufwendig verziert, aber in langweiligen Farben gehalten war. Ich konnte nicht widerstehen und warf einen Blick dahinter. Dort stand ihr Bett, weich und einladend mit einem aufwändigen Himmel und voller Kissen und Felle. Es war luxuriös und groß genug für zwei Personen. Aber es gab keinen hýardor, der es mit ihr teilte. Hinter einem weiteren Vorhang befanden sich vermutlich Waschgelegenheiten und dergleichen, vielleicht auch Schränke für ihre vielen Gewänder.

Ich zögerte. Es kam mir falsch vor, in ihrem privatesten Bereich genauer herumzustöbern. Es ging mich nichts an, wie sie hier wohnte. Aber ein Detail fiel mir ins Auge: An der Wand neben dem Bett befand sich, etwa auf Augenhöhe, ein geschlossener Holzdeckel. Er war viel zu klein, um zu einem Fenster zu gehören, und zu flach für eine Schranktür. Ich wagte mich einen Schritt näher heran. Tatsächlich war es kein Fensterladen, sondern zwei übereinander liegende, mit einem Scharnier verbundene Holzbretter. Ein kleiner Haken hielt sie zusammengeklappt.

Meine Neugier war stärker als die Vernunft. Und außerdem: Schließlich war ich unbefugt hier, um Aufmerksamkeit zu erregen. Ich öffnete den Haken.

Dahinter kam wenig Spektakuläres zum Vorschein. Es war ein Bild, das Porträt eines stattlichen Mannes, erstaunlich realistisch mit Ölfarbe auf das Holz gebracht. Der Abgebildete trug pelzverbrämte Gewänder und schweren Halsschmuck, einen grauen Backenbart und eine Krone. Ich war überzeugt, dass ich schon einmal ein Bild von dieser Person gesehen hatte: unten in der Halle. Aber hier, in Kíaná von Wijdlants Privatsphäre, war das Gesicht nicht verzerrt. Ich ließ den freundlichen Blick den vornehmen Herrn auf mich wirken. Betörende Lebensfreude strahlte aus dem Bildnis; so viel, dass es die Tristesse des Gemaches geradezu zum Erbeben brachte.

Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung hinter mir wahr und erschauerte. Es hatte funktioniert. Nun gab es kein Zurück.

Gor Lucegath schob den grauen Vorhang ein Stück beiseite und trat neben mich. „Ich habe es noch nicht übers Herz gebracht, ihr dies zu nehmen”, sagte er ruhig. „Aber wie du siehst, hat sie es bereits selbst verdeckt, um es nicht ständig anschauen zu müssen. Es schmerzt sie zu sehr. Bald wird sie es nicht mehr brauchen.”

„Es ist ihr Vater, nicht wahr?”

„Ja.”

„Habt Ihr ihn…”

„Nein. Er war schon hinter den Träumen, bevor mein Weg mich hierher führte. Manchmal, Ujora, sterben die Leute auch ohne mein Zutun.”

Er griff nach dem Bild und klappte es behutsam wieder zusammen. „Es wäre nicht gut, wenn du sie daran erinnerst. Komm hier heraus. Du wirst an diesem Ort nichts finden.”

Er wandte sich ab und ging wieder nach nebenan. Ich folgte ihm beklommen.

Der Rotgewandete bewegte sich wieder energisch, mit der ihm eigenen, souveränen Selbstsicherheit. Von Schwäche oder gar Krankheit war ihm nichts mehr anzusehen. Was immer mit ihm in den vergangenen Tagen geschehen war, hatte ihn neu gestärkt. Meinen Faden hatte er aufgehoben und zerrieb ihn zwischen den Fingern zu einem unentwirrbaren Knäuel. Ich ließ mein Ende los.

„Wo seid Ihr gewesen?”

„Hast du dir etwa Sorgen um mich gemacht?”

„Ich war verunsichert, was weiter geschehen würde, wenn Ihr verschwunden bleibt”, antwortete ich kleinlaut.

„Ich gebe zu, es ist unhöflich und nicht meine Art, mitten in der Partie das Spiel zu verlassen. Aber nun bin ich wieder da. Du hast also während meiner Abwesenheit Freundschaft mit der teiranda geschlossen?”

„Es … hat sich so ergeben.”

„Sie hat eine exquisite Einrichtung in ihren privaten Gemächern, nicht wahr?”

„Sicher.”

„Ich weiß, warum du wirklich hier bist, Ujora. Versuche nicht, mich zu täuschen. Also? Was hast du mir zu sagen?”

Er ließ sich am Tisch nieder und warf einen flüchtigen Blick auf die Dokumente dort, ohne sich anmerken zu lassen, ob sie ihn interessierten. Ich zögerte einen Augenblick. Ich musste etwas ins Spiel bringen, was ihm etwas bedeutete. Ich hatte lange wach gelegen und überlegt, was das sein könnte. Etwas, was sein Interesse erregte, auch wenn es Schwachsinn war.

„Was muss geschehen, damit Ihr Yalomiro freigebt?”

„Nicht viel. In dem Moment, in dem er mir zusagt, das Artefakt zu bergen und herzubringen, lasse ich ihn los, damit er es tun kann.”

„Und wenn es mir gelänge, ihn davon zu überzeugen, es zu tun? Würdet Ihr dann von ihm ablassen?”

Er schaute auf. Sein Blick unter seiner Maske war nicht zu deuten.

„Wie stellst du dir das vor?”

„Na ja… wenn ich das richtig begriffen habe, ist die Schwierigkeit, die Yalomiro in seinen Schutzzauber eingebaut hat, dass er das Artefakt nur bergen kann, wenn er es aus eigenem Willen tut. Deshalb könnt Ihr ihn nicht einfach dazu zwingen.”

„Das ist korrekt.”

„Vielleicht kann ich ihn … dazu überreden? Vielleicht tut er mir den Gefallen.”

„Warum sollte er?”

„Weil … vielleicht erfüllt er eher mir einen Wunsch als Euch einen Zwang?”

„Welches Interesse hättest du am ay’cha’ree?”

„Keines. Ich möchte nur, dass Ihr damit aufhört, ihn zu quälen.”

„Dann bietest du mir also einen Handel an, um sein Leiden zu beenden? Etwas, worum er mich jederzeit und ohne dein Zutun bitten könnte, wenn ihm nicht sein Gewissen im Wege wäre?”

„Zumindest könnte ich es versuchen.”

Der Rotgewandete lehnte sich zurück und musterte mich für einen unangenehm langen Moment.

„Nur, damit wir von derselben Sache sprechen: Du weißt genau, dass er das Artefakt verbirgt, um mich in meinem Handeln zu behindern. Er glaubt, damit zumindest Noktáma, wenn nicht allen Mächten gefällig zu sein. Das ist bei näherem Nachdenken Unfug, aber es sei ihm zugestanden, sich mit seiner Demut lächerlich zu machen. Zumindest scheint es seine Disziplin zu erhalten, weit mehr, als ich erwartet hatte. Und nun kommst du und stellst dir vor, du könntest ihn mit naivem Bitten dazu bringen, einfach aufzugeben, damit ich dir zuliebe von ihm ablasse? Ich sehe eine erschreckende Einfalt hinter deinen Gefühlen, aber an wem willst du gerade Verrat verüben, Ujora? An mir, ihm oder dir selbst? Das ist lächerlich.”

„Lächerlich?”

„Wie sähen deine Argumente aus? Willst du ihm sagen, er sollte das ay’cha’ree mir übergeben, auf dass ich das Elend anrichten kann, das er befürchtet? Damit du nicht länger ansehen musst, wie er leidet? Ist dir denn egal, was aus dem Weltenspiel wird, solange du deinen Willen bekommst? Das, Ujora, wäre überraschend selbstsüchtig von dir. Wie würdest du denken, wenn dein Weltenspiel, oder wie immer die Mächte deiner Wirklichkeit die Dinge regeln, in Gefahr wäre?”

Ich wollte aufbegehren, besann mich jedoch. Objektiv betrachtet, war das ein berechtigter Einwand. Andererseits war ich mir sicher, dass er auch versuchte, mich zu verwirren. Ich musste etwas dagegenhalten.

„Macht Ihr es nicht ganz ähnlich? Habt Ihr ihm etwa nicht zu verstehen gegeben, dass mir etwas zustoßen könnte, wenn er Euch nicht gehorcht?”

„Interessant, dass du mir so etwas unterstellst, und noch interessanter, dass du denkst, dass ihn das beeindrucken könnte.”

„Habt Ihr es getan oder nicht?”

„Möglicherweise habe ich etwas in dieser Richtung angedeutet. Aber habe ich dir zuvor nicht sogar in seiner Gegenwart angeboten, diesem Weltenspiel den Rücken zu kehren? Hätte ich das getan, wenn ich dich so dringend als Druckmittel bräuchte? Du überschätzt deine Bedeutung in dieser Angelegenheit, Ujora.”

„Nun ja …”

„Was würde es mir bringen, ihm mit deiner Unversehrtheit zu drohen? Wäre das nicht töricht, wenn es doch sein freier Wille, sein eigener Wunsch sein muss, mir das ay’cha’ree auszuhändigen? Würde ich dir Leid zufügen, käme sein Handeln kaum noch aus eigenem Entschluss. Dann wäre es schlicht Erpressung. So funktioniert das nicht.”

Ich ließ den Kopf hängen.

„Und bevor du denkst, dass dieser Umstand dir irgendwie von Nutzen ist, Ujora: Ich habe weitaus fantasievollere Mittel, ihn in anderer Weise in meinem Sinne zu motivieren, seinen Willen zu meinen Gunsten zu beeinflussen. Es bedeutet lediglich etwas mehr Aufwand für mich.”

„Spart Euch doch diese Mühe. Lasst es mich wenigstens versuchen. Lasst mich nur einen Moment zu ihm.”

„Was soll das bringen?”

„Wenn es zu nichts führt, verliert Ihr nichts.”

Er legte das Pergament zur Seite und musterte mich einen Moment lang unverwandt. Ich bemühte mich, seinem nachdenklichen Blick standzuhalten. Dann deutete er auf den Sessel am Frisiertisch. „Na schön. Setz dich dorthin.”

Dieses unvermittelte Einlenken überraschte mich. Ich gehorchte schüchtern und ließ mich vor Kíaná von Wijdlants Schönheitsmitteln nieder. Der goala’ay erhob sich, trat hinter mich und legte mir die Hände auf die Schultern, kühl und fest.

„Willst du ihn tatsächlich sehen? Möglicherweise ist es kein erfreulicher Anblick.”

Ich nickte zaghaft. „Ich weiß, was mit ihm geschieht.”

„Ich habe diesen Spiegel für die teiranda … verbessert. Yalomiro Lagoscyre ist nicht der einzige Magier, der unbelebte Dinge mit Magie versehen kann. Nun schau hin.”

Er hob die Finger, legte sie an meine Wangen und lenkte meinen Blick auf den Spiegel. Die blinden Flecken klarten auf und ich sah mich selbst im Glas, der Rotgewandete hinter mir wie ein unerbittlicher Wächter.

Dann erhellte sich auch die zweite Schicht des Spiegels. Ich sah Yalomiro und sog erschrocken Atem ein.

Er hing halb aufgespießt in den goldenen Dornen, augenscheinlich unfähig, sich noch länger aufrecht zu halten. Mit bleimatten Augen schaute er mich an, ohne etwas zu sehen.

Ich konnte mich nicht abwenden. Meister Gors Griff verhinderte das. Der Rotgewandete neigte sich über meine Schulter vor. „Mir scheint, dass wir einen guten Zeitpunkt getroffen haben, um nach ihm zu schauen. Er hat nunmehr beinahe den Punkt erreicht, an dem ich ihn sehen wollte. Glaubst du wirklich, Ujora mit dem lauteren Herzen und den vernünftigen Argumenten, dass er in diesem Zustand in der Lage ist, überhaupt eine eigene Entscheidung zu treffen? Was du dort siehst, was von seiner Vernunft noch übrig ist, ist wie eine Eierschale mit lauter Sprüngen. Ein wenig mehr Druck noch, und sie wäre entzwei. Dann käme ich an seinen Willen heran.”

„Wollt ihr ihn leiden lassen, bis er stirbt und Euch gar nicht mehr von Nutzen ist?”

„Er kann nicht sterben, solange ich es ihm nicht erlaube. Denkst du, ich mache es ihm so leicht, sich aus der Verantwortung zu stehlen? Und, nur der Vollständigkeit halber: Er hätte sich all das ersparen können. Ich habe auch ihm mehrfach Alternativen angeboten. Äußerst verlockende Alternativen.”

„Aber…”

„Allerdings hast du Recht, wenn du dir Gedanken um den Zustand seines klaren Geistes und seiner Seele machst. Es ist immer wieder hochinteressant zu beobachten, was einige Tage in Pianmurít selbst aus einem mächtigen Magier machen können. Vom irreversiblen Wahnsinn, Ujora, ist er nur noch einen winzigen Schritt entfernt. Das wäre der beste Zeitpunkt, mit ihm zu verhandeln. Auf diesen Moment habe ich gewartet.”

„Und Ihr glaubt, dass ein Wahnsinniger Euch das Artefakt eher beschaffen wird?”

„Selbstverständlich. Wie weit, Ujora, ist es mit dem eigenen Willen eines Wahnsinnigen noch her? Wäre es nicht für mich eine Möglichkeit, mit einem Wahnsinnigen erfolgreicher zu einem einvernehmlichen Handel zu kommen als mit dem eigensinnigsten Magier, den der Schatten hervorgebracht hat?”

Ich starrte Yalomiro an und dann zurück zu meinem eigenen Spiegelbild. Gor Lucegath lächelte mir im Spiegel zu, auf eine sehr seltsame Weise. Ich sah nicht die kleinste Spur von Spott, Triumph oder Grausamkeit in seiner Miene.

„Bitte”, sagte ich. „Ich glaube, ich kann es auch in Eurem Sinne zu einer Einigung bringen.”

Der Rotgewandete ließ mich los. „Ich hoffe in deinem Sinne, Ujora, das ich es nicht bereuen werde.”

Er ließ mich los, ging hinüber und zog dabei sein Schwert mit der blau metallisch glänzenden Klinge. Aber er holte damit nicht zu einem Streich aus. Stattdessen packte er es oben an der Parierstange und benutzte den Knauf wie einen Hammer. Er zerschlug den magischen Spiegel.

Ein Schwall von Scherben ergoss sich ins Zimmer, ein funkelnder Regen von Glas. Mit ihm stürzte Yalomiro vornüber aus dem Spiegel heraus, schlug mitten in die Splitter hinein, lag still und steif zwischen dem Spiegelrahmen und dem Frisiertisch.

Der Rotgewandete kam näher. Mit der Schwertspitze durchschnitt er die Fesseln, als handele es sich um Spinnweben. Dann drehte er den bewusstlosen Körper mit dem Fuß auf den Rücken und steckte das Schwert wieder weg,

„Yalomiro!” Ich sprang auf und eilte hinzu.

Sein Gesicht war voller silberblutiger Schrammen, Scherben hingen in seinem zerzausten Bart. Seine Augen waren geschlossen. Ich streckte die Hand nach ihm aus und berührte seine Brust. Er atmete. Aber ein ekliger Geruch strömte von ihm aus, wie von fauligem Wasser aus einer Vase, in der ein Blumenstrauß verwelkte und die Stängel und Blätter verrotteten. Ich verzog angewidert das Gesicht.

Der Rotgewandete bückte sich und begann, seine Goldmünzen auf dem Boden aufzusammeln. „Was seinen Körper betrifft, sind es nur oberflächliche Wunden, Ujora. Sieh zu, dass du ihm ein wenig Linderung verschaffst. Und wenn das nicht reicht, so hört man, dass in ein paar Stunden eine talentierte junge doayra eintreffen wird. Wenn auch das nicht wirkt, werde ich ihn schon wieder zu Bewusstsein bringen.”

Ein schrilles Kreischen unterbrach ihn. Ich fuhr herum. Die teiranda stand, gefolgt von ihren yarlay und ihrer Leibwache, in der Tür und betrachtete die Szene.

„Mein Spiegel!”, kreischte sie. „Mein SPIEGEL!”

Ich hörte die verzerrten Stimmen der Ritter, die versuchten, ihre Herrin zu beruhigen. Aber sie wischte verärgert die beschwichtigenden Hände beiseite, kam schnellen Schrittes herbei und stieg mitten durch die blutigen Scherben, über Yalomiro hinweg. Sie schien weder mich noch den Rotgewandeten zu bemerken und wimmerte.

„Mein Spiegel!”, weinte sie. „Mein Spiegel ist entzwei!”

War sie verrückt geworden? Auf ihrem Teppich lag ein halbtoter Mann, und alles, was sie interessierte, war ihr dummer Spiegel? Nicht einmal Gor Lucegaths Gegenwart schien sie zur Kenntnis zu nehmen.

Sie sank vor dem Spiegel, der nur noch aus dem altmodischen Rahmen und einer hölzernen Rückwand bestand hin und begann, zu schluchzen. Dass sie sich dabei an den Scherben schnitt, schien sie gar nicht zu bemerken.

Der goala’ay seufzte. „Ihr da”, wandte er sich an die yarlay. „Bringt den hier und die fánjula zurück in ihr Gemach. Stellt keine Fragen. Ich kümmere mich um Eure Herrin!”

„Was soll nun werden …”, wimmerte sie. „Der Spiegel…”

Ich konnte den Blick nicht von ihr wenden. Vielleicht war er ihre bizarre Reaktion, ihre abgrundtiefe Verzweiflung, die sie urplötzlich so … ja, so lebendig machte. Lebendiger, als ich sie je zuvor gesehen hatte, wenn ich recht darüber nachdachte.

Ich ließ die Ritter heran. Andriér Altabete und Jóndere Moréaval wirkten verwirrt, aber sie hüteten sich, Gor Lucegaths Befehl zu ignorieren. Daap Grootplen zögerte einen Moment. Vielleicht erkannte er Yalomiro wieder. Dann fassten die Männer den Ohnmächtigen bei den Armen und Füßen und schleppten ihn aus dem Zimmer.

Ich warf einen letzten Blick auf den Magier, der neben der teiranda niederkniete und ihr die Hand auf die Wange legte, eine eigenartig tröstende Geste. Verstörend behutsam wischte er eine Träne fort.

„Es ist gut”, sagte er sanft. „Ich kann ihn reparieren. Später, Majestät. Ich mache alles wieder heil.”

„Versprecht Ihr das?”

Er zupfte sacht eine Scherbe fort, die in ihrer Hand stak. Ich sah, wie er die Wunde heilte. „Habe ich Euch je einen Wusch verweigert, Herrin?”

Wie er zu ihr redete! Nachsichtig, wie zu einem Kind, das über ein zerbrochenes Spielzeug in Aufruhr geriet. Das war grotesk und verstörte mich.

„Geh, Ujora”, gebot er, ohne mich anzuschauen, die teiranda in seinen Armen. Sie hielt ihn umschlungen und zuckte vor hysterischen Tränen. „Das hier geht dich nichts an.”

Ich besann mich und eilte den Rittern hinterher, bevor ich den Anschluss verlor. Meinen Faden hatte ich an Meister Gor verloren.