„Er wirkt gar nicht so gefährlich”, sagte Isan. Sie hatte mit der Zeit wieder begonnen, zu plappern. „Aber das ist bei schlafenden Hunden ganz genauso. Gut, dass er besinnungslos ist. Mögen die Mächte verhüten, dass er aufwacht, solange ich hier im Raum bin.”

„Selbst wenn er bei Bewusstsein wäre”, erwiderte ich, „würde er dir nichts antun. Was muss passieren, damit du das endlich glaubst?”

Sie antwortete mir nicht. Zwischenzeitlich war Andriér Altabete samt zwei Knechten aufgetaucht, die Seife, mehrere Eimer heißes Wasser, die bestellten Tücher und den desinfizierenden Essig mitgebracht hatten. Isan hatte die Männer dankend wieder fortgescheucht und damit fortgefahren, den reglosen Magier zu versorgen. Ich staunte über den Ernst und die Routine, die sie dabei an den Tag legte. Es war fast, als sei sie voller Ernst in die Rolle der alten, besonnenen Verta geschlüpft. Ich glaubte nicht, dass ein gleichaltriges Mädchen in meiner Welt all das gekonnt hätte. Das Seifenwasser und wusch den abstoßenden Geruch, fort duftete selbst aber kaum, ganz im Gegensatz zu Isans aromatischer Kräutersalbe. Wie konnte das sein? Brachte Isan etwas Lebendiges, von Gor Lucegaths Magie Unberührtes in dieses Zimmer?

Nachdem Arámaú aus heiterem Himmel aufgesprungen und weggerannt war, hatte ich endlich gewagt, nach Yalomiros Hand zu greifen. Seine Finger waren kalt und kraftlos. Trotzdem tat es gut, ihn zu berühren und festzuhalten. Fast, und irgendwie wusste ich, dass das nicht fair war, war ich erleichtert, dass die Schattensängerin uns für den Moment allein gelassen hatte.

„Danke”, sagte ich.

„Wofür?”

„Ich weiß, wie sehr ihr alle euch vor Schattensängern fürchtet. Du hilfst ihm.”

„Er braucht ja offensichtlich Hilfe. Ich wäre eine schlechte doayra, wenn ich selbst zu bestimmen hätte, wer Hilfe verdient und wer nicht. Aber es ist ein Wunder, dass er überhaupt atmet. Seine Lebenskraft scheint völlig aus dem Gleichgewicht zu sein. Wie lange hat er durchgehalten?”

„Dreizehn Tage.”

Sie blickte auf. „Das ist mehr, als ich mit Herrn Waýreth hierher gebraucht habe.”

„Ich glaube, Zeit funktioniert hier anders als in Valvivant. Sie verschwimmt.”

Sie wrang ihr Tuch aus und tupfte dann konzentriert an Yalomiros Arm herum. „Es wäre langsam an der Zeit, dass du mir sagst, wer du bist, und wo du herkommst. In welchem yarlmálon wirst du vermisst?”

„In gar keinem. Es ist kompliziert.”

„Sag es einfach.”

„Ich komme aus einer anderen Welt.”

„Ach so.”

„Ich sage doch, du glaubst es mir nicht.”

„Natürlich glaube ich dir. Nur so ergibt alles Sinn. Ich habe mir gleich gedacht, so unbedarft, wie du in Valvivant aufgetreten bist, kann doch selbst jemand mit einem akuten Gedächtnisschwund nicht sein. Gut, man kann vergessen, wer man ist und wo man herkommt – aber doch nicht, in welcher Reihenfolge man sich ein Gewand anzieht. Oder dass die Mächte uns den hýardor zeigen.”

„Ich hatte zum ersten Mal ein solches Kleid am Körper.” Ich wollte mich noch weiter rechtfertigen, stutzte aber. „Du wunderst dich gar nicht, dass es eine andere Welt gibt?”

„Nein. Die Mächte sind so alt und unermesslich, da wäre es doch überaus seltsam, wenn es nur dieses eine Weltenspiel gäbe.”

„Ich war ziemlich überrascht, als ich plötzlich hier war …”

Sie tränkte ihren Lappen erneut in Seifenwasser. „Es ist ganz einfach”, sagte sie. „Wenn die Leute sich im Winter und an langen Regentagen die Zeit vertreiben wollen, spielen sie schließlich auch. Da gibt es Spiele mit Würfeln, mit Karten, mit Figuren und Brettern. Jedes hat seine eigene Schatulle. Ordnung muss schließlich sein. Aber trotzdem mag es zuweilen vorkommen, dass in der Eile oder Unachtsamkeit ein Würfel oder ein Spielstein in die falsche Schachtel gerät.”

„Das klingt einleuchtend…”

„Es heißt”, plauderte sie weiter, „dass der Oberste der ruhmreichen Regenbogenritter einst auch aus einer anderen Welt gekommen sein soll. Pataghíu soll ihn gesandt haben, als die fajiáe [Feen] in großer Not waren. Wenn dem so ist, wärest du bei weitem nicht die erste, die es in die falsche Schachtel verschlagen hat. Wichtig ist nur, dass am Ende alles wieder an seinen Platz kommt.”

Ich starrte sie verblüfft an. Sollte ich tatsächlich nicht die einzige Person sein, die sich in eine andere Wirklichkeit verirrt hatte? Oder veralberte sie mich gerade?

„Isan … ich weiß nicht, wie ich dich das fragen soll. Aber da, wo ich herkomme, scheint das … Weltenspiel anders zu funktionieren als hier. Was hat es mit den Mächten auf sich, von denen ihr immer redet?”

Sie blickte irritiert auf. „Wie meinst du das?”

„Yalomiro sagt, er verehrt eine Macht namens Noktáma. Den Namen Pataghíu habe ich jetzt auch schon mehrfach gehört. Soweit ich es verstehe, ist das eine Macht der Regenbogenritter. Und …” Mir wurde klar, dass es nichts bringen würde, nun eine theologische Diskussion anzustoßen. Vielleicht gab es hier lediglich ein Problem mit der Begrifflichkeit.

„Was hat es mit diesem Weltenspiel auf sich?”

„Oh weh. Gibt es hier in der Burg nicht forscoray [Gelehrte], die dir das erklären könnten? Davon verstehe ich nicht viel.”

„Mir reicht das, was du darüber weißt.”

Isan wrang ein Tuch aus. Das Wasser im dritten Eimer war beinahe sauber. Dank Isan waren fast alle alten Wunden gesäubert.

„Also: Pataghíu, Noktáma und das Licht wirken auf unbegreifliche Weise zusammen, damit das Weltenspiel in Bewegung bleibt. Damit die Dinge ihren Lauf gehen. Damit es Sommer und Winter gibt zum Beispiel. Damit die Pflanzen wachsen und die Menschen leben und so.”

„Und wer gewinnt am Ende?”

„Am Ende?”

„Muss es bei einem Spiel nicht immer einen Gewinner geben?”

Isan lachte und klang dabei unvermittelt unbehaglich. „Oh nein! Sobald es einen Gewinner gäbe, wäre das Spiel vorbei! Dann wäre es aus mit Sommer und Winter und Pflanzen und Menschen.”

Ich dachte nach. Dieses Konzept erschien mir eine Spur zu einfach zu sein.

„Und wenn die Mächte beginnen, sich zu langweilen?”, fragte ich. „Wenn sie einfach nicht weiterspielen? Wenn einer beginnt, zu mogeln, oder …”

„Die Mächte mogeln nicht! Hör auf, so lästerlich zu reden!”

„Aber Spielverderber gibt es doch immer!”

„Du solltest besser mit forscoray reden”, unterbrach sie mich. „An so etwas wagt kein gescheiter Mensch zu denken. Jetzt bin ich an der Reihe. Wie ist es in deiner Welt? Hast du dort einen hýardor?”

„Nein.”

„Warum denn nicht?”

„Interessierst du dich eigentlich auch für etwas anderes als für Männer?”

„Doch, für Geschmeide, Konfekt und Turniere. Aber das haben wir gerade alles nicht hier. Dafür haben wir hier noch eine Weile zu tun, bis seine Wunden versorgt sind. Wer weiß, wann wir wieder unbehelligt miteinander reden können. Also: Wer bist du – in deiner Welt?”

Nicht.

Ich zuckte zusammen. Unter meinen Fingern hatte ich etwas gespürt, kurz und heftig, etwa so wie eine winzige elektrische Entladung an einem Wolltuch. Und ich hatte ihn gehört. Ein Hauch, aber ein vertrautes Wispern in meinem Kopf. Mein Herz klopfte schneller. Kam er zu sich?

„Ich darf es dir nicht sagen. Nicht jetzt. Es wäre nicht gut.”

„Das ist gemein”, murrte sie. „Nie sagt mir jemand, was los ist.”

„Ich erzähle dir alles, wenn das hier durchgestanden ist.”

„Dann erfahre ich es nie. Herr Waýreth will nicht länger als diese eine Nacht hierbleiben.” Sie dachte einen Augenblick nach und meinte dann beiläufig: „Vielleicht könntest du mit uns kommen? Oder bist du hier gefangen?”

„Ich weiß nicht recht. Nein, ich glaube nicht, dass ich gefangen bin. Aber ich kann hier nicht weg. Ich darf ihn hier allein lassen.”

„Ich kann nicht sagen, wie lange er auf dieser Seite der Träume bleibt. Vielleicht ist es bald vorbei. Die kleinen Wunden sind nicht so schlimm, doch wenn sein Herz nicht bald kräftiger schlägt, wird er nicht mehr aufwachen. Er hat viel Blut verloren. Es ist nicht gut, wenn der Rest durch seine Adern tröpfelt wie ein Rinnsal in einem Feldwassergraben im Sommer, das die Wurzeln nicht mehr erreicht.”

„Kannst du etwas dagegen unternehmen?”

„Ich versuche es ja! Aber wie konnte es so weit kommen? Ich hatte gedacht, die Schwarzmäntel seien unbezwingbar.”

„Was hätte er denn machen sollen?”, brach es aus mir heraus. „Er hatte keine Chance. Gor Lucegath hat ihm das angetan. “

„Aber du weißt schon, dass die Rotgewandeten Furcht vor den Schwarzgewandeten haben, nicht wahr?”, fragte sie.

„Wie bitte?”

„Verta hat es mir erzählt. Öfter, als es mich interessiert hat. Sie hatte viele grausige Geschichten über die Chaoskriege und all die alten Geschehnisse. Verta sagt, es muss ein Gemetzel gewesen sein, das das Gleichgewicht zwischen den Magiern durcheinandergebracht hat.”

Das Gleichgewicht hatte Yalomiro erwähnt, als er mir von den Kriegen erzählte. Dennoch war ich skeptisch, dass die Schattensänger die Oberhand gehabt haben sollten. „Das kann ich nicht glauben.”

„Dann glaube es eben nicht. Ich sage nur, was ich gelernt habe. Wenn er gewollt hätte, hätte er den Lichtwächter sicher getötet. Bist du freiwillig mit ihm gegangen? Oder hat er dich an sich gebannt?”

„Was? Nein!”

„Wie ist es möglich, dass du nicht zu Schaden gekommen bist?”

„Isan, hör endlich mit den Schauergeschichten auf! Dieser Magier hier ist kein monströser Unhold! Er gibt mir etwas, was ich mein ganzes Leben noch bei keinem anderen Mann gespürt habe.”

„Alles verzehrende Begierde?”, fragte Isan. In ihren Augen flammte Sensationslust auf.

„Nein. Geborgenheit. “

„Oh.” Sie errötete, als hätte ich sie bei einer peinlichen Bemerkung ertappt. „Dann bist du verliebt in ihn?”

Verliebt … nein. Das klang so harmlos, so banal. Wie die naive Schwärmerei eines unreifen Teenagers. Wie etwas, womit ich mich in meinem alten Leben so lächerlich gemacht hatte. In dieser Welt war das anders.

„Nein, Isan. Ich glaube, er ist mein hýardor. Noktáma hat mir hier meinen hýardor gezeigt.”

***

Arámaú hätte es nicht ertragen, bei den unverständigen Unkundigen zu bleiben, nachdem sie begriffen hatte, was mit Yalomiro geschehen war. Der Rotgewandete hatte offensichtlich nicht nur sein Vergnügen daran gehabt, ihn bis an den Rand der Träume zu quälen. Gor Lucegath hatte ihn markiert, ihn mit seinem abscheulichen Schwert als seine Beute gekennzeichnet. Ein Anspruch, den keine Macht, keine Magie jemals würde aufheben konnte. Selbst der Rotgewandete selbst würde es nicht zurücknehmen können. Das änderte so viel, machte alles so kompliziert.

Die Schattensängerin schlich unruhig über die Flure und versuchte, ihre jagenden Gedanken zu sammeln. Sie ertrug es ebenso wenig, dass die beiden unkundigen fánjulaé mit ungeschulten Mitteln an ihm herumpfuschten. Sicher, sie taten es in bester Absicht, das musste man ihnen zugestehen. Vielleicht würden sie es sogar fertigbringen, ein wenig Flickwerk auszuführen.

Wenn ich nur in meinen Menschenkörper zurückkönnte, dachte sie. Es wäre so leicht, wenn ich nur einmal noch zaubern könnte… nur ein wenig Magie in ihn hinein singen. Seine maghiscal neu anfachen. Ihn zur Vernunft bringen. Oh, Noktáma, was soll ich nur tun?

Arámaú schämte und verfluchte sich zugleich. Der Vorwurf der ujora, die um die Fähigkeit der camata’ay wusste, zu heilen und Energie zu teilen, lastete schwer auf ihr.

Aber was wusste die Unkundige schon? Sie war nicht dabei gewesen, als Gor Lucegath die Schattensänger aus Valvivant, aus der Halle des teirand nach Pianmurìt gezerrt hatte, wie Fische in einem Netz aus unbegreiflicher, aus unmöglicher, aus geradezu pervertierter Magie. Die Unkundige hatte nicht nicht zusehen müssen, wie der Rotgewandete die mächtigsten Meister, die stärksten Schüler getötet und dabei so achtlos ihre Geheimnisse erbeutet hatte.

Arámaú steckte in einem Dilemma. Vielleicht könnte es ihr gelingen, Yalomiros Magie wieder zu entfachen. Aber dazu musste sie den Katzenkörper verlassen. Keinen Lidschlag später würde Gor Lucegath sie packen und auslöschen. Es wäre kein Gewinn damit zu machen. Es war ein zu großes Risiko, solange Yalomiro selbst noch einen Rest eigener Magie in sich hatte, so verfault und verdünnt er sein mochte.

Irgendwann war die Katze durch ein Fenster gestiegen und auf dem Mauersims entlang geschlichen, hatte immer wieder Halt gemacht und nachgesonnen. Finstere Gedanken waren es. Schmerzerfüllte Gedanken. Enttäuschte Gedanken.

Wie sehr hatte sie gehofft und Noktáma angefleht, dass Yalomiro eines Tages wieder zu ihr zurückkehren würde. Wie hatte sie sich ausgemalt, wie sie beide zusammen, in einem letzten vereinten Kampf, dem Rotgewandeten alles heimzahlen würden was er, was seinesgleichen den camat’ay angetan hatte.

Sollte all das nun scheitern, wenn die Unkundige Yalomiros Seele vergiftet hatte, mit einer Empfindung, die nicht für ihresgleichen bestimmt war? Die ihn sicher um den Verstand bringen würde? Wie bei allen Mächten hatte diese unselige unkundige Liebe in Yalomiros Schattensängerseele nur eine Stelle finden können, um anzuhaften und Wurzeln zu schlagen?

Arámaú hatte sich an ihrem düsteren Zorn berauscht und ausgehalten, Sommer um Winter, während die Zeit verstrich und doch Pianmurít nicht erreichte, während Wijdlant dahinsiechte. Arámaú hatte die ujoray beobachtet und immer mehr Mitleid mit ihnen gehabt, mit jedem Einzelnen, mit Generationen, die kamen und gingen. Wie mochte es sich anfühlen, ohne Magie und dem Rotgewandeten ausgeliefert zu sein? Sie hatte Kíaná von Wijdlants yarlay, gestandene, tapfere Männer so lange weinen sehen, bis ihre Tränen versiegten und sie zu hoffnungslosen, dumpfen Geschöpfen wurden. Alles, was sie am Leben hielt, war ihre Furcht und ihre Sorge um jene, die ihnen etwas bedeuteten. Ein alter Vater, eine junge hýardora, ein kleines Kind.

Aber war nicht auch das diese schreckliche und unerträgliche Liebe? Hatten die Bewohner von Wijdlant sich ihre Seelen gegen das Verderben von Pianmurít möglicherweise erhalten, weil jeder von ihnen irgendjemanden liebte? Weil sie einander in ihrer Zuneigung, in ihren Freundschaften Halt gaben? Arámaú hatte nie zuvor darüber nachgedacht.

Eines Tages war Andriér Altabete zurückgekehrt, von einer dieser Reisen, die er mit falschen Erinnerungen und in magischen Fesseln unternehmen musste, um den Schein zu wahren. Er hatte etwas mitgebracht von dieser Reise.

Hoffnung.

Er war jemandem begegnet, an den er sich erinnerte, ohne zu wissen, was er mit dieser Begegnung, mit dieser Bekanntschaft anfangen sollte. Hatte Gor Lucegath es bemerkt? Dem Bedeutung beigemessen? Vielleicht toleriert, weil er sich irgendetwas davon versprach? Arámaú wusste es nicht zu sagen. Aber sie hatte Altabete nicht aus den Augen gelassen, gespürt, wie die Erinnerung sich in seinem Unterbewusstsein festigte, in seiner Verzweiflung zu einer trügerischen Hoffnung mutierte. Arámaú hatte Mitleid mit ihm gehabt. Waýreth Althopian diesen verhängnisvollen Brief zu schreiben, war der Höhepunkt der dummen Ideen gewesen, den Unkundigen in ihrer Not zu helfen, indem sie in ihr Schicksal eingriff.

Es brachte Unheil, sich in die Geschäfte der Unkundigen einzumischen. Man brachte sie in Gefahr. Sie brachten einen in Bedrängnis. Bei den Mächten, wieso hatte Yalomiro sich nur auf die ujora eingelassen!

Mit solchen düsteren Ideen war die Katze einmal in der Höhe um das Haupthaus herumgegangen und fand sich unversehens am Fenster der teiranda wieder. Dort war jemand. Die Schattensängerin hielt den Atem an, schlich samtpfötig näher, schlüpfte im Schutz des schweren Wollvorhangs auf die Fensterbank und spähte in das Zimmer.

Die teiranda stand, der Tür den Rücken zugekehrt, vor dem Spiegel, der nur noch aus Rahmen und Rückwand bestand. Sie blickte mit ausdruckslosen Augen gegen das Brett. Sie war unbekleidet. Was mochte sie sehen in ihrer Einbildung? Die teiranda wirkte so gebrochen und einsam. An wem hielt ihre Seele sich fest?

Arámaú zögerte. Etwas war so anders an der jungen Frau, anders als sonst. Sie fühlte sich lebendiger an, als die Schattensängerin es in all den Sommern und Wintern von ihr gewohnt war. Ob sie sich das näher anschauen sollte?

Kíaná von Wijdlant wandte sich vom zerschmetterten Spiegel ab und ließ sich davor auf dem Boden nieder. Sie schien nach Tränen zu suchen, aber sie konnte nicht weinen. Ihre Hände, mit denen sie die Scherben zusammengeklaubt hatte, waren wieder ganz heil, bis auf eine winzige Narbe an ihrem linken Ringfinger. Kíaná von Wijdlant strich nachdenklich mit dem Zeigefinger der rechten Hand darüber und starrte unbeweglich vor sich hin.

Die Schattensängerin dachte einen Moment nach. Sich im Gemach der teiranda zu verstecken und sie eine Weile zu beobachten, wäre kein Problem. Vielleicht ließ sich auf diese Weise sogar etwas Nützliches in Erfahrung bringen. Behutsam stieg die Katze über den irdenen Zierrat auf der Fensterbank hinweg in den Raum.

Doch noch während sie ins Zimmer springen wollte, klopfte es an der Tür.

„Kommt herein, Meister”, rief die teiranda, ohne aufzublicken. Offenbar hatte sie ihn erwartet.

Arámaú reagierte geistesgegenwärtig und ließ sich kopfüber in die dickbäuchige Bodenvase unterhalb des Fensters fallen und kauerte sich zitternd zusammen. An einem schlechteren Ort zur falschesten Zeit zu sein war ihr schon lange nicht passiert. Aber solange sie sich leise verhielt … aus dem Katzenkörper drang keine Magie hervor. Mit etwas Glück und Noktámas Fürsorge würde er sie nicht bemerken. Hoffentlich.

Die Vase hatte in ihrem oberen Drittel in dekoratives Lochmuster. Arámaú linste hindurch.

Der Lichtwächter trat ein. Die teiranda schien sich ihrer Nacktheit nicht bewusst zu sein. Gor Lucegath zeigte sich unbeeindruckt davon. Er ließ sich wortlos in ihrem Frisiersessel nieder und wartete.

„Ist jener gekommen, der für mich bestimmt ist?”, fragte sie leise.

„Nein. Noch nicht.”

„Aber …”

„Ihr könnt nicht alles haben, was Euch gefällt. Hat Euch das niemand gelehrt, als Ihr eine kleine teirandanja [~ Prinzessin] wart?” Der Rotgewandete sprach mit sanfter, nachsichtiger Stimme zu ihr. „Manchmal lohnt es sich, zu warten. Überlasst den Mann zunächst mir. Ich habe eine wichtige Aufgabe für ihn, die zu Euren Gunsten sein wird.”

Arámaú spitzte die Ohren. Aber er erklärte sich nicht, und die teiranda hakte nicht nach.

„Ich frage mich manchmal”, sagte sie stattdessen zögernd, „wer ich war – vorher. Bevor Ihr kamt. Ich glaube, ich habe es vergessen.”

„Ihr wart einsam. Einsam und erfüllt von Trauer und Zorn.”

„Das ist wahr. Ihr habt mir Trauer und Schmerz genommen. Aber nun fühle ich mich so nichtig und schwach. Wie eine hohle Nussschale.”

„Herrin”, sagte der Rotgewandete geduldig, „Ihr seid schön und begehrenswert. Ihr seid frei von Kummer und Leid. Bald werdet Ihr sogar einen hýardor haben, und Pianmurít wird sich über das Weltenspiel ausbreiten wie eine schützende Decke.”

„Manchmal”, sagte sie leise, „ sind noch Stimmen und Bilder in mir. Ich sehe die Gesichter von Leuten, aber ich finde sie nicht unter meinem Gefolge. Es ist, als wehten die Erinnerungen an mir vorbei, wie Dunst. Ich weiß nicht einmal, wie lange das schon so geht.”

„Diese Stimmen und Bilder, die Euch noch quälen, werden bald vollends verblassen wie ein böser Traum. Wenn ich am Ziel bin, wird alle Traurigkeit, aller Schmerz enden. Alles wird sein, wie es gut ist.”

„Versprecht ihr mir das?”

Der goala’ay seufzte. „Ich sollte wohl schleunigst diesen Spiegel reparieren”, meinte er dann und erhob sich. Arámaú schauderte. Sie spürte, wie der Rotgewandete seinen Blick auf die Vase richtete. Es war ein schreckliches Gefühl.

„Ihr werdet Euch verkühlen, wenn Ihr unbekleidet in der Nachtkälte sitzt”, sprach er sanft zu ihr. „Ihr solltet Euch zumindest ein Nachtgewand überwerfen, findet Ihr nicht auch?

Noktáma, gütige Mutter der Dunkelheit, bitte lass ihn nicht in diese Vase schauen, flehte die Katze wortlos.

Dann hörte sie, wie Gor Lucegath sich näherte, zum Fenster hinüber kam. Einen Augenblick lang verharrte er dort.

Arámaú schloss die Augen. Ihr Fell sträubte sich. Sie wollte fliehen, aber sie zwang sich dagegen an.

Er zog den Vorhang beiseite, schob den hölzernen Laden zu, den Riegel vor und den Stoff wieder darüber.

„Gute Nacht, Herrin. Il ay’ra.

Es wurde finsterer im Zimmer. Offenbar hatte er die Lichter am Tisch gelöscht. Arámaú hörte, wie er sich entfernte. Die Tür schloss sich.

Eingesperrt! Bei der teiranda! Arámaú verbiss sich einen Fluch und schaute aus der Vase heraus.

Kíaná von Wijdlant saß im Finsteren immer noch am Boden vor dem leeren Spiegel. Ihr erschöpftes, gramvolles Gesicht war ausdruckslos.

Dann stand sie auf und tappte, wie bedämmert, hinüber in ihren Schlafbereich. Als sie an dem zugeklappten Bild an der Wand vorbeiging, zögerte sie. Kurz hob sie die Hand und ließ sie wieder sinken. Dann löschte sie ihre Nachtlaterne und schlüpfte unter ihre Decke.

Arámaú wartete noch, bis sie sicher war, dass die junge Frau schlief. Dann kletterte sie aus ihrem Versteck heraus und schaute sehnsüchtig zur Tür auf, die sie in dieser Gestalt nicht öffnen konnte.

Die Schattensängerin versetzte der Vase einen wütenden Tatzenhieb, rollte sich zusammen und wartete auf die Zofen, die ihre Gebieterin am Morgen wecken würden.