Verta kühlte die Stirn des teirand mit einem feuchten Tuch. Die alte Frau wachte seit Stunden an der Seite des Regenten und versuchte mit allem, was sie an nützlichen Mitteln und Tinkturen aufzubieten hatte, dessen Lebensgeister zu stärken.

Benjus von Valvivant war am frühen Morgen von seinen Kammerdienern aufgefunden worden – auf dem Fußboden seines Gemachs, inmitten von Erbrochenem und Blut, aber den Mächten zum Dank, lebendig. Es war allein yarl Tjiergroens Umsicht zu verdanken gewesen, dass sich diese schlimme Nachricht nicht wie ein Lauffeuer in den Gängen der Burg verbreitet hatte. Es galt eine strenge Regel am Hof von Valvivant, nämlich die, dass alles Ungewöhnliche, was den teirand betraf, zuallererst dem mynstir gemeldet werden musste. Der yarl ließ augenblicklich Verta rufen und alte Heilerin hatte sofort gewusst, was zu tun war. Die beiden Diener hatte sie mit dem Auftrag, schleunigst ein seltenes Harz aus den Wäldern von Valeísé zu besorgen, fortgeschickt, bevor sie Zeit fanden, zu tratschen. Tjiergroen hatte derweil, ebenso diskret, die anwesenden yarlay zusammengerufen.

Die Situation war ernst. Wenn Verta keine natürliche Erklärung fand, wollte jemand dem teirand ans Leben. Das war so ungeheuerlich, so unvorstellbar, dass es allzu leicht eine Panik hätte auslösen können. Es war an den Rittern, die Ordnung zu halten, bis sie Klarheit darüber hatten, was geschehen war; bis sie besonnen und sinnvoll handeln konnten. Zu oft, das wussten die Edelleute, hatten Gerüchte und Mutmaßungen zu größerem Unheil geführt, als es wert gewesen war.

Offiziell, so sagte es Tjiergroen dem Burgvolk an, lasse sich der teirand für den Tag mit einer Unpässlichkeit entschuldigen. Damit war das Gesinde vorerst besänftigt. Nun war es an den yarlay, zu handeln.

Der letzte yarl, der den Monarchen in besserem Zustand gesehen hatte, war Waýreth Althopian gewesen. Der Ritter aus dem teirandon Spagor hatte freimütig zugegeben, dass er den teirand, den seiner Aussage nach beim Abendessen in der Halle urplötzlich Übel- und Unpässlichkeit ergriffen hatte, in die königliche Kemenate geführt und dort gewartet hatte, bis der Monarch sich niedergelegt habe..

Dafür gab es, auf äußerst mysteriöse Weise, jedoch keinen einzigen Zeugen. Niemand schien sich zu erinnern, wie der teirand vom Tisch aufgestanden war, und niemand war ihm und seinem Gast auf den Weg in die Privatgemächer des Herrschers begegnet.

Danach, so berichtete Althopian, sei er selbst in den Saal zurückgekehrt, wo zwischenzeitlich das Mahl beendet und die Tafel aufgehoben wurde. Später hatte man ihn in der Halle in ernster Konversation mit der ehrenwerten eldyarlara von Ivaál gesehen, als sei nichts vorgefallen.

Dass die mysteriöse fánjula verschwunden war, war indes zwar allseits aufgefallen, hatte aber weder Verta noch Isan sonderlich beunruhigt. Die alte Frau war davon ausgegangen, die Fremde sei unbeachtet zu Bett gegangen. Isan hatte den ganzen restlichen Abend damit verbracht, Althopian zu beschatten. Diesbezüglich hatten sich die Dinge zu ihrer größten Zufriedenheit weiterentwickelt.

Den arglosen Waýreth Althopian hatten die Herren nach kurzer Beratung in seiner Gästekammer aufgesucht und ins Audienzzimmer neben dem Gemach des teirand eskortiert. Das hatte zwar einige verwunderte Blicke auf sich gezogen, aber da der yarl freiwillig und ohne Widerstand mit ihnen ging, war ein Eklat ausgeblieben.

Isan lauschte an der Tür und war in Gewissensqualen. Dass der yarl mit dem, was auch immer Benjus von Valvivant zugestoßen war, nichts zu tun hatte, stand ganz außer Zweifel. Das Mädchen selbst hatte mit eigenen Augen – aus einem Versteck hinaus – beobachtet, wie Althopian und die yarlara von Ivaál viel später fast die ganze laue Nacht im innigen Gespräch im Garten verbracht hatten. Unkeusches war dabei nicht geschehen, zumindest nicht, solange Isan die beiden im Blick gehabt hatte. Isan war sich sicher, dass die Haarnadel dem Ritter den Weg zu einem privaten Gespräch geebnet hatte, aus dem sich mehr ergeben würde. Die Dienerinnen der älteren yarlara, die in einem anderen Gebüsch ebenfalls auf Lauschposten gewesen waren, hatten ihr später zugestimmt. Die netten Mädchen freuten sich über den vornehmen Ritter an der Seite ihrer Herrin.

Dass er mit dem jetzigen Zustand des teirand etwas zu tun haben könnte, bestritt Waýreth Althopian energisch, so sehr der mynstir ihm im Nebenraum zusetzte und scharfe Fragen stellte. Er hätte sich auf das Zeugnis der Dame berufen können. Aber er tat es nicht.

„Nein, nein, nein”, wisperte Isan, zwischen Ärger und Entsetzen schwankend und versuchte, durch eine Fuge im Türblatt zu spähen. „Diese Schwachköpfe! Wieso verdächtigen sie ihn?”

„Weil er sich verdächtig macht”, sagte Verta unwillig. „Kind, nun geh von der Tür weg!”

„Verdächtig? Er hat die ganze Nacht mit … ich meine, er hat nichts gemacht!”

„Woher willst du das wissen? Warst du dabei?”

„J- … nicht die ganze Zeit.”

„Dann taugst du nicht zur Zeugin. Über den Rest sei Schweigen. Du machst dich unmöglich, Kind!”

„Aber er war es nicht!”

„Dann muss er ihnen das glaubhaft machen.”

„Aber allein der Verdacht …”

„Wir können nichts tun, ehe der teirand wieder zu sich kommt”, sagte die Alte. „Wenn die Mächte ihn wieder zu sich kommen lassen!”

Isan wimmerte. „Meinst du, er… du bekommst ihn doch wieder lebendig, oder?”

„Ich tue genau das, was die Mächte mir ermöglichen.”

„Das reicht nicht!”

Verta stellte die Schale mit Kräutern, die sie gerade in der Hand hielt, so energisch ab, das Isan zusammenzuckte.

„Kind! Im Augenblick kann ich nicht einmal sagen, was unserem Herrn überhaupt zugestoßen ist! Ich sehe keine Zeichen von Gift, und gekämpft wurde hier auch nicht! Keine Schnitte, keine Stiche, keine Flecken an seiner Haut, und alles steht an seinem Platz. Dass er bei bester Gesundheit war und weder unter Krämpfen noch Herzbeben litt, weißt du. Was immer den teirand so zugerichtet hat, es hat ihn gerade eben noch verschont, und wir sollten den Mächten dafür danken..”

Isan warf einen Blick auf das totenbleiche, schweißbedeckte Gesicht ihres Herrn. Die fülligen Wangen und das weiche Kinn lagen auf seinem Schädel wie ein Hefeteig, der in sich zusammenfiel.

„Als ob jemand Luft und Leben aus ihm herausquetschen wollte”, murmelte sie unbehaglich. „Aber warum sollte ausgerechnet yarl Althopian dem teirand ans Leben wollen?”

Verta zerkleinerte nun die Kräuter mit einem kleinen Mörser. „Das wird yarl Tjiergroen schon herausfinden.”

„Was hast du da eigentlich für ein Kraut?”

„Später, Kind. Es ist jetzt nicht der Moment für eine Lektion.”

Isan seufzte und legte das Ohr wieder an die Tür. Im Nebenraum redeten die Edlen mit lauten Stimmen alle durcheinander.

„Vielleicht war es die namenlose fánjula“, sagte Verta gelassen. „Oder hast du sie heute schon gesehen?”

„Die war das bestimmt nicht. Sie weiß doch selbst nicht, wer sie ist. Warum sollte sie dann den teirand…”

„Hast du sie gesehen oder nicht?”

„Nein. Ihr Lager war unberührt. Aber sie war es nicht!”

Yarl Lebréoka hat gestern gesehen, wie sie sich mit Althopian unterhalten hat. Ohne Zuhörer. Sie bat ihn wohl selbst ausdrücklich um eine Unterredung ohne Zeugen.”

„Aber da ging es doch um ganz etwas anderes!”

„Nun, jedenfalls ist sie fort.”

Isan ließ die Schultern hängen. Dass die geheimnisumwitterte fánjula etwas mit einem Anschlag auf Benjus von Valvivant zu tun haben sollte, erschien ihr fast noch absurder als der Verdacht, der auf Waýreth Althopian lastete.

„Vielleicht ist ihr in der Nacht eingefallen, wer sie ist, und sie ist nach Hause gegangen.”

„Nun, das wäre ein sonderbarer Zufall.”

Die Tür wurde aufgestoßen, Isan unsanft davon getroffen. Der mynstir beachtete das Mädchen nicht und trat auf seinen Herrn zu. Benjus von Valvivant lag auf seinem Bett, unter einem Laken, das schon wieder völlig mit einer sonderbar süßlich riechenden, bräunlichen Absonderung durchtränkt war. Irgendetwas schwitzte der Körper aus. Der Atem des teirand ging in schnellen kleinen Stößen, begleitet von rauem Röcheln, war beruhigender Weise aber regelmäßig..

„Verta”, fragte der yarl mit leiser Stimme, „bei allen Mächten, was soll ich tun?”

„Ich kann es nicht sagen, Herr. Im Augenblick kann ich Euch nur empfehlen, Zeit zu gewinnen, bis der teirand wieder bei Bewusstsein ist.”

„Wann wird das sein?”

Die doayra seufzte. „Herr, ich weiß es nicht. Ich kann auch nur mutmaßen, was geschehen ist. Alles, was ich zu folgern wage ist, dass wir noch auf die Gnade der Mächte hoffen können, da es ihn nicht auf der Stelle getötet hat.”

Isan rieb sich den Kopf und nutzte die Gelegenheit, um in den Nebenraum zu spähen.

Waýreth Althopian stand mit gesenktem Blick in der Mitte des Zimmers. Die anderen yarlay, die sich zurzeit auf der Burg aufhielten – Lebréoka, Valfrontír, Valeísé, wie es die Mächte wollten, sämtlich Lehnsmänner von Benjus von Valvivant, saßen auf Stühlen um ihn herum, jeder mit blankem Schwert vor sich. Althopian selbst war unbewaffnet, aber immerhin hatten sie darauf verzichtet, ihm Fesseln anzulegen. Der yarl war vorerst nur verdächtig, nicht angeklagt. Noch nicht.

Verta blickte auf und schaute kurz zwischen ihrem sichtlich mitleidenden, neugierigen Lehrmädchen und dem ebenso unbehaglichen mynstir hin und her. Léur Tjiergroen war in seinem Amt unversehens zum Regenten der Burg geworden, solange der teirand in den Träumen verharrte. Die Angelegenheit war für den Ritter äußerst unerfreulich.

„Er war es nicht”, sagte die alte Heilerin sanft. „Warum sollte er unseren Herrn ermorden wollen und danach vor Ort bleiben, anstatt zu fliehen?”

„Vielleicht um den Schein seiner Unschuld zu waren?”

„Was sollte sein Beweggrund sein? Er selbst hätte nichts davon, und wer soll ihm den Auftrag gegeben haben? Der junge Asgaý von Spagor etwa?”

Der mynstir schnaufte. Ein verächtliches Auflachen konnte er sich gerade eben noch verkneifen. Die Vorstellung, dass der verweichlichte teirand aus dem Norden Machthunger zeigen könne, war völlig absurd.

„Vielleicht war es der Schwarzmantel”, sagte Isan.

Verta seufzte. Aber yarl Tjiergroen horchte auf.

„Erklär dich, Mädchen.”

Isan errötete und verfluchte ihr loses Mundwerk. Aber je länger sie diese Eingebung überdachte, desto klarer erschien es ihr.

„Na ja, wenn das stimmt und ein Schattensänger ist hier im teirandon… wer sonst könnte denn eine solche Schandtat vollbringen? Vielleicht …” Isan schaute sich um und ging zwei Schritte auf den mynstir zu, um nicht zu laut reden zu müssen, „… vielleicht hat er den teirand mit seinem Blick angegriffen!”

„Isan!”, schalt Verta. Das Mädchen schmollte und wandte sich ab.

Der mynstir schaute die Alte gedankenvoll an. „Der teirand fürchtet die Schwarzmäntel wie nichts anderes. Andererseits und unter uns, Verta: Wäre es möglich, auch wenn wir selbst nicht daran glauben?”

„Ja”, nickte die Alte. „Falls es dieses Phantom wirklich gab, dann wollte es möglicherweise Vergeltung. Und wenn ich darüber nachdenke: Die fánjula war verdächtig interessiert an dem, was wir über Schattensänger zu berichten haben. Möglicherweise wollte sie etwas vorbereiten.”

Der mynstir ging wieder in das Nebenzimmer an seinen Platz und zog die Tür hinter sich zu. Diese blieb allerdings diesmal einen Spalt offen, denn Isan schob mit unbewegter Miene ihren Holzschuh dazwischen. Verta schüttelte resigniert den Kopf, hatte aber keine Zeit, sich darum zu kümmern. Sie versuchte, dem teirand einen Tropfen der Flüssigkeit in den Mund zu träufeln, die sie aus den Kräutern herausgepresst hatte.

„Althopian”, fragte Tjiergroen und nahm sein eigenes Schwert wieder in die Hand, „Ihr wart einem Schattensänger begegnet?”

„Das ist Euch wohlbekannt”, antwortete der Ritter überrascht. „Aber was hat das hiermit zu tun?”

„Was habt Ihr mit dem Magier besprochen?”

„Auch das ist Euch bekannt. Der Schattensänger war ratlos, als er an der Stätte einer unerklärlichen Verwüstung, die einige der Herren mit eigenen Augen gesehen haben, eine bewusstlose fánjula ohne Gedächtnis auffand. Da er sich aus offensichtlichen Gründen nicht selbst um sie bemühen konnte, hielt er den nächstbesten Reiter auf. Die Mächte fügten es so, dass ich das war. Er trug mir auf, die fánjula unter Menschen zu bringen. Valvivant war in anderer Sache ohnehin mein Ziel.”

„Ihr leugnet also nicht, auf Anweisung eines… Schwarzmantels … eine unbekannte Frau in diese Mauern gebracht zu haben, ohne zu wissen, wen Ihr vor Euch hattet?”

„Ich sah eine stumme fánjula, die Hilfe benötigt.”

„Ist Euch nicht in den Sinn gekommen”, fragte yarl Valfrontír, „dass dieses Weib ein Werkzeug des Magiers sein könnte?”

Althopian wandte sich ihm überrascht zu. „Wie bitte?”

„Ist Euer Vertrauen zu den Schwarzgewandeten so groß, dass ihr nicht hinterfragt, ob nicht vielleicht eine Späherin oder Schlimmeres eingeschleust werden sollte?”

„Wie sollte das zu sich gehen? Keine Frau hätte sich in seiner Nähe aufhalten und bei Verstand bleiben können. Die fánjula war ganz gewiss keine Spionin des Magiers. Das würde gar nicht funktionieren.”

„Und gerade das hat nicht Euren Verdacht erregt?”

„Nein. Es gab keinen Anlass. Es war eine Dame in Nöten. Ihr alle wisst, dass es die Pflicht eines Ritters ist, in solchen Fällen zu helfen, ohne Ansehen des Standes und der Umstände.”

„Was hat diese namenlose fánjula gestern privat mit dir zu reden gehabt?”, fragte Gundald Lebréoka, der nun auch begriff, worauf der mynstir mit seinen Fragen hinauswollte.

„Es ging um yarl Andriér Altabete aus dem teirandon Wijdlant. Ihr wisst, dass ich hergekommen bin, um ihn und die Herren Grootplen und Moréaval zu treffen. Wegen der Dinge, die Wijdlant plagen.”

„Ja, es ist sehr tragisch”, sagte Léur Tjiergroen. „Aber es ist auch anzunehmen, dass die yarlay der teiranda Kíaná offenbar unabkömmlich sind. Sie waren seit vielen Sommern nicht mehr hier. Nicht einmal, wenn es Feste gab.”

„Es ist euch nicht verdächtig, dass man weder hier noch auf dem Gebiet meines teirand oder sonst wo in der Welt auf Leute aus Wijdlant und dessen yarlmálon trifft? Dass man die teiranda seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hat?”

„Wie man hört, lebt die Dame seit langer Zeit zurückgezogen und möglicherweise erkrankt.”

„Ich war vor einigen Monden in Wijdlant”, meldete sich yarl Valeìsè zu Wort.

Der mynstir horchte auf. „Was hattet Ihr dort zu tun?”

„Ich wollte meine Kusine besuchen, die yarlara von Moréaval. Ihr wisst, dass ihr hýardor hinter den Träumen ist.”

„Und?”

„Nun, es ist alles ein wenig heruntergekommen und das Wetter hat sich verschlechtert, das stimmt. Und es heißt in der Tat, die teiranda sei krank. Abgesehen davon ist alles in Ordnung. All die Gerüchte, dass es in Wijdlant nicht mit rechten Dingen zugehe, sind Unfug.”

„Aber gesehen habt Ihr Jóndere Moréaval nicht?”, fragte Waýreth Althopian. „Den Sohn Eurer Kusine?”

„Nein. Der Junge ist pflichtbewusst und ehrbar und versieht seinen Hofdienst anstelle seines Vaters, möge er hinter den Träumen geborgen sein.”

„Um Eure Verwandtschaft geht es hier nicht!” Der mynstir warf Valeísé einen scharfen Blick zu und wandte sich dann wieder an Althopian.

„Was hatte diese äußerst rätselhafte fánjula zu sagen?”

Waýreth Althopian zögerte. Vielleicht einen Augenblick zu lange.

„Sinnloses Geplapper”, sagte er dann. „Die wirre Rede einer, deren armer Verstand Schaden genommen hat.”

„Und was war der Inhalt des wirren Geplappers?”

„Was hat das wirre Geplapper mit dem zu tun, was dem teirand zugestoßen ist?”

„Vielleicht mehr als uns lieb ist. Diese fánjula ist spurlos verschwunden. Habt Ihr das gewusst?”

„Ja.”

„Woher?”

„Wenn sie hier wäre, hättet Ihr Herren sie wohl ebenfalls hergeholt.”

Léur Tjiergroen schüttelte ärgerlich den Kopf. „Und wann habt Ihr persönlich sie zuletzt gesehen?”

„Gestern beim Nachtmahl. Bevor ich den teirand, dem aus heiterem Himmel speiübel und weich in den Beinen war, in seine Kemenate begleitete.”

„Warum habt Ihr unseren Herrn dorthin gebracht? War das Eure Aufgabe?”

„Bei den Mächten!”, rief Althopian verdrießlich aus, „Es ging dem Mann nicht gut. Vielleicht hatte er etwas Verdorbenes gegessen oder zuvor zu viel dem Wein zugesprochen, ich weiß es nicht. Ich war in seiner Nähe, keiner von Euch schenkte der Sache Beachtung. Die Situation erforderte Diskretion und ich habe sogar hier, in diesem Zimmer, bei ihm solange gewartet, bis es ihm wieder etwas wohler war und er sich niederlegte. Ihr alle habt mich kommen und gehen sehen. Ich war lange nach dem Mahl noch in der Halle, unter Euren Augen!”

„Und da war die Namenlose bereits verschwunden?”

Der Ritter nickte. „Ich habe sie aus den Augen verloren, nachdem ich den teirand in seine Gemächer brachte.”

„Und anschließend? Nachdem Ihr die Halle verlassen habt? Wohin seid ihr gegangen?”

„Zuerst in den Garten. Und dann zu Bett.”

„Kann das jemand bezeugen?”

Isan stockte der Atem. Am liebsten hätte sie die Tür weiter geöffnet, aber Verta räusperte sich warnend.

„Nein,” sagte Waýreth Althopian. „Es gibt niemanden, der meine Unschuld bestätigen könnte.”

Isan biss sich auf den Daumenknöchel.

Niemanden“, wiederholte Waýreth Althopian und warf dabei, wie zufällig, einen Blick zum Türspalt hin.

Der mynstir schwieg eine Weile, bevor er das Wort wieder ergriff. „Edle Herren, lasst mich eine Ungeheuerlichkeit ins Spiel bringen. Offenbar gibt es in der Rückschau auf den gestrigen Abend bei wohl so etwas wie eine kleine Erinnerungslücke, von der auf wundersame Weise nur Herr Waýreth nicht betroffen zu sein scheint. Deswegen frage ich ihn: Ist es denkbar, dass jener geheimnisumwobene Schwarzmantel, den unser Herr so sehr fürchtete … unter uns war?”

Die Ritter brausten auf, ihre Stimmen wirbelten empört durcheinander. Diese Annahme war absurd. Isan fand sie indes immer plausibler, auch wenn sie sich das Wo und Wann nicht erklären konnte.

„Isan”, zischte Verta, „komm endlich von der Tür weg!”

„Ich habe keine Ahnung, worauf Ihr hinaus wollt!”, sagte Althopian ruhig.

„Das Haus Althopian ist bekannt für seine duldsame Einstellung gegenüber den Schwarzgewandeten.”

„Ich bin seit vielen Sommern der Erste meines Hauses, der überhaupt einen camat’ay zu Gesicht bekommen hat. Ich habe keinen Anlass zur Feindschaft. Ihr alle wisst, warum dem so ist. Was versucht Ihr, mir zu unterstellen? Und warum?”

Der mynstir kippte seine Schwertklinge von links nach rechts und betrachtete die Reflexionen darauf. Den yarl direkt anzuschauen wagte er nicht.

„Vielleicht hattet Ihr keine andere Wahl. Vielleicht wart Ihr unter dem Bann des Schattensängers oder seiner Gehilfin. Vielleicht habt ihr selbst gehandelt, oder ihr wart zumindest Zeuge.”

„Habt Ihr nun auch den Verstand verloren?”, fragte Waýreth Althopian entgeistert.

„Sagt Ihr uns, was Ihr wisst.”

„Gar nichts weiß ich! Alles, was ich weiß ist, dass ich nichts mit dem derzeitigen Zustand des teirand zu tun habe!”

„Und dabei bleibt Ihr?”

„Natürlich! Weil es die Wahrheit ist!”

Die Ritter schwiegen. Es war ein langes, unangenehmes Schweigen.

„Ihr Herren”, sagte Waýreth Althopian schließlich gefasst, „ich kann eure Mutmaßungen nachvollziehen. Wäre ein ähnliches Mysterium in meinem Haus geschehen, ich würde ähnlich denken und handeln. Ich weiß, wie verdächtig ich in Euren Augen dastehe, auch wenn nicht wüsste, warum ich oder ein camat’ay ein Interesse am Tod Eures teirand haben sollten. Aber um Euch Euer Misstrauen zu nehmen, biete ich Euch einen Handel an. Ich verpflichte mich, diese Burg nicht zu verlassen bis der teirand sich erholt und selbst meine Unschuld bezeugen kann.”

„Und wenn der teirand, mögen es die Mächte verhüten, die nächsten Tage nicht überlebt?”

„Dann bin ich bereit, mich so wie es Sitte ist, einem yarlpénar [Urteilsspruch im Mehrheitsverfahren über einen yarl durch ein Gremium anderer yarlay] zu unterwerfen. Natürlich unter der Bedingung, dass mein Herr davon erfährt.”

Der mynstir und die anderen Ritter tauschten Blicke untereinander aus. Was Althopian da vorschlug, war besonnen und unter den gegebenen Umständen ein völlig akzeptables Angebot. Die yarlay des teirandon Valvivant stimmten sich ab. Niemand erhob Einwände.

„Wir sind zu viert”, sagte Léur Tjiergroen sachlich. „Benennt Eure Fürsprecher.”

Isan stockte der Atem. Was der yarl da gerade tat, war ungeheuerlich. Am liebsten wäre sie in den Kreis gerannt und hätte dem Ritter den Mund zugehalten.

Verta ahnte das wohl. Sie stand auf, hielt Isan an der Schürze fest und horchte nun selbst.

„Gut. Als ersten, was niemanden erstaunen wird: Alsgör Emberbey, der mynstir meines Herrn Asgaý Spagor.”

„Ein ehrenwerter Herr, ohne Vorbehalte”, stimmt der mynstir zu. „Und weiter?”

Waýreth Althopian lächelte, so finster, dass Isans Herz schneller zu klopfen begann.

„Ich wähle die Herren Moréaval, Altabete und Grootplen. Ruft Ihr sie herbei, wenn Ihr es vermögt.”

Die vier yarlay starrten ihn an. Althopian verneigte sich vor jedem von ihnen und warf dabei auch einen Blick zur Tür hin. Isan errötete, als sie seinen Blick erhaschte.

Tjiergroen erhob sich. Was Althopian da gerade mit Fug und Recht eingefordert hatte, konnten sie ihm nicht verwehren.

„Mögen die Mächte geben, dass es soweit nicht kommen muss und unser teirand selbst uns bald berichten kann, was sich zugetragen hat. Wir werden euch in Eure Kammer begleiten”, sagte er tonlos. „Es soll Euch an nichts mangeln, aber wir werden Euch bewachen.”

Althopian neigte den Kopf, während die Herren sich erhoben.

„Waýreth!”, rief Gundald Lebréoka aus. „Was ist in dich gefahren?”

„Wieso? Ist denn ein yarlpénar nicht wichtig genug, um seine teiranda um ein paar Tage Urlaub zu bitten? Falls es nötig sein sollte, was wir alle nicht hoffen?”

„Aber … bist du dir sicher, dass niemand weiß, wo du heute Nacht warst?”

Waýreth Althopian musterte seinen Freund flüchtig.

„Ja”, sagte er dann bestimmt. „Ganz gewiss. Egal, was an Gerüchten durch diese Flure geistern mag und Leute gesehen haben wollen.” Er wandte sich würdevollab und ging, den anderen voraus, aus demAudienzzimmer.

Isan schob die Tür weit auf, als sie alle weg waren. Still begann sie, die Stühle wieder an ihren Platz zu rücken.

„Verta”, sagte sie kläglich, „ich weiß, wo er heute Nacht war. Und noch ein paar Leute mehr.”

Die doayra zuckte die Achseln. „Vielleicht will er nicht, dass jemand es weiß.”

„Aber wenn es doch seine Unschuld beweist!”

„Isan”, sagte die alte Frau milde, „was wiegt seine Unschuld gegen den Ruf der Dame?”

„Aber es ist überhaupt nichts Unkeusches … ich meine …”

„Du warst nicht die ganze Zeit dabei.”

„Aber …”

„Isan!”

Das Mädchen setzte den Stuhl, den es gerade in Händen hatte, geräuschvoll nieder. Die alte Frau lächelte nachsichtig. „Das sind Dinge, die du später verstehen wirst. Er will die Dame aus der Angelegenheit heraushalten. Das ist sehr artig und edel von ihm, was auch immer vorgefallen ist. Gib dich damit zufrieden.”

Im selben Moment verstummte das Röcheln des teirand. Die Verta zuckte zusammen und tappte, so schnell sie konnte, auf ihren Herrn zu.

Isan wagte nicht, sich zu rühren.

„Ist er jetzt tot?”, fragte sie bang.

Verta tastete nach dem Gesicht des teirand und schwieg einen Moment.

„Den Mächten sei Dank”, wisperte die doayra dann. „Die Arznei schlägt an.”