Der Duft der Kräutersalbe hatte den unangenehmen Geruch der abgestorbenen Magie nun endgültig aus dem Raum verdrängt. Irgendwann war Isans Heilcremetiegel bis auf einen winzigen Rest leer und Yalomiros fahle Haut bedeckt von einem blaugrünen Film, der aushärtete und vermutlich wie ein steriles Wundpflaster wirkte. Isan drückte mir das Döschen in die Hand. „Da. Behalt den Rest. Ich mache neue, sobald ich an frisches Wachsfett komme.”

Ich griff nun zu und überlegte kurz, ob ich doch selbst etwas davon auf meine Arme auftragen sollte. Aber das war fast nicht mehr nötig. Die Striemen waren bereits zu einer kaum sichtbaren Rötung verblasst. Das war sonderbar, wunderte mich aber nicht allzu sehr. Vielleicht waren Arámaús Krallen weniger gefährlich als gedacht.

„Achte darauf, dass die Salbe mindestens zwei Tage auf den Wunden bleibt. Wenn er bis dahin nicht wieder zumindest Lebenszeichen von sich gibt, ist es ohnehin zu spät für ihn. Ich habe getan, was ich konnte.”

„Und nun?”

„Nun gehe ich und mache mich auf die Suche nach yarl Althopian.”

„Ich verstehe.”

Wir schwiegen uns an. Mir war seltsam zumute. Einerseits war es so beruhigend, so tröstend gewesen, wieder ein bekanntes Gesicht zu sehen, die Lebendigkeit zu spüren, die Isan ausstrahlte. Ich mochte das Mädchen sehr und hätte mich gern viel ausführlicher mit ihm unterhalten und weiter angefreundet. Andererseits war mir völlig klar, dass sie so zügig wie möglich die Burg und am besten gleich auch Wijdlant verlassen musste, bevor Gor Lucegath sie – und den freundlichen Ritter – auch noch in seinen Bann zog. Ich hoffte, dass Waýreth Althopian wohlauf war und sich ein anderes Abenteuer suchen würde.

„Ich habe Hunger”, sagte Isan, sicherlich, um sich höflich entfernen zu können.

„Ich würde dir gerne etwas anbieten. Aber heute ist so viel Verwirrendes passiert, dass man mich hier nicht versorgt hat.”

„Macht nichts. Du kannst mir ja zeigen, wo hier die Küche ist.”

„Nein. Kann ich nicht. Ich … ich kann dieses Zimmer nicht verlassen.”

„Du meinst, du darfst es nicht verlassen? Haben sie dich doch eingesperrt?”

„Nein. Ich kann es nicht, selbst wenn ich wollte. Es ist schwierig, zu erklären.”

„Nun, ich werde etwas finden”, sagte sie zuversichtlich. „Herrn Waýreth werde ich auch finden. So lange kann die Unterhaltung mit dem Lichtwächter wohl nicht dauern. Irgendjemand wird schon wissen, wo er steckt. Ich frage mich, was der Magier mit Verta zu schaffen hat. Nun, das bekomme ich heraus.”

Ich machte mir Gedanken darüber, wie eine Begegnung mit dem Rotgewandeten wohl für den yarl verlaufen sein mochte. Es stand zu hoffen, dass Gor Lucegath ihn, und sei es um der Launen der teiranda willen, in Ruhe gelassen hatte.

„Ich würde ja hier bei dir bleiben und mit dir plaudern. Aber du musst verstehen … ich kann meinen Herrn nicht so lange allein lassen. Außerdem möchte ich nicht anwesend sein, falls der da”, sie nickte in Yalomiros Richtung, „doch noch urplötzlich zu Bewusstsein kommt. Sicherheitshalber. Man weiß ja nie.”

„Natürlich.”

„Ja dann”, sagte sie und schulterte ihre Medizintasche. „Ich hoffe, wir werden uns wieder begegnen – seltsame Ujora aus einem unbekannten Weltenspiel.”

Mir saß ein Kloß im Hals. Der Gedanke, dass dies ein Abschied für immer sein konnte, bedrückte mich. „Bitte, Isan … pass auf dich und deinen Herrn auf. Du darfst ihm alles erzählen, wovon ich dir berichtet habe. Vielleicht hat er eine Idee, was zu tun ist. Aber hütet euch vor dem Rotgewandeten. Hinterfragt alles, was er zu euch sagt. Ich will dich so gern wiedersehen, dich und den yarl.

Sie nickte. Offenbar ging ihr dieser Abschied auch nahe. Sie senkte energisch den Blick, zog die Tür auf und lief direkt in Gor Lucegath hinein.

Ich glaube, ich habe schrill aufgeschrien. Isan wich rückwärts wieder zurück in den Raum. Mit erschrockenen Augen schaute sie zu dem maskierten goala’ay auf.

Er trat ein und schnitt ihr dabei so geschickt den Weg ab, dass sie nicht an ihm vorbeischlüpfen konnte. Die Tür zog er beiläufig hinter sich zu.

„Ich wollte soeben anklopfen”, sagte er dabei, entspannt und ohne jeden bedrohlichen Beiklang in seiner Stimme. „Offenbar bin ich gerade rechtzeitig gekommen, um dich hier noch anzutreffen, junge doayra.”

„Meister”, wisperte Isan, verneigte sich und starrte auf den Boden. Ihr Selbstbewusstsein war wie weggeblasen. Das anzusehen, tat weh.

Der Rotgewandete kam an das Bett heran und betrachtete den verarzteten Schattensänger einen Moment lang. Dann streckte er mir die Hand entgegen. Es dauerte einen Augenblick, bis ich begriff, dass er den Salbentiegel haben wollte. Ich gab ihm das Gefäß.

„Ausgezeichnet. Das ist allein dein Werk gewesen, fánjula?”

„Ich … ja. Ja, das habe ich gemacht. Die Salbe auch.”

„Du hast viel Talent.”

Isan blickte frappiert auf.

„Danke, Meister. Ich habe eine sehr gute Lehrherrin.”

„Ich weiß.” Der Rotgewandete roch an dem Tiegel. „Hast du zerstoßene Taublütensamen in deiner Salbe?”

Isan starrte verwirrt, als er einen winzigen Rest der Paste zwischen den Fingern zerrieb. „Nein, Meister.”

„Warum nicht?”

„Es wächst nicht auf dieser Seite des Montazíel …”

„Was hast du stattdessen genommen?”

„Blaues Torfkraut”, antworte das Mädchen. „Ein Auszug aus den getrockneten Wurzeln.”

„Interessant.”

„Es ist nicht so wirkungsvoll wie die Samen von der Taublüte”, plapperte Isan verwirrt weiter. „Aber es wächst in rauen Mengen im yarlmálon Lebréoka, und…”

„Ich weiß. Du musst mich nicht belehren, Mädchen.”

Sie verstummte und duckte sich zusammen.

„Das Torfkraut ist nützlich, aber es macht deine Salbe erheblich rascher verderblich”, fuhr der goala’ay munter fort und gab mir den Tiegel zurück. „Doch du hast im Rahmen dessen, was dir möglich und zugänglich war, sehr gute Arbeit geleistet. Erlaube mir, dich dafür zu entlohnen.”

Er förderte ein kleines klares Gläschen mit einem Korken darauf hervor, das etwas enthielt, das wie winzige blaugrüne Linsen aussah. Er hielt es Isan hin.

Sie betrachtete das Gefäß verdattert und rührte sich nicht.

„Nun nimm es schon. Es ist mehr als angemessen dafür, dass du wieder hergerichtet hast, was ich wohl in etwas zu großem Eifer lädiert habe.”

Sie nahm das Gläschen zögernd entgegen. Dann barg sie es mit beiden Händen an ihrer Brust wie einen Schatz. „Danke, Meister”, wisperte sie.

„Ich würde vorschlagen, dass du bei nächster Gelegenheit deine Medizin auffüllst”, plauderte der goala’ay weiter. „Mag sein, dass dein Herr es brauchen könnte.”

„Was habt Ihr mit yarl Althopian gemacht?”, rutschte es mir heraus.

„Ich hatte ein ausgesprochen anregendes Gespräch mit ihm. Wir haben zwei, drei Becher Wein getrunken und über Diplomatie, Damen, die uns am Herzen liegen und die günstigste Reisestrecke von hier aus nordwärts gesprochen. Ich denke, sobald er wieder nüchtern ist, wird er sich mit seiner verständigen Begleiterin gleich wieder auf den Weg machen.”

Nüchtern? Aber…”

Er bedeutete mir, zu schweigen. Ich biss mir auf die Lippen. Doch auch Isan wirkte perplex. Sie schien sich den untadeligen Ritter angetrunken nicht vorstellen zu können.

„Armer Yalomiro Lagoscyre”, fuhr Meister Gor fort und neigte sich über den Bewusstlosen. „Da muss also eine halbgelernte unkundige doayra kommen, um deinen Körper zu flicken. Doch zumindest das ist geglückt. – Geh nun, Mädchen. Lass dir von irgendjemandem etwas Essbares geben und einen Schlafplatz zuweisen. Ein paar Stunden Ruhe solltest du dir gönnen. Spätestens morgen um die Mittagszeit will ich dich und deinen Herrn spätestens aus diesen Mauern heraus wissen. Länger kann ich die teiranda möglicherweise nicht im Zaum halten in ihren … Begehrlichkeiten. Das würde ich Herrn Waýreth gern ersparen.”

„Ja, Meister. Darf ich noch wissen, wo yarl Althopian jetzt ist?”

„Ich habe die yarlay, die verdächtig unauffällig vor dem Turm herumlungerten gebeten, ihn aus meiner Stube zu entfernen. Ich weiß nicht, wo sie ihn hingebracht haben. Wie gesagt, Herr Waýreth war ziemlich betrunken. Es sollte genügen, wenn du einen der Herren findest, der dich zu ihm bringt. Der yarl ist ganz gewiss nicht ohne dich abgereist. Nicht in diesem Zustand.”

Sie verneigte sich nochmals, aber die Geste war nicht mehr demütig. Es war vielmehr, als hätte das kleine Geschenk sie … dankbar gestimmt. Ich schauderte. Gelang es Gor Lucegath wirklich so einfach, Menschen zu bestechen?

„Geh”, wiederholte der Rotgewandete, ohne sich ihr noch einmal zuzuwenden. Isan schlüpfte aus dem Raum und seiner Reichweite.

Nun waren wir allein miteinander. Yalomiro lag leblos zwischen uns. Die grauen Augen unter Gor Lucegaths Maske musterten mich prüfend.

„Du musst dich nicht wundern”, erklärte er dann. „Meinesgleichen ist seit jeher mit jeglicher Art von Arznei bewandert. Deine junge Freundin weiß das. Ich denke, mein durchaus aufrichtig vorgebrachtes Lob hat ihr behagt.”

„Mich wundert”, sagte ich, nur um nicht vor ihm zu schweigen, „dass Ihr Euch mit Heilpflanzen abgebt, wenn Ihr doch Magie habt.”

„Nun, es nützt den Unkundigen nichts, wenn wir die Magie haben, aber nicht in der Nähe sind, um sie zu wirken. Wenn du es so willst, hat meinesgleichen heilende Magie in Pflanzen übersetzt. Das ist zwar weit weniger effektiv und sicher, aber in talentierten Händen zumindest ein Behelf.”

„Soll das heißen, die goala’ay haben Unkundige die Heilkunst gelehrt? Früher einmal?”

Er lächelte müde. „Früher …”, wiederholte er. „Ja. Das ist sehr lange her. Die Unkundigen haben selbst viel dazugelernt, seit damals. Aber genug von alten Dingen. Wie geht es hier nun weiter? Du hast bekommen, was du wolltest. Ich habe ihn für dich aus Pianmurít entlassen. Du hast mir etwas versprochen, Ujora. Worauf wartest du?”

„Ihr seht selbst, dass er noch nicht wieder bei Bewusstsein ist. Isan fürchtet, er könne sterben.”

„Unsinn. Welch ein Stümper wäre ich, würde ich riskieren, dass mir ein Schattensänger vor der Zeit unter den Händen stirbt. Aber was sein Bewusstsein und seinen Lebenswillen betrifft, Ujora… Ich bin bestürzt, dass du nicht augenblicklich das Richtige getan hast.”

„Das Richtige? Wie meint Ihr das?”

„Für wie dumm hältst du mich?” Nun wurde er ungeduldig mit mir. „Denkst du, ihr beide hättet die Zeit, bis seine Kraft sich von selbst wieder entfaltet, wie ein mächtiger Baum aus einem Samenkorn? Habe ich mich denn so sehr getäuscht? Hattet ihr zwei nicht schamlos untereinander Magie und Lebenskraft ausgetauscht wie… wie jemand, der Wasser und Wein verpanscht?”

Ich duckte mich unter seinen aufgebrachten Worten. „Ausgetauscht?”, fragte ich verstört.

„Halte mich nicht zum Narren, Ujora. Ich weiß genau, dass er einen Teil seiner Magie in dich hineingesungen hat. Glaubst du denn, das hätte er ohne Hintergedanken getan? Als hätte er nicht geahnt, dass er eine Reserve von seiner Kraft auslagern und verbergen muss, genau für den Fall, dass er ernsthaft in meine Gewalt gerät, sobald er sich Wijdlant nähert?”

„Aber …”

„Hat er Magie mit dir geteilt oder nicht?”

„Doch”, gab ich verängstigt zu. „Aber doch nur, um mich zu stärken. Damit ich mit ihm durch den Schatten laufen konnte.”

Meister Gor schwieg einen Moment. Dann begann er, missfällig zu lachen.

„Wie einfältig kannst du sein, Ujora? Wie leichtgläubig bist du? Was genau denkst du, was er mit dir im Sinn hat? Was er wirklich mit dir gemacht hat, schön, harmlos und begehrlich verborgen in seinem Gesang und seiner Musik? Er hat herausgefunden, dass er dich benutzen und mit Magie versehen kann, wie er es mit dem Weltenschlüssel getan hat, wie mit einem unbelebten Objekt. Unfassbar, dass er in seiner Hoffart und Gewissenlosigkeit gewagt hat, es mit einem lebendigen Wesen zu versuchen, das Schaden daran hätte nehmen können! Ich hätte gedacht, die Episode mit dem Drachenkörper hätte ihm zu denken gegeben. Du hast ihm dein Leben angeboten, und nun meint er, er kann es haben, sobald es ihm Nützt.”

„Das ist nicht wahr!”

„Nein, du willst, dass es nicht wahr ist! Aber dadurch wird es nicht anders.”

„Er hat … er wollte mich ganz bestimmt nicht ausnutzen!”

„Nicht?”, fragte Gor Lucegath ungerührt. „Haben dich nicht dein Leben lang andere ausgenutzt und hintergangen? Warum denkst du, dass es bei ihm anders wäre?”

„Woher könnt Ihr wissen, was war, bevor …”

Er fiel mir ins Wort. „Was dieses Quäntchen Magie aus jener Nacht betrifft, Ujora, bist du nichts anderes als eine Vorratsdose. Ich könnte mir denken, dass ihn die ganze Geschichte insgeheim zutiefst amüsiert hat. Ich hoffe, du hast der Sache und seiner klangvollen Darbietung wenigstens noch ein wenig … fleischliche Beglückung für dich selbst abgewinnen können.”

„Hört auf!” Ich ertrug es nicht. Nicht genug damit, dass er Dinge über mich zu wissen schien, die ich niemals jemandem anvertraut hatte, nicht einmal Yalomiro. Mit jedem seiner Worte verzerrte sich etwas in meiner Erinnerung an jene magische Nacht am Waldrand. Das wollte ich mir nicht durch anzügliche Bemerkungen verderben lassen. „Das ist alles nicht wahr!”

Der Rotgewandete erhob sich. „Sieh zu, was du daraus machst”, sagte er. „Es wäre jedenfalls schade, wenn seine maghiscal verlischt wie die letzte Glut eines Feuers, bevor du einlöst, was du mir versprochen hast. Was tut man, wenn eine Flamme niederbrennt, Ujora? Weißt du es etwa nicht?”

Er schaute mich einen Moment an, als warte er auf eine Antwort. Aber ich war zu durcheinander vor Verwirrung, Scham und Wut, um etwas zu sagen.

Der Rotgewandete zögerte. Dann ging er um das Bett herum, auf die Seite, wo ich saß, und ließ sich neben mir auf ein Knie nieder. Er schaute mir ruhig in die Augen. Es war etwas in seinem Blick, eine Nachsicht und Milde, die mir Angst machte.

„Was, Ujora, ist bei dieser Sache eigentlich dein Begehr?”, fragte er sanft. „Was ist es, wonach du suchst, im Innersten deines Herzens?”

„Ich will, dass dieser Wahnsinn hier sich auflöst.” Ich schluchzte, wollte eigentlich vermeiden, in Gegenwart des Magiers zu weinen, aber ich konnte es nicht ändern. „Ich will, dass dieser Alptraum endlich beendet ist!”

„Das “, sagte der Rotgewandete nachdenklich, „ist ein sehr guter Anfang. Um aus alledem aufzuwachen, musst du jedoch selbst erst einmal in den Schlaf kommen. Nahe heran an die Träume. Möglicherweise sind die Träume ein besseres Terrain, um Aussprache zu halten. Denk darüber nach. Und du, Yalomiro Lagoscyre, deine Zeit verrinnt. Ruhe dich nicht allzu lange in deiner bequemen Bewusstlosigkeit aus.”

Er wandte sich ab. Im Hinausgehen löschte er mit einem Wink sämtliche Lichter im Raum. Es wurde nachtfinster.

Es ging nicht mehr. Ich ertrug es nicht länger. Ich krümmte mich zusammen und ließ meiner Verzweiflung freie Bahn. So lange, bis ich leergeweint war und die Erschöpfung mich packte. Ich weinte und schluchzte so hysterisch, dass man es sicher in der ganzen Burg hören konnte. Aber niemand kam, um nach mir zu sehen.

Es war mir vollkommen egal, ob Arámaú es erlaubt hätte oder nicht. Ich legte mich neben Yalomiro an den Rand der Matratze, legte meine Arme um ihn und schmiegte mich an ihn. Ich musste unbedingt spüren, dass er da war.